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Die brutale Kriegsrealität in Worte gefasst

Nicolai Lilin wird zwangsrekrutiert und in den Kriegseinsatz nach Tschetschenien geschickt. Die wahre Begebenheit ist etwas modifiziert und die Namen sind geändert, so Lilin in seinem Vorwort. Er schickt einen Ich-Erzähler auf die Reise und lässt ihn vom Kriegsalltag berichten mit allen Grausamkeiten.

Von Tom Goeller | 17.10.2011
    Vorweg gesagt: Nicolai Lilins Tschetschenien-Reportage ist nichts für zarte Gemüter. Denn sein Erfahrungsbericht aus dem zweiten Tschetschenien-Krieg vor gut zehn Jahren ist reich an grausamen Schilderungen. Der Autor, der seit 2003 in Italien lebt, hat schon vor zwei Jahren mit seinem Buch "Sibirische Erziehung" Autobiografisches verarbeitet: das Hineinwachsen in einen Verbrecherclan während seiner frühen Jugend. Lilin, 1980 zur Sowjetzeit in Moldawien an der Grenze zur Ukraine geboren und in der sibirischen Region Kolima aufgewachsen, muss mit achtzehn seinen Wehrdienst antreten. Aufgrund seines Vorstrafenregisters als Schlägertyp wird Nicolai den sogenannten "Saboteuren" zugeteilt, einer Spezialeinheit der russischen Armee für besonders gefährliche Aufträge. Schon nach wenigen Wochen Grundausbildung erfahren die jungen Rekruten per Video, wo das künftige Einsatzgebiet der "Saboteure" liegt:

    In diesem Augenblick spürte ich plötzlich, wie in mir alles zu schreien begann. Ich hatte sofort begriffen, dass sie uns nach Tschetschenien schicken würden. Die Aufnahmen zeigten, wie die Tschetschenen und Araber einen unserer Soldaten, der in Gefangenschaft geraten war, enthaupteten.

    Irgendwo in Tschetschenien - auf einer namenlosen Basis der Saboteure - wird er dem Hauptmann Iwanowitsch Nossow unterstellt, ein Haudegen, der vor Jahren auch Einheiten der serbischen Armee ausgebildet hatte. Obwohl offenbar keiner der Neulinge zimperlich zu sein scheint, härtet sie Hauptmann Nossow seelisch weiter ab, denn, was die "Saboteure" im Einsatz leisten sollen, erfordert -wie man später erfährt - die Bereitschaft zu äußerster Brutalität. So muss Lilin etwa seine Mahlzeiten neben den Leichen gefallener Russen und Tschetschenen einnehmen. Nach der Abhärtung folgt die Erklärung des Einsatzes. Für Lilin überraschend, liefert Hauptmann Nossow keine offizielle Version, sondern hat seine eigene Theorie. Für ihn ist die kaukasische Teilrepublik ein Pralinenladen, in dem Kunden sich bedienen können, ohne zu bezahlen.

    Die Situation im Tschetschenienkrieg ist sehr ähnlich, nur dass der Laden den Araberchefs gehört, die den Handel mit Drogen, Menschen, Waffen, Benzin abwickeln. Den Pralinen eben. Der Kunde sind die russischen Geheimdienste, die nach dem Fall der Sowjetunion den gesamten illegalen Handel im Staatsgebiet kontrollieren. Der Krieg, den wir führen, ist nur ein Deckmäntelchen für die vielen Geschäfte, die von den korrupten Leuten in der Regierung gemacht werden.

    Warum aber das Leben riskieren, wenn doch offensichtlich alles nur ein Spiel ist? Nicolai erhält auf seine Frage von Hauptmann Nossow, keine befriedigende Antwort - und findet keine Ruhe:

    Je mehr ich darüber nachdachte, desto dringender wollte ich da raus. Aber es war physisch unmöglich. Es wäre Selbstmord gewesen.

    Da er dem Einsatz nicht entgehen kann, versucht Lilin, seine Situation zu verbessern, indem er sich gewisse Privilegien, wörtlich erkämpft. Nach mehreren Großeinsätzen gegen ausländische Söldner aus arabischen Ländern, in denen er sich bewährt, schafft er es, als Scharfschütze eingesetzt zu werden: Damit braucht Lilin nun nicht mehr überall in den offenen Kampf zu ziehen. Er kann aus oft relativ sicheren Verstecken heraus den Gegner attackieren. Lilin erkennt die Perfidie seines Handelns, entschuldigt sie aber:

    In einer Situation äußerster Gefahr ist es nur der Instinkt, der den Menschen führt: Dementsprechend verhielt ich mich. Ich traf all meine Entscheidungen unter der Voraussetzung, dass das Wichtigste war, meine Haut zu retten; alles andere kam danach. Ein paar Mal sprach ich darüber mit Nossow, der immer betonte: Von der Angst bekommt man auch hinten Augen, während der Schrecken blind macht.

    Das ist vielleicht die wichtigste Botschaft des Buches "Freier Fall": Lilin legt die physischen und psychischen Grausamkeiten des Krieges schonungslos offen und gibt damit selbst den unbedarften Lesern die Chance, sich mit solchen Schrecken vertraut zu machen. Das erzählerische Talent des Autors, der es versteht, die Kriegsbilder plastisch in Worte zu fassen, ist so gewaltig, dass man als Leser geradezu selbst zum Augenzeugen wird. Schlimmer noch: Es beschleicht einen bei der Lektüre das unwohle Gefühl, man würde gewissermaßen zum Mittäter. Es ist vor allem diese Fähigkeit Lilins, die auf fast jeder der 399 Seiten des Buches den Gedanken auslöst, wie beschämend es ist, dass die westliche Öffentlichkeit teils aus Rücksichtnahme auf Empfindlichkeiten der russischen Regierung, teils aus schlichtem Desinteresse vor zehn Jahren weggesehen hat und es immer noch tut. Lilins Schilderungen und Erinnerungen sind brutal, deshalb eignet sich das Buch nur für Leser, die es verstehen, aus den Greuelbildern die notwendigen ethischen und politischen Schlüsse zu ziehen. Denn Lilin fordert zur Ehrlichkeit auf. Nach der Lektüre kann keiner mehr so tun, als wisse er nicht, was in Tschetschenien, das immerhin geografisch zu Europa gehört, passiert.

    Nicolai Lilin: Freier Fall.
    Suhrkamp Verlag, 399 S., 14,95 Euro
    ISBN: 978-3-518-46260-7