Donnerstag, 28. März 2024

Archiv


Die Bedeutung der grauen Substanz

Seit Jahrzehnten versuchen Psychiater, den neurobiologischen Ursachen der Psychopathie auf den Grund zu gehen – auch mithilfe von Hirnscans. Wissenschaftler aus London haben jetzt entdeckt: Die Gehirne von Psychopathen unterscheiden sich nicht nur von denen gesunder Menschen, sondern auch von den Gehirnen anderer Gewaltverbrecher.

Von Marieke Degen | 29.10.2012
    Es sei nicht gerade leicht gewesen, an die Probanden heranzukommen, sagt Nigel Blackwood, forensischer Psychiater am King's College in London. Vier Jahre hat es gedauert, bis sie die 50 Männer zusammenhatten: allesamt Schläger, Mörder oder Vergewaltiger.

    "Die Männer waren alle schon wieder auf freiem Fuß, wurden aber noch in speziellen Heimen in London betreut. Wir haben ihnen gesagt, dass wir uns für ihre Geschichte interessieren – und für ihr Gehirn. Da war viel Überzeugungsarbeit nötig. Diese Männer sind von Natur aus nicht gerade hilfsbereit, kreisen hauptsächlich um sich selbst. Aber wir haben es geschafft. Sie sind zu uns ans King's College gekommen, und wir haben uns ihre Gehirne im Kernspintomografen angeschaut."

    Die Probanden haben alle eine dissoziale Persönlichkeitsstörung. Sie halten sich nicht an gesellschaftliche Regeln, sind leicht reizbar, aggressiv und haben wenig Mitleid mit ihren Opfern. Das fängt oft schon in der Kindheit an. Einige aus dieser Gruppe verhalten sich sogar noch extremer: Sie sind klinische Psychopathen.

    "Psychopathen setzen Gewalt ganz gezielt und geplant ein, um das zu bekommen, was sie wollen. Sie werden noch früher gewalttätig, und sie lassen sich praktisch nicht therapieren. In den Gefängnissen gibt es Programme, in denen Gewaltverbrecher lernen sollen, was sie ihren Opfern angetan haben und wie sie schwierige Situationen auch ohne Gewalt meistern. Doch Psychopathen sprechen darauf nicht gut an."

    Psychopathen verhalten sich anders als normale Menschen, ihre Gehirne sehen auch anders aus. Dazu gibt es schon eine Reihe von Studien. Was Nigel Blackwood wissen wollte, ist, ob sich die Gehirne von Psychopathen auch von den Gehirnen anderer Gewaltverbrecher unterscheiden.

    Sein Team hat die 50 Probanden durchleuchtet. 20 davon hatten eine klinische Psychopathie, 30 waren Gewaltverbrecher mit dissozialer Persönlichkeitsstörung, aber ohne Psychopathie. Zur Kontrolle haben sie auch noch Probanden in den Kernspintomografen geschoben, die noch nie ein Verbrechen begangen haben.

    "Die Psychopathen hatten – verglichen mit den anderen Gruppen - deutlich weniger graue Substanz im präfrontalen Cortex direkt hinter der Stirn und in den Schläfenlappen. Diese Areale sind an genau den Fähigkeiten beteiligt, die bei Psychopaten nicht funktionieren: die Ängste anderer einschätzen, Mitleid empfinden, Schuld- oder Schamgefühle entwickeln. Alles Dinge, die Psychopathen offenbar nicht kennen."

    Wie es zu diesem Verlust der grauen Masse kommt, können die Forscher noch nicht sagen. Ihre Vermutung: Bei einer Psychopathie handelt es sich offenbar um eine Entwicklungsstörung im Gehirn, die schon sehr früh beginnt. Dafür sprechen auch Hirnscans von verhaltensauffälligen Kindern und Jugendlichen, die die Forscher schon vor ein paar Jahren gemacht haben.

    "Im Moment haben wir nur Schnappschüsse, zum Beispiel von neun- und zehnjährigen Kindern, die psychopathie-ähnliche Merkmale aufweisen – zum Beispiel Risikobereitschaft und Mitleidlosigkeit. Da sehen wir schon Veränderungen in der grauen Substanz, genauso bei Jugendlichen, jetzt eben auch bei Erwachsenen. Aber um wirklich zu verstehen, wie sich diese Verhaltensweisen entwickeln, müsste man verhaltensauffällige Kinder jahrelang begleiten."

    Die Hirnscans könnten Psychiatern eines Tages vielleicht dabei helfen, eine Psychopathie schneller zu diagnostizieren. Im Moment müssen sie die Täter dafür sehr lange und intensiv befragen. Vielleicht finden sie irgendwann auch wirksame Therapien für solche Gewalttäter, hofft Nigel Blackwood.

    "Man könnte natürlich sagen: Sie haben einen strukturellen Hirnschaden, sie werden auf keine Therapie ansprechen. Aber ich denke, wir sollten da nicht so pessimistisch sein. Wir wissen heute, dass das Gehirn ein sehr plastisches Organ ist, es kann sich schnell verändern. Vielleicht findet man eines Tages Medikamente oder Therapien, mit denen sich diese strukturellen Defizite wieder rückgängig machen lassen."