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Die deutsche Insel in der Schweiz

Büsingen hat zwei Postleitzahlen und zwei Telefonvorwahlen, je eine schweizerische und eine deutsche. Denn es ist zwar offiziell ein deutsches Dorf, doch wird umgeben von der Schweiz. Und dies führt zu einigen kuriosen Gegebenheiten: Wird in Büsingen gebaut, geheiratet oder gestohlen, sind deutsche Behörden zuständig. Für Bestattungen und Drogenmissbrauch gelten Schweizer Gesetze.

Von Anna Stellmann und Michael Fischer |
    Fünf Frauen und drei Männer sitzen auf den Zuschauerbänken des weiträumigen, weißgetünchten Theatersaals im Büsinger Gemeindehaus. Auf der Bühne jagen zwei Männer einen imaginären Gamsbock. Die Büsinger Theatergruppe probt gerade die Komödie "Hallali Hubertus", in der zwei Freunde zum Verdruss ihrer Ehefrauen unbedingt einen Jagdschein machen wollen. Da der eine schlecht sieht und der andere schlecht hört, endet ihr Vorhaben im Chaos.

    Gemessen an den nur 1400 Einwohnern sei in Büsingen kulturell ganz schön viel los, erzählt der Laienschauspieler Erwin Schweizer.

    " Wir haben sehr viele Vereine für das kleine Dorf. Wir haben auch sehr große Veranstaltungen alle paar Jahre, zum Beispiel das Turnfest, da sind ja von der halben Schweiz Turner angereist und wir hatten an zwei Wochenenden rund 4000 Turner hier in Büsingen."

    Das kleine Straßendorf, das auf den ersten Blick ganz unscheinbar daherkommt, hat nicht nur ungewöhnlich viele Vereine, sondern sogar ein eigenes Autokennzeichen: BÜS. Und so etwas ähnliches wie eine Nationalhymne.
    "Wir werden von der Schweiz umarmt, und sind den Deutschen etwas entfremdet," singt der Büsinger Männerchor, der bereits seit 120 Jahren besteht, denn Büsingen liegt nicht in Deutschland, sondern in der Schweiz. Die knapp acht Quadratkilometer große Gemeinde am rechten Ufer des Hochrheins gehört zum Landkreis Konstanz, ist also deutsches Hoheitsgebiet, aber völlig von der Schweiz umgeben: auf der rechten Rheinseite vom Kanton Schaffhausen, auf dem gegenüber liegenden Ufer von den Kantonen Zürich und Thurgau.

    Der Schweizer Korridor, der Büsingen von Deutschland trennt und an seiner schmalsten Stelle nur 700 Meter misst, sorgte für eine so unübersichtliche Fülle von Sonderregelungen, dass es eines eigenen Staatsvertrages zwischen Deutschland und der Schweiz bedurfte, erzählt Bürgermeister Gunnar Lang:

    "Eigentlich muss man immer prüfen, ob jetzt deutsches oder Schweizer Recht gilt. Grundsätzlich gilt in Deutschland deutsches Recht, aber über Büsingen gibt es einen Staatsvertrag zwischen den beiden Ländern und da ist geregelt, dass auf wichtigen Gebieten ganz offiziell Schweizer Recht gilt. Zum Beispiel Schweizer Zollrecht, in der Landwirtschaft gilt weitgehend Schweizer Recht, und man weiß ja, dass die Bürokratie gerade in Deutschland nicht ganz gering ist und unser Leben auf dem Rathaus ist nicht immer ganz so einfach, wenn man mit Bestimmungen zweier Länder einigermaßen zurecht kommen muss."
    Um sich nicht gänzlich im Dickicht der Zuständigkeiten zu verirren, halten sich die Büsinger gerne an die Faustregel "doppelt hält besser!" - so hat der Ort zum Beispiel zwei Postleitzahlen und zwei Telefonvorwahlen, je eine deutsche und eine schweizerische. Und auf dem Rathausplatz stehen in trauter Eintracht zwei Telefonzellen nebeneinander, eine gehört der Telekom, die andere der Swisscom. Sogar die Polizei haben die Büsinger im Doppelpack. Schweizer Ordnungshüter kümmern sich um alle Belange, die dem Schweizer Recht unterstehen, für den Rest sind ihre deutschen Kollegen zuständig. Offizielle Währung ist der Euro: Der wird jedoch von den Büsingern weitgehend ignoriert.

    "In Büsingen werden auch Mietverträge in Schweizer Franken abgeschlossen. Nach deutschem Recht sind aber eben solche Verträge in fremder Währung zu genehmigen von der Landeszentralbank. Und solange sie nicht genehmigt sind, sind sie schwebend unwirksam. Und deshalb sind eigentlich alle Mietverträge in Büsingen unwirksam, zumindest schwebend, bis diese Genehmigung eingeholt wird, was aber in aller Regel nicht geschieht."

    Der Ursprung der all dieser Verwicklungen liegt mehr als 300 Jahre zurück. Der gesamte Reiat, das ist der östliche Kantonsteil von Schaffhausen, gehörte damals zum katholischen Habsburg. Österreichischer Lehnsherr und Vogt in Büsingen war der aus dem eidgenössischen Schaffhausen stammende Eberhard Im Thurn.

    Als 1693 die Region rund um Büsingen zum reformierten Glauben übertrat, saß Vogt Eberhard Im Thurn zwischen den Fronten. Er wurde zwar wie seine Untertanen protestantisch, pflegte aber weiter gute Kontakte mit den katholischen Habsburgern. Ein willkommener Anlass für einige seiner Verwandten, die sich bei Erbstreitigkeiten übergangen fühlten, ihn aus seinem Haus in Büsingen zu entführen und in Schaffhausen einzukerkern.

    Für die Habsburger bedeutete die Entführung ihres Lehnsträgers einen Eingriff in die Landeshoheit Österreichs. Sie forderten die sofortige Freilassung von Eberhard Im Thurn, aber die Schaffhauser blieben störrisch. Zur Strafe entzogen ihnen die Österreicher das Lehen über die gesamte Region östlich von Schaffhausen und erklärten, der Wohnort des Vogts - Büsingen - solle ewig österreichisch bleiben.

    "So blieb Büsingen dann eben österreichisch, später badisch und Deutsch, blieb also übrig als deutsche Insel in der Schweiz. Des wollten eben die Österreicher als Strafe für die Schaffhauser, für diese Entführung des Junkers. Und des sollte eben zum Ärgernis der Schaffhauser sein, aber Fakt ist, dass die Schaffhauser mit der Situation ganz gut zurechtkommen: Ich würde sagen, den Ärger und die Probleme haben jetzt die Büsinger."

    Vor allem Neu-Büsinger haben es schwer, sich in der Büsinger Bürokratie zurechtzufinden: Wird gebaut, geheiratet oder gestohlen, sind deutsche Behörden zuständig. Für Bestattungen und Drogenmissbrauch hingegen gelten Schweizer Gesetze. Sollte in Büsingen ein Drogendealer auf frischer Tat ertappt werden, könnte es kompliziert werden, meint der Bürgermeister, denn für das Drogendelikt sei die Schweizer Polizei zuständig, für die möglicherweise ebenfalls vorliegende Geldwäsche dagegen die deutsche. Um bei all den Sonderregeln den Überblick zu bewahren, kommt ihm sein alter Beruf zugute, Gunnar Lang war einst Steuerberater, und als solcher hat er den Büsingern einen großen Dienst erwiesen. Auf sein Betreiben hin zahlt die Schweiz einen Teil der von ihr erhobenen Umsatzsteuer zurück - aber nicht an die Bundesrepublik, sondern an die Gemeinde Büsingen.

    "Und deshalb hat die Gemeinde Büsingen Einnahmen an Umsatzsteuer, die sonst keine andere Gemeinde hat."
    Die Schweizer Steuerverwaltung überweist der kleinen Gemeinde als Ausgleich für die auf ihrem Gebiet erhobene Schweizer Mehrwertsteuer jährlich rund eine Million Euro. Dafür muss sie zwar unter anderem Schulgeld für Büsinger Kinder in Schweizer Schulen berappen, da es in der deutschen Exklave nur eine Grundschule gibt. Der Gemeinde bleibt aber immer noch genug übrig, um sich zum Beispiel den Luxus zu leisten, keine Grundsteuer zu erheben. Trotzdem fühlen sich die meisten Büsinger eher benachteiligt als privilegiert:

    "In Büsingen sind Schweizer Lebenshaltungskosten, weil Büsingen zum Schweizer Zollgebiet gehört. Die Schweiz ist nachweislich eines der teuersten Länder in Europa. Und die deutsche Einkommenssteuer gehört auch zu den teuersten in Europa. Und bei uns trifft sich beides."

    Hinzu kommt, dass viele Büsinger in der Schweiz arbeiten und damit höhere Krankenversicherungsbeiträge zahlen als ihre in Deutschland arbeitenden Mitbürger, was jeder Büsinger als himmelschreiende Ungerechtigkeit empfindet. Deshalb sind, seitdem die Schweiz 2003 ihre Grenzen für EU-Bürger öffnete, etwa 400 Büsinger in Schweizer Nachbargemeinden gezogen.

    Im Gegenzug siedelten in den vergangenen Jahren viele Schweizer Rentner in die deutsche Exklave, weil Renten in Deutschland deutlich weniger besteuert werden als in der Schweiz. Ein Viertel aller Büsinger sind inzwischen Schweizer. Sie alle sind von der Kommunalpolitik ausgeschlossen, da sie in ihrer neuen Heimat - der Europäischen Union - weder das passive noch das aktive Wahlrecht haben. Umgekehrt steht den deutschen Büsingern keinerlei Mitspracherecht an den Schweizer Gesetzen zu, denen sie unterworfen sind.

    Vor dem Vogthaus streiten ein untersetzter bärtiger Mann und eine ältere Dame. Sie ist erbost, dass die am Haus angebrachte Geschichtstafel erneuert wurde und moniert Fehler, die sich im Text eingeschlichen hätten. Der bärtige Herr stellt sich als Besitzer des Vogthauses vor. Einige Büsinger würden ihn für einen Nestbeschmutzer halten, erzählt Hans-Joachim Böhm, weil er auch da hinschaue, wo andere gerne wegsähen. Zum Beispiel, dass das beschauliche Straßendorf während des kalten Krieges einige Nazis beherbergt habe, die sich aus Angst vor einem sowjetischen Angriff auf Westdeutschland in Büsingen - also hinter der Schweizer Grenze - sogenannte "Fluchtwohnungen" zulegten. Aber auch andere Wahlbüsinger hätten die geografische Lage des kleinen Dorfes missbraucht, behauptet Hans-Joachim Böhm:

    "Die ganze Parteispendenaffäre, was Sie vom Kohl gehört haben, das ist alles hier abgewickelt worden. Die Leute wohnten hier. Das ist immer gesagt in der Schweiz, im Tessin, aber die wohnten alle hier. Und dann war da ein Dr. Buwert, das war der Präsident der Staatsbürgerlichen Vereinigung, der hat die Spenden gesammelt, während seiner Zeit, wo er hier in Büsingen wohnte, 215 Millionen. Und der wohnte hier und das war natürlich bekannt."

    Hans-Joachim Böhm stammt aus Ostpreußen, fühlt sich selbst jedoch weder als Deutscher noch als Schweizer, sondern vor allem als Büsinger. Die Frage nach der nationalen Identität ist für fast alle Büsinger schwierig zu beantworten. Das liege unter anderem daran, dass sie für die Deutschen immer die "Kuhschweizer" und für die Schweizer die "Sauschwaben" wären, erklärt einer von Böhms Stammtischkollegen im nahe gelegenen Lokal "Asia Panda":

    "Hoffentlich verlieren die Schwaben. Das ist genau der Ausdruck, oder? Bei denen sind Schwaben alles, alle Deutsche sind Schwaben. Die wissen nicht einmal, was richtige Schwaben sind."
    An die 20 Männer und Frauen drängen sich auf den rustikalen Holzbänken des asiatischen Restaurants. Wie jeden Mittwoch treffen sie sich zum Stammtischabend und klagen mal über die Schweizer, die frecher Weise alle Deutschen, einschließlich der Büsinger, gerne als Schwaben bezeichnen, oder sie klagen über ihre deutschen Nachbarn.

    "Das ist doch eine Mentalitätsfrage. Da kommen Deutsche mit der harten Aussprache, große Schnurre, dann sagen wir sofort, ich empfind sie so, da ist wieder ein Schwab, oder, das kann nur ein Schwab sein. Und da mach ich grad einen Bogen und geh woanders hin, weil des nicht meiner Mentalität entspricht und auch nicht der Büsinger Mentalität. Mir sagen auch noch ganz gerne Schwaben."