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Die dünne Linie zwischen Muslimen und Christen

Ibrahim ist 20 Jahre alt und Muslim. Mariam, weltläufig und sprachgewandt, Christin. Keine ideale Voraussetzung für eine Liebesbeziehung in einem palästinensischen Dorf. Sahar Khalifa versteht sich als kreative Historikerin. Seit nunmehr 30 Jahren porträtiert die palästinensische Schriftstellerin die Beziehungen ihres Volkes zu Israel. Auch in ihrem jüngsten Roman "Die Verheißung" werden die Leiden der Menschen anschaulich.

Von Wera Reusch |
    Wir durchleben die schlimmsten Phasen unserer Geschichte. Und ich versuche, herauszufinden, wie es dazu kam. Was ist der Grund für unsere Niederlage? Liegt es an unserem historischen Erbe? Ist Ignoranz schuld? Die Tradition? Die mangelnde Kommunikation mit dem Rest der Welt? Rückständigkeit? Woran liegt es?

    Seit 30 Jahren stellt die palästinensische Schriftstellerin Sahar Khalifa mit ihren Romanen Fragen, benennt Ursachen, schildert Wirkungen. Sie hat die israelische Besatzungspolitik in aller Deutlichkeit kritisiert und ihre verheerenden Auswirkungen auf die Palästinenser beschrieben. Sie hat sich aber auch nie gescheut, bohrende Fragen an die eigene Gesellschaft zu richten. Dass sie immer wieder auf die Unterdrückung der Frauen hingewiesen hat, brachte ihr den Vorwurf ein, sie würde die Palästinenser bloßstellen und damit die Sache verraten. Dabei sind Sahar Khalifas Romane vordergründig gar nicht politisch. Das gilt auch für ihr jüngstes Buch "Die Verheißung".

    Es begann an einem Sonntag. Ich saß wie immer auf dem Hügel, um die Kirchgänger zu beobachten. Nachdem sie durchs Dorf gezogen waren, sammelten sie sich im Hof und traten zum Gottesdienst in die Kirche. (...) Ich wartete im Duft des Frühlings, im Schatten der Pinien, bis sie bei Sonnenuntergang wieder herauskamen. Eine Gestalt trennte sich von der Gruppe und ging allein zum Friedhof. (...) ein Bild, ein Gedicht, ein Engel.

    Die Geschichte beginnt recht konventionell: Der Ich-Erzähler Ibrahim ist 20 Jahre alt und Muslim, er arbeitet als Dorfschullehrer und träumt davon, ein großer Schriftsteller zu werden, als er Mariam trifft. Die junge Frau ist in Brasilien aufgewachsen, sprachgewandt, weltläufig und - Christin. In einem palästinensischen Dorf der 60er Jahre nicht gerade ideale Voraussetzungen für eine Liebesbeziehung. Die beiden können sich zunächst noch heimlich in Jerusalem treffen, doch 1967 kommt es zur Katastrophe: Mariam wird ungewollt schwanger, der Krieg bricht aus. Ibrahim schließt sich dem bewaffneten Kampf an, lässt seine Freundin im Stich, wohl wissend, dass ihr ob der Schande die Hinrichtung droht. Als er nach über dreißig Jahren im Ausland zurückkommt, fällt ihm Mariam wieder ein. Ibrahim ist inzwischen Millionär und als Wohltäter für Bedürftige geschätzt, doch zutiefst unglücklich. Nach langwieriger Suche gelingt es ihm tatsächlich, Mariam und seinen ihm unbekannten Sohn ausfindig zu machen. Doch gibt es keine Versöhnung, auch wenn Ibrahim dies nicht wahrhaben will. Einmal mehr ist er nicht in der Lage, verantwortungsbewusst und angemessen auf die Situation zu reagieren.
    Es stimmt. Er ist kein sympathischer Charakter, aber er ist genau so, wie die meisten Angehörigen unserer Führungsschicht sind. Ich weiß, dass viele ihn nicht mögen, aber das Problem für uns als Bürger ist, dass wir unsere Führung, die tragenden Kräfte in unserer Gesellschaft, genau so erleben und wir können nicht anders, als genau das zu benennen, sie entlarven, sie bloßstellen. Ich mag ihn auch nicht, und dennoch, nach seiner endlosen Suche nach der verlorenen Liebe, der verlorenen Geliebten, seinem verlassenen Kind, seiner Identität, seinem Glauben, findet er nichts, aber auch gar nichts. Er muss letztendlich einen sehr hohen Preis bezahlen.

    Im Gegensatz zu Sahar Khalifas früheren Romanen spielen religiöse Motive in "Die Verheißung" eine große Rolle. Mariam, von Ibrahim als Engel, Jungfrau und Ikone imaginiert, findet als Schwangere in einem Kloster Zuflucht und wird Nonne. Ibrahims "verlorener" Sohn verdingt sich als Wanderprediger und Wunderheiler. Weil Khalifa ihre Geschichte immer wieder mit religiösen Konzepten wie Glaube, Verheißung, Erlösung etc. auflädt, wirkt der Roman streckenweise sehr verrätselt und überfrachtet. Dass sich die Autorin dieser religiösen Terminologie bedient, wird allerdings plausibel, wenn man das Buch als das liest, was es auch ist: Eine Liebeserklärung an das multireligiöse Jerusalem von einst und ein Klagelied auf die gespaltene Stadt, wie sie sich heute darstellt. Ibrahim erkennt Jerusalem nach seiner Rückkehr jedenfalls kaum wieder:

    Die Menschen waren verschwunden. Jeder verkroch sich in seiner Wohnung aus Angst vor der dunklen Nacht und den Militärpatrouillen. In den überdachten Straßen sah man nur noch Laternen, Straßenkehrer und motorisierte Karren, so klein wie Kinderspielzeug die behände durch die Gassen kurvten und umherliegende Kartons, Plastiktüten und Kisten aufsammelten. Jerusalem war heruntergekommen und verwelkt wie das Gesicht einer alten Vettel. (...) Schlagartig war mir klar, was wir erreicht hatten – Jerusalem war verloren. "Aber Jerusalem ist doch eine heilige Stadt", sagte ich grüblerisch, "warum findet sie sich mit dem Unrecht ab? (...) Was bedeutet überhaupt heilig, wenn rundum Unterdrückung herrscht?"

    Ja, es ist ein Jerusalem-Roman. Das war meine Absicht, ob es mir gelungen ist, müssen die Leser entscheiden. Ich weiß nicht, ob man Jerusalem in dem Buch spüren kann, den Ort, die Menschen, die Komplexitäten, die Moscheen, die Kirchen, die Atmosphäre, die dünne Linie zwischen Muslimen und Christen. Und dann gibt es einen russischen Juden, der ebenfalls auf der Suche nach seiner Geliebten ist. Das heißt sowohl der muslimische als auch der jüdische Mann sind auf der Suche nach einer verlorenen Liebe.

    Weder Ibrahim, noch Ilja, der russische Emigrant, den er bei einem Trinkgelage kennenlernt, werden ihre verlorenen Lieben finden. Stattdessen kulminiert "Die Verheißung" in einem blutigen Finale. Nahezu alle Figuren des Romans, Christen, Juden und Muslime treffen an einem Freitag in Jerusalem aufeinander. Es kommt zu einer Straßenschlacht, die an den Ausbruch der Al-Aksa-Intifada erinnert. Zwar nennt Sahar Khalifa keine konkrete Jahreszahl. Sie hat sich mit ihrem neuen Roman jedoch zeitlich sehr stark an aktuelle Ereignisse angenähert. Betrachtet man den jeweiligen historischen Hintergrund ihrer bislang sechs Romane, so bilden sie in ihrer Gesamtheit fast lückenlos die palästinensische Geschichte der letzten Jahrzehnte ab.

    Ich verstehe mich auch als Historikerin. Ich habe mir vorgenommen, mein Volk in jeder Phase der Besatzung zu porträtieren. Was ich versuche ist, das Leiden der Menschen zu beschreiben, denn ich will nicht, dass meine Enkelin später in den Geschichtsbüchern nur liest "Arafat tat dies und jenes, und Sharon tat dies und jenes." Und was ist mit mir? Mit den Frauen, die so viel gelitten haben? Den Tausenden von Gefangenen, den zerstörten Häusern und all dem? Ich verstehe mich auch als Historikerin, als kreative Historikerin in dem Sinne, dass ich nicht eine formale, informative, oberflächliche Geschichtsschreibung betreibe, sondern die Geschichte der Bevölkerungsmehrheit anschaulich mache.

    Sahar Khalifa: "Die Verheißung"
    Aus dem Arabischen von Regina Karachouli. Unionsverlag, Zürich 2004,
    250 Seiten, 19,90 Euro