Norbert Gstrein hat die Alpen verlassen. Der Österreicher hat das Hochgebirge, die Schluchten und Täler hinter sich gelassen, in denen seine Figuren gefangen waren, die Geborgenheit, in denen Unheil und Schuld ihre intimen Dimensionen gewannen, die übermächtigen Schatten, die die gesellschaftliche Macht spiegelten und die sie zugleich verkleinerten, die Höhenzüge, an denen selbst die Himmelsstürmer seiner Ballonfahrernovelle "02" scheiterten. Er hat Österreich und die Schweiz verlassen und sich ein Thema gesucht, daß seiner Biographie scheinbar so fern ist wie Böhmen dem Meer oder die Alpengletscher den Nordseeinseln.
Doch Norbert Gstrein hat die geologische und historische Formation der Alpen nur deshalb verlassen, um sich ein erzählerisches Hochgebirge schaffen zu können, in dem die Steilhänge und Abgründe und die Schatten des Tages dem Erzähler eine dauernde Herausforderung sind. Mit den Mühen der Ebenen gibt sich unser Autor nicht ab. Er hat einmal unter Applaus den Gipfel erklommen, jetzt tut er es nicht mehr unter einem Viertausender. Ein riskantes Programm. Schauen wir, ob es gelungen ist.
Man kann den neuen Roman "Die englischen Jahre" auf zweierlei Weise vorstellen. Man kann die wesentliche Handlung, die im Jahr 1940 in England, größtenteils in einem Gefangenenlager auf der Ile of Man spielt, nacherzählen und wird eine spannende Geschichte präsentieren, von Krieg, Verfolgung, Liebe, Gefangenschaft, Verrat und Tod. Man würde Figuren in historischen und persönlichen Verstrickungen zeigen, aber gar nicht erklären können, warum dies alles auf eigentümliche Weise intensiv und zugleich kalt und schematisch wirkt. Weil wir die bizarre und gewaltige Formation der Erzählung selbst nicht sehen.
Anderseits kann man diesen Roman auch von der Erzähltotale her erschließen, also von der Frage her, wer erzählt was und warum. Das ist zunächst weniger spannend, aber vom gesamten Erzählmassiv zoomt man dann zwangsläufig auf die befremdliche Einzelheit und lernt das Staunen.
Beginnen wir ausnahmsweise mit der Totalen, mit der Konstruktion des Romans. Ein junger österreichischer Schriftsteller mit dem Namen Max hat einst über einen emigrierten Wiener Juden namens Gabriel Hirschfelder einen offenbar peinlichen Vortrag gehalten. Die Erzählerin berichtet:
"Wenn ich mich richtig erinnere, war Max gerade aus Wien zurückgekehrt, wo er seine verunglückte Huldigung auf ihn vorgetragen hatte, seine "Hommage à Hirschefelder", für die er sich nur Ablehnung eingehandelt hat. Der Anlaß tut nichts zur Sache, aber vielleicht lag es am Titel, den ich ihm vergeblich auszureden versucht habe, weil mir das Parfümierte daran von Anfang an mißfallen hat, und ich weiß noch, wie sehr ihn die Vorwürfe trafen, er hätte sich nur an eine Mode angehängt, es gäbe keinen anderen Grund für ihn, sich mit einem Vertriebenen zu beschäftigen um so weniger, als es ein Jude war, er wisse nichts vom Exil und hätte bei seinen Dorfgeschichten bleiben sollen, statt sich auf ein Abenteuer zu versteifen, das für ihn nur schiefgehen kann. Es hatte damals keinen Tag gegeben, an dem er nicht angefangen hatte, sich dafür zu rechtfertigen, und in der Folge mit seinem Monologisieren begann, was ihm widerfahren war, aber auch von seiner Bewunderung für ihn sprach und mir die Photos von den verschiedensten Klapperkästen zeigte, die als seine Schreibmaschinen herhalten mußten, von den abgetretenen Galoschen, die nicht seine Schuhe waren, sondern selbstverständlich sein Schuhwerk, und von seiner Zahnprotese im Wasserglas, wenn das nicht nur eine Finte war, und es irritierte mich immer noch, mit welchem Sarkasmus er sich selbst dabei als Hinterwäldler bezeichnet hatte, geradeso, als schwankte er, ob er seinen Kritikern nicht doch zustimmen sollte, daß ihn das alles nichts anging."
Ein jüdisches Emigranten-Schicksal als Modethema zu behandeln, das ist ein harter Vorwurf, der pariert werden will. Norbert Gstrein nimmt hier die problematische Autorsituation, in der er sich selbst befindet, als Thema in den Roman hinein. Denn er erzählt in seinen "englischen Jahren" eben die Geschichte des emigrierten österreichischen Juden Gabriel Hirschfelder. Er tut dies mittels einer vorgeschobenen weiblichen Erzählerfigur. Nicht Max geht nach England (Max ist übrigens der gewohnheitsmäßige Rufname des in England lebenden österreichischen Erzählers jüdischer Emigrantenschicksale: W.G. Sebald; vielleicht ein Zufall), nicht Max also, sondern seine Freundin besucht in London zufällig eine Ausstellung mit Fotos jüdischer Emigranten aus den ehemaligen K.u.K.-Landen und lernt dort die letzte Frau jenes verstorbenen Emigranten Gabriel Hirschfelder kennen, der allein auf Grund eines schmalen Bandes mit Erzählungen aus dem Stoff seines Emigrantenlebens im deutschsprachigen Raum bekannt geworden ist. Diese Frau mit Namen Margaret erzählt nun von der seltsamen Figur des alten Hirschfeder, mit dem sie lange in einem Ort an der Themsemündung namens Southend-on-Sea zusammengelebt hat (nicht weit übrigens von Uwe Johnsons Domizil in Sheerness-on-Sea; vielleicht ein Zufall).
Ein spröder, etwas kauziger, zurückgezogen lebender Mensch sei jener Hirschfelder gewesen, Bibliothekar von Beruf, der viele Jahre seine Autobiographie hätte schreiben wollen, obwohl nie jemand etwas davon gelesen habe: "Die englischen Jahre" sollte sie heißen. Was die Erzählerin stutzig macht, was ihre Aufmerksamkeit fesselt, ist die kolportierte Behauptung Hirschfelders, er habe während des Krieges einen Mord begangen.
Im Modell vollständig ist die Struktur des Romans dann mit dem zweiten Kapitel, das ganz direkt von Hirschfelders Erfahrungen erzählt, und zwar in der zweiten Person Singular. Hirschfelder wird zum Du, zum direkten Gegenüber der Erzählerin. Wir sehen ihn als Gefangenen auf einer Pritsche in einer Londoner Turnhalle liegen. Am nächsten Tag steht der Abtransport ins Gefangenenlager auf der Ile of Man bevor. In diesem besten Kapitel des Romans gelingt Norbert Gstrein ein erzählerisches Kabinettstück. Dem dämmernden Hirschfelder gehen die Reden der Wachen, die Geräusche der Mitgefangenen, die Reflexion seiner Situation und die Erinnerungen an seine Wiener Kindheit, an seinen Aufenthalt bei einer Londoner Richterfamilie und an seine Affäre mit der Haushaltshilfe Clara, auch einer Emigrantin, ineinander über. Wir erfahren in einem großen Fluß von Wahrnehmungen, Gedanken und inneren Monologen die gesamte Vorgeschichte Hirschfelders, aber auch die hysterische Situation in England unter der Drohung, die Deutschen griffen die Insel an (die geplante ´Operation Seelöwe´), weshalb sogar die geflohenen Juden vorsorglich unter Spionageverdacht gestellt und schließlich verhaftet werden.
"Das war bereits nach den Tribunalen gewesen, denen sich die Flüchtlinge im ganzen Land zu unterwerfen hatten, und dir war vorgekommen, du würdest ein weiteres Mal vertrieben, als dich der Vorsitzende, ein ehemaliger Kolonialoffizier, nach einem kurzen Verhör als Risiko einstufte, du hattest seine Fragen, warum du geflohen warst, noch lange danach in den Ohren, sein Drängen, als würde er die Schuld bei dir suchen, als hättest du mit deiner Flucht einen Verrat begangen, den du jederzeit wiederholen konntest, es waren die eingefrorenen Prinzipien eines Haudegens, seine erbärmlichen Weisheiten und eine gegenseitige Abneigung auf den ersten Blick, die dir zum Verhängnis wurden, und fortan beäugte dich die Frau des Richters um so mehr, als die Hausgehilfin ohne Verdacht davongekommen war, sie achtete streng darauf, daß du dich an die Beschränkungen hielst, die man dir auferlegt hatte, und verschärfte sie sogar, sie nahm dir das Fahrrad und den Stadtplan ab und befahl dir, gleich nach Einbruch der Dunkelheit zu Hause zu sein, lange vor der Ausgangssperre, und dich an den wenigen Wochenenden, an denen die Familie wieder nach Eastbourne ans Meer fuhr, am Morgen und am Abend bei den Nachbarn zu melden."
So genau und erzählerisch intim werden wir Zeuge der desolaten Situation Hirschfelders, daß wir beim Lesen die Frage, wer kann dies eigentlich alles wissen?, vergessen. Aber wer kann dies eigentlich wissen? Niemand kann. Die Erzählerin erfindet in feinster literarischer Close-up-Technik die Geschichte eines Verfolgten, von der sie nur einige wenige Züge, vage und immer unsicher, kennt.
Im Fortgang des Romans werden noch zwei weitere Frauen Hirschfelders besucht und befragt, und alle berichten der Erzählerin viele Dinge, die sie selbst nur gehört haben können, von Hirschfelder selbst, oder von zwei unheimlichen Gesellen, die mit ihm auf der Ile of Man gefangen waren. Sogar die ehemalige Geliebte Clara tritt auf, die einzige, die Hirschfelder vor dem Krieg gekannt hat, aber Clara ist geistig verwirrt und kann kein Zeugnis ablegen. Diese Befragungen der Frauen nun sind im Roman jeweils unterbrochen von weiteren Kapiteln in der Du-Form, die ganz konkret Situationen aus dem Gefangenenlager und von einem Schiffsunglück ausmalen. Das Bestechende an diesen persönlich - konkreten, scheinbar unvermittelten Kapiteln ist der Gegensatz zwischen der erzählerischen Intimtät, die uns zu mitfühlenden, zu ganz und gar emphatischen Lesern machen und ihrer konstruktiven Unwahrscheinlichkeit. Es gibt keine Erzählperspektive, die solch ein einfühlendes Erzählen möglich macht. Dieser Gegensatz ist nur aufzuheben, wenn wir davon ausgehen, hier wird ein Leben anhand dürrer, bruchstückhaft vermittelter Daten erfunden. Doch wer maßt sich diese auktoriale Haltung angesichts einer heiklen Faktenlage an?
Nun, diese Frage und damit auch die erzählte Geschichte spitzt sich auf sensationelle Weise zu: Wir erfahren, daß Hirschfelder im Insellager bei einem Kartenspiel von seinen drei Mitspielern ausgetrickst wird. Die Situation ist heikel. Immer mehr deutsche Gefangene werden von den Engländern mit großen Passagierschiffen außer Landes gebracht, nach Neufundland zum Beispiel. Doch die Gefahr, von Torpedos deutscher U-Boote getroffen zu werden, ist groß. Einer aus der Vierergruppe im Lager, erst ´Der Neue´ genannt, später bei seinem Namen Harrasser, soll gehen. Am Abend zuvor zückt er ein Bündel Pfundnoten und eröffnet ein Kartenspiel, bei dem der Verlierer aufs Schiff muß und die übrigen sich das Geld teilen. Ein hochdramatisches Spiel, das Hirschfelder nur widerwillig mitmacht – und verliert.
Im nächsten Kapitel ist er bereits auf der ´Arandora Star´ in der Irischen See auf dem Weg nach Neufundland. Das Schiff wird getroffen, sinkt, Hirschfelder treibt auf einem Floß im Meer und kann offenbar nur noch tot von einem kanadischen Zerstörer gerettet werden. Noch ein atemberaubendes Kapitel, das in seiner Dramatik durchaus an die Schlußszenen des Films `Titanic´ erinnert. Doch wer, in des Erzählers Namen, hat dies beobachtet, kann auch nur die Tatsache bestätigen? Und gravierender noch: Wer, wenn Hirschfelder im Wasser umgekommen ist, war dann jener Mann mit den drei Frauen, die alle über ihren Hirschfelder Auskunft geben?
Hier sind wir an der entscheidenden Stelle, wo die erzählte Geschichte mit der Konstruktion des Romans zur Deckung kommt. Jenen Nachkriegs-Hirschfelder, von dem der Roman über weite Strecken erzählt, hat es nie gegeben. Tatsächlich hat der Neue im Lager, jener Harrasser aus dem österreichischen Salzkammergut, nach Hirschfelders Expedierung dessen Identität angenommen und sich aus den Lagererzählungen seines Mitgefangenen eine Biographie gebaut, und zwar eine leidvoll-jüdische. Wobei er selbst, der ebenfalls in jungen Jahren aus Österreich emigrierte Harrasser, mitnichten den Nazis ein Dorn im Auge war, weil er eine junge jüdische Geliebte hatte, sondern im Gegenteil, er hat seine jüdische Geliebte verraten, er hat ihr aus Angst ärztliche Hilfe verweigert und sie jämmerlich zu Tode kommen lassen.
Man sieht also: Nichts stimmt, und alles klärt sich auf. Man spürt aber als Leser auch die eigene Verstimmung: So nah war man am Schicksal jenes verfolgten Juden, so viel Empfindung wurde mobilisiert, so viel Empathie freigesetzt – und nun stellt sich alles als Bluff heraus; zwar nicht als Bluff eines aberwitzigen Erzählers, der sein Übermütchen mit raffinierten Tricks kühlt, sondern als Bluff der handelnden Figuren selbst, denen die Erzählerin aufsitzt. Sie selbst ist die Betrogene, insofern sie sich projektiv ein Bild machte, dem die Basiskoordinaten fehlten. Jetzt ist es kollabiert. Die Entschädigung ist die Wahrheit. Eine konstruktive Wahrheit. Wir wissen, warum die Erzählerin ´lügen´ mußte. Ein Trost ist es dennoch nicht, weil wir an uns selbst die moralisch unterstützte Macht der Einbildungskraft kennengelernt haben. Vielleicht kein schöner, aber ein lehrreicher Streich, den uns der Romankonstrukteur Gstrein da gespielt hat. Wir haben uns in seinem Hochgebirge verirrt. Und vom Gipfel herab grüßt er uns zuguterletzt und klärt uns über unsere Umwege auf.
Erinnerung, so lernen wir in praxi, was wir theoretisch schon längst zu wissen glauben, ist nichts weniger als ein selbstverständlicher Akt der spontanen oder dokumentengestützen Rekonstruktion, Erinnern ist ein vielfach angeleiteter, normen- interesse- und vorurteilsgeleiteter Prozess, bei dem selbst das schlichteste who is who, ja gerade das, in Frage steht. Warum nur, wird man als nächstes fragen, demonstriert uns dies Norbert Gstrein auf zugegeben raffinierte, wenn auch etwas sehr rationalistisch - aufklärerische Weise am Beispiel eines jüdischen Schicksals zu Kriegszeiten? Daß ein Erzähler uns seine eigene Kunst in einer spannenden Geschichte vorführt, also das Prinzip der Täuschung, des Tauschs, auch des Identitätstauschs, als Romanmotiv, das ist nicht eben selten in unserer ´postmodernen´ Lage, im Falle der "englischen Jahre" ist es allerdings selten konsequent und mit einer gewissen mathematischen Strenge durchexerziert. Doch warum bei diesem Thema?
Sicher, Gstrein, der an seinem Roman vier Jahre gearbeitet und im übrigen gut recherchiert hat, kann darauf verweisen, daß es in englischen Gefangenenlagern tatsächlich solche Identitätswechsel gegeben hat. Aber reicht das? Ja, natürlich. Der Hinweis wäre nicht einmal nötig. Was ein Erzähler im Roman selbst beglaubigen kann, das gilt. Aber die Frage nach Stoff und Thema stellt sich nicht nur trotzdem, sondern deswegen. Schließlich wirft die Exposition des Romans die Frage selbst auf. Dort ist von Modethema die Rede, zu dem die Biographien vertriebener Juden geworden seien. Und man kann nicht anders, als an Martin Walsers Angriffe auf eine angeblich wohlfeil und damit falsch gewordene Erinnerungskultur in Deutschland zu denken, der die Frage zugrunde liegt, welche internalisierte soziale Instanz das Gedenken steuert. Und an einen Extremfall der Erinnerungsfälschung, an einen wohl nur noch pathologisch aufzulösenden Fall, wird ebenfalls gerührt mit dem Gstreinschen Roman: an die höchstwahrscheinlich phantastischen autobiographischen Erinnerungen von Benjamin Wilkomirski, der sich in seinem Buch "Bruchstücke" eine Kindheit im KZ Majdanek imaginiert. Gstrein bewegt sich mit seiner Konstruktion des Emigrantenschicksals von Gabriel Hirschfelder am Rande solcher Fragen.
Was die modische, sagen wir politisch korrekte Herangehensweise an das Thema betrifft, so würde der gelernte Mathematiker Gstrein gerne demonstrieren, daß wir über die Frage nach den Erzählperspektiven selbst an so etwas wie Wahrheit herankommen. Wenn Wahrheit ein Konstrukt ist, müssen wir Konstruktionsregeln analysieren. Das tut der Roman in einer selbstreflexiven Bewegung. Allerdings bleibt beim Leser ein Zweifel: Denn gerade die imaginativen, die weitgehend frei erfundenen Szenen, über einen starken Sog aus. Selbst wenn man ihre Herstellung durchschaut, bleibt ihnen eine realitätssuggeriende Kraft, die rational schwer zu beherrschen ist. Und dabei hat sich Gstrein so bemüht, schon in der syntaktisch umwegigen, oft distanziert-spröden, gelegentlich automatenhaften Sprache die Unmittelbarkeit der Erzählung zu dämpfen.
Und was den wahnhaften Verfall an die Einbildung betrifft, so ist Gstreins letztendlich rationalistischer Optimismus, der die Ordnung der Zeichen und die der Wirklichkeit unterscheiden zu können glaubt, im Roman stark ausgeprägt. Am Ende scheint alles klar. Die Erzählung klärt sich über sich selber auf, so wie es eine fortschrittliche Aufklärung auch philosophisch für sich selbst reklamiert. Diese Aufklärung sieht im Roman so aus, daß die ehemalige Freundin von Max, die vorgebliche Erzählerin, am Ende zu ihrem verflossenen Liebhaber kommt, um ihm die gesamte Geschichte von Hirschfelder / Harrasser, vom Identitätstausch und von ihren Nachforschungen als Gabe darzubringen. Max erst, so muß man annehmen, macht daraus den Roman "Die englischen Jahre", den wir lesen und setzt die Frau als Erzählerin ein: ein Identitätstausch auch auf der Ebene der Metafiktion. Damit wäre dann wohl auch Max´ Trauma seiner mißlungenen Hommage an Hirschfelder durchgearbeitet.
Glücklicher- und perfider Weise bleiben aber - kann dies wohl gegen die Intention des Romanciers der Fall sein? - Zweifel an der aufgeklärten Geschichte. Denn die einzigen Figuren, die erzählen konnten und bestätigen könnten – denn sie leben noch -, daß Harrasser die Identität von Hirschfelder angenommen hat, sind jene beiden an Kafka erinnernden Gesellen, die lange nur unter den Kennzeichnungen ´der mit der Narbe´ und ´der Blasse´ auftauchen. Sie waren die Lagergenossen von Hirschfelder. Über ihre Namen Lomnitz und Ossovsky wird einmal gesagt, daß sie an Spione erinnerten. Wer sind diese düster-unheimlichen Garanten der Wahrheit? Auf der letzten Seite des Buches, als Max überlegt, den Roman Hirschfelders, den eben, den wir lesen, zu schreiben, sagt er: "Vielleicht sollte ich mich Lomnitz und Ossovsky nennen." Am letzten Punkt der Klarheit, auf dem Gipfel und in der dünnen Luft des erzählerischen Hochgebirges, öffnet sich die Geschichte noch einmal.
"Wozu brauchst du einen anderen Namen?" Es dauerte ein paar Augenblicke, aber dann wurde er laut und beugte sich so weit zu mir vor, daß ich unter seiner Haut die Schatten seiner Bartstoppeln sah. "Ich brauche einen anderen Namen, damit es mich nicht mehr gibt", sagte er. "Dieses Mal werde ich es der Wiener Bande nicht so leicht machen und mich auch noch in aller Form vorstellen." "Das ist doch Unsinn, Max." "Ich werde den Brüdern nicht wieder meinen Kopf hinhalten." Ich packte ihn am Arm. "Vergiß sie, Max." "Ich lasse mich von ihnen nicht umbringen." "Vergiß sie, Max", versuchte ich noch einmal, ihn zu beschwichtigen. "Schreib meinetwegen du einen Roman über Hirschefelder, aber vergiß sie." Damit ließ ich ihn setzen und ging, und vielleicht war das wirklich das Ende, das mir noch gefehlt hatte, das Bruchstück, um davon loszukommen, ihm zu sagen, daß es seine Geschichte war. Zumindest hatte ich sie dadurch in seine Hände gegeben, ob er sich ihrer annahm oder nicht, ob er sie erzählte oder sich entschloß, darüber zu schweigen. An den Tatsachen änderte es nichts, und das beruhigte mich, und beunruhigte mich zugleich, wenn ich daran dachte, was für ein unzuverlässiger Zeitgenosse er war."
Es ist keine Kleinigkeit, was der Romankonstrukteur Norbert Gstrein uns mit den "englischen Jahren" aufgegeben hat. Es ist nicht nur auf der Höhe der handwerklichen Kunst, es ist auch auf der Höhe der Zeit. Eine alpine Hochleistung.
Doch Norbert Gstrein hat die geologische und historische Formation der Alpen nur deshalb verlassen, um sich ein erzählerisches Hochgebirge schaffen zu können, in dem die Steilhänge und Abgründe und die Schatten des Tages dem Erzähler eine dauernde Herausforderung sind. Mit den Mühen der Ebenen gibt sich unser Autor nicht ab. Er hat einmal unter Applaus den Gipfel erklommen, jetzt tut er es nicht mehr unter einem Viertausender. Ein riskantes Programm. Schauen wir, ob es gelungen ist.
Man kann den neuen Roman "Die englischen Jahre" auf zweierlei Weise vorstellen. Man kann die wesentliche Handlung, die im Jahr 1940 in England, größtenteils in einem Gefangenenlager auf der Ile of Man spielt, nacherzählen und wird eine spannende Geschichte präsentieren, von Krieg, Verfolgung, Liebe, Gefangenschaft, Verrat und Tod. Man würde Figuren in historischen und persönlichen Verstrickungen zeigen, aber gar nicht erklären können, warum dies alles auf eigentümliche Weise intensiv und zugleich kalt und schematisch wirkt. Weil wir die bizarre und gewaltige Formation der Erzählung selbst nicht sehen.
Anderseits kann man diesen Roman auch von der Erzähltotale her erschließen, also von der Frage her, wer erzählt was und warum. Das ist zunächst weniger spannend, aber vom gesamten Erzählmassiv zoomt man dann zwangsläufig auf die befremdliche Einzelheit und lernt das Staunen.
Beginnen wir ausnahmsweise mit der Totalen, mit der Konstruktion des Romans. Ein junger österreichischer Schriftsteller mit dem Namen Max hat einst über einen emigrierten Wiener Juden namens Gabriel Hirschfelder einen offenbar peinlichen Vortrag gehalten. Die Erzählerin berichtet:
"Wenn ich mich richtig erinnere, war Max gerade aus Wien zurückgekehrt, wo er seine verunglückte Huldigung auf ihn vorgetragen hatte, seine "Hommage à Hirschefelder", für die er sich nur Ablehnung eingehandelt hat. Der Anlaß tut nichts zur Sache, aber vielleicht lag es am Titel, den ich ihm vergeblich auszureden versucht habe, weil mir das Parfümierte daran von Anfang an mißfallen hat, und ich weiß noch, wie sehr ihn die Vorwürfe trafen, er hätte sich nur an eine Mode angehängt, es gäbe keinen anderen Grund für ihn, sich mit einem Vertriebenen zu beschäftigen um so weniger, als es ein Jude war, er wisse nichts vom Exil und hätte bei seinen Dorfgeschichten bleiben sollen, statt sich auf ein Abenteuer zu versteifen, das für ihn nur schiefgehen kann. Es hatte damals keinen Tag gegeben, an dem er nicht angefangen hatte, sich dafür zu rechtfertigen, und in der Folge mit seinem Monologisieren begann, was ihm widerfahren war, aber auch von seiner Bewunderung für ihn sprach und mir die Photos von den verschiedensten Klapperkästen zeigte, die als seine Schreibmaschinen herhalten mußten, von den abgetretenen Galoschen, die nicht seine Schuhe waren, sondern selbstverständlich sein Schuhwerk, und von seiner Zahnprotese im Wasserglas, wenn das nicht nur eine Finte war, und es irritierte mich immer noch, mit welchem Sarkasmus er sich selbst dabei als Hinterwäldler bezeichnet hatte, geradeso, als schwankte er, ob er seinen Kritikern nicht doch zustimmen sollte, daß ihn das alles nichts anging."
Ein jüdisches Emigranten-Schicksal als Modethema zu behandeln, das ist ein harter Vorwurf, der pariert werden will. Norbert Gstrein nimmt hier die problematische Autorsituation, in der er sich selbst befindet, als Thema in den Roman hinein. Denn er erzählt in seinen "englischen Jahren" eben die Geschichte des emigrierten österreichischen Juden Gabriel Hirschfelder. Er tut dies mittels einer vorgeschobenen weiblichen Erzählerfigur. Nicht Max geht nach England (Max ist übrigens der gewohnheitsmäßige Rufname des in England lebenden österreichischen Erzählers jüdischer Emigrantenschicksale: W.G. Sebald; vielleicht ein Zufall), nicht Max also, sondern seine Freundin besucht in London zufällig eine Ausstellung mit Fotos jüdischer Emigranten aus den ehemaligen K.u.K.-Landen und lernt dort die letzte Frau jenes verstorbenen Emigranten Gabriel Hirschfelder kennen, der allein auf Grund eines schmalen Bandes mit Erzählungen aus dem Stoff seines Emigrantenlebens im deutschsprachigen Raum bekannt geworden ist. Diese Frau mit Namen Margaret erzählt nun von der seltsamen Figur des alten Hirschfeder, mit dem sie lange in einem Ort an der Themsemündung namens Southend-on-Sea zusammengelebt hat (nicht weit übrigens von Uwe Johnsons Domizil in Sheerness-on-Sea; vielleicht ein Zufall).
Ein spröder, etwas kauziger, zurückgezogen lebender Mensch sei jener Hirschfelder gewesen, Bibliothekar von Beruf, der viele Jahre seine Autobiographie hätte schreiben wollen, obwohl nie jemand etwas davon gelesen habe: "Die englischen Jahre" sollte sie heißen. Was die Erzählerin stutzig macht, was ihre Aufmerksamkeit fesselt, ist die kolportierte Behauptung Hirschfelders, er habe während des Krieges einen Mord begangen.
Im Modell vollständig ist die Struktur des Romans dann mit dem zweiten Kapitel, das ganz direkt von Hirschfelders Erfahrungen erzählt, und zwar in der zweiten Person Singular. Hirschfelder wird zum Du, zum direkten Gegenüber der Erzählerin. Wir sehen ihn als Gefangenen auf einer Pritsche in einer Londoner Turnhalle liegen. Am nächsten Tag steht der Abtransport ins Gefangenenlager auf der Ile of Man bevor. In diesem besten Kapitel des Romans gelingt Norbert Gstrein ein erzählerisches Kabinettstück. Dem dämmernden Hirschfelder gehen die Reden der Wachen, die Geräusche der Mitgefangenen, die Reflexion seiner Situation und die Erinnerungen an seine Wiener Kindheit, an seinen Aufenthalt bei einer Londoner Richterfamilie und an seine Affäre mit der Haushaltshilfe Clara, auch einer Emigrantin, ineinander über. Wir erfahren in einem großen Fluß von Wahrnehmungen, Gedanken und inneren Monologen die gesamte Vorgeschichte Hirschfelders, aber auch die hysterische Situation in England unter der Drohung, die Deutschen griffen die Insel an (die geplante ´Operation Seelöwe´), weshalb sogar die geflohenen Juden vorsorglich unter Spionageverdacht gestellt und schließlich verhaftet werden.
"Das war bereits nach den Tribunalen gewesen, denen sich die Flüchtlinge im ganzen Land zu unterwerfen hatten, und dir war vorgekommen, du würdest ein weiteres Mal vertrieben, als dich der Vorsitzende, ein ehemaliger Kolonialoffizier, nach einem kurzen Verhör als Risiko einstufte, du hattest seine Fragen, warum du geflohen warst, noch lange danach in den Ohren, sein Drängen, als würde er die Schuld bei dir suchen, als hättest du mit deiner Flucht einen Verrat begangen, den du jederzeit wiederholen konntest, es waren die eingefrorenen Prinzipien eines Haudegens, seine erbärmlichen Weisheiten und eine gegenseitige Abneigung auf den ersten Blick, die dir zum Verhängnis wurden, und fortan beäugte dich die Frau des Richters um so mehr, als die Hausgehilfin ohne Verdacht davongekommen war, sie achtete streng darauf, daß du dich an die Beschränkungen hielst, die man dir auferlegt hatte, und verschärfte sie sogar, sie nahm dir das Fahrrad und den Stadtplan ab und befahl dir, gleich nach Einbruch der Dunkelheit zu Hause zu sein, lange vor der Ausgangssperre, und dich an den wenigen Wochenenden, an denen die Familie wieder nach Eastbourne ans Meer fuhr, am Morgen und am Abend bei den Nachbarn zu melden."
So genau und erzählerisch intim werden wir Zeuge der desolaten Situation Hirschfelders, daß wir beim Lesen die Frage, wer kann dies eigentlich alles wissen?, vergessen. Aber wer kann dies eigentlich wissen? Niemand kann. Die Erzählerin erfindet in feinster literarischer Close-up-Technik die Geschichte eines Verfolgten, von der sie nur einige wenige Züge, vage und immer unsicher, kennt.
Im Fortgang des Romans werden noch zwei weitere Frauen Hirschfelders besucht und befragt, und alle berichten der Erzählerin viele Dinge, die sie selbst nur gehört haben können, von Hirschfelder selbst, oder von zwei unheimlichen Gesellen, die mit ihm auf der Ile of Man gefangen waren. Sogar die ehemalige Geliebte Clara tritt auf, die einzige, die Hirschfelder vor dem Krieg gekannt hat, aber Clara ist geistig verwirrt und kann kein Zeugnis ablegen. Diese Befragungen der Frauen nun sind im Roman jeweils unterbrochen von weiteren Kapiteln in der Du-Form, die ganz konkret Situationen aus dem Gefangenenlager und von einem Schiffsunglück ausmalen. Das Bestechende an diesen persönlich - konkreten, scheinbar unvermittelten Kapiteln ist der Gegensatz zwischen der erzählerischen Intimtät, die uns zu mitfühlenden, zu ganz und gar emphatischen Lesern machen und ihrer konstruktiven Unwahrscheinlichkeit. Es gibt keine Erzählperspektive, die solch ein einfühlendes Erzählen möglich macht. Dieser Gegensatz ist nur aufzuheben, wenn wir davon ausgehen, hier wird ein Leben anhand dürrer, bruchstückhaft vermittelter Daten erfunden. Doch wer maßt sich diese auktoriale Haltung angesichts einer heiklen Faktenlage an?
Nun, diese Frage und damit auch die erzählte Geschichte spitzt sich auf sensationelle Weise zu: Wir erfahren, daß Hirschfelder im Insellager bei einem Kartenspiel von seinen drei Mitspielern ausgetrickst wird. Die Situation ist heikel. Immer mehr deutsche Gefangene werden von den Engländern mit großen Passagierschiffen außer Landes gebracht, nach Neufundland zum Beispiel. Doch die Gefahr, von Torpedos deutscher U-Boote getroffen zu werden, ist groß. Einer aus der Vierergruppe im Lager, erst ´Der Neue´ genannt, später bei seinem Namen Harrasser, soll gehen. Am Abend zuvor zückt er ein Bündel Pfundnoten und eröffnet ein Kartenspiel, bei dem der Verlierer aufs Schiff muß und die übrigen sich das Geld teilen. Ein hochdramatisches Spiel, das Hirschfelder nur widerwillig mitmacht – und verliert.
Im nächsten Kapitel ist er bereits auf der ´Arandora Star´ in der Irischen See auf dem Weg nach Neufundland. Das Schiff wird getroffen, sinkt, Hirschfelder treibt auf einem Floß im Meer und kann offenbar nur noch tot von einem kanadischen Zerstörer gerettet werden. Noch ein atemberaubendes Kapitel, das in seiner Dramatik durchaus an die Schlußszenen des Films `Titanic´ erinnert. Doch wer, in des Erzählers Namen, hat dies beobachtet, kann auch nur die Tatsache bestätigen? Und gravierender noch: Wer, wenn Hirschfelder im Wasser umgekommen ist, war dann jener Mann mit den drei Frauen, die alle über ihren Hirschfelder Auskunft geben?
Hier sind wir an der entscheidenden Stelle, wo die erzählte Geschichte mit der Konstruktion des Romans zur Deckung kommt. Jenen Nachkriegs-Hirschfelder, von dem der Roman über weite Strecken erzählt, hat es nie gegeben. Tatsächlich hat der Neue im Lager, jener Harrasser aus dem österreichischen Salzkammergut, nach Hirschfelders Expedierung dessen Identität angenommen und sich aus den Lagererzählungen seines Mitgefangenen eine Biographie gebaut, und zwar eine leidvoll-jüdische. Wobei er selbst, der ebenfalls in jungen Jahren aus Österreich emigrierte Harrasser, mitnichten den Nazis ein Dorn im Auge war, weil er eine junge jüdische Geliebte hatte, sondern im Gegenteil, er hat seine jüdische Geliebte verraten, er hat ihr aus Angst ärztliche Hilfe verweigert und sie jämmerlich zu Tode kommen lassen.
Man sieht also: Nichts stimmt, und alles klärt sich auf. Man spürt aber als Leser auch die eigene Verstimmung: So nah war man am Schicksal jenes verfolgten Juden, so viel Empfindung wurde mobilisiert, so viel Empathie freigesetzt – und nun stellt sich alles als Bluff heraus; zwar nicht als Bluff eines aberwitzigen Erzählers, der sein Übermütchen mit raffinierten Tricks kühlt, sondern als Bluff der handelnden Figuren selbst, denen die Erzählerin aufsitzt. Sie selbst ist die Betrogene, insofern sie sich projektiv ein Bild machte, dem die Basiskoordinaten fehlten. Jetzt ist es kollabiert. Die Entschädigung ist die Wahrheit. Eine konstruktive Wahrheit. Wir wissen, warum die Erzählerin ´lügen´ mußte. Ein Trost ist es dennoch nicht, weil wir an uns selbst die moralisch unterstützte Macht der Einbildungskraft kennengelernt haben. Vielleicht kein schöner, aber ein lehrreicher Streich, den uns der Romankonstrukteur Gstrein da gespielt hat. Wir haben uns in seinem Hochgebirge verirrt. Und vom Gipfel herab grüßt er uns zuguterletzt und klärt uns über unsere Umwege auf.
Erinnerung, so lernen wir in praxi, was wir theoretisch schon längst zu wissen glauben, ist nichts weniger als ein selbstverständlicher Akt der spontanen oder dokumentengestützen Rekonstruktion, Erinnern ist ein vielfach angeleiteter, normen- interesse- und vorurteilsgeleiteter Prozess, bei dem selbst das schlichteste who is who, ja gerade das, in Frage steht. Warum nur, wird man als nächstes fragen, demonstriert uns dies Norbert Gstrein auf zugegeben raffinierte, wenn auch etwas sehr rationalistisch - aufklärerische Weise am Beispiel eines jüdischen Schicksals zu Kriegszeiten? Daß ein Erzähler uns seine eigene Kunst in einer spannenden Geschichte vorführt, also das Prinzip der Täuschung, des Tauschs, auch des Identitätstauschs, als Romanmotiv, das ist nicht eben selten in unserer ´postmodernen´ Lage, im Falle der "englischen Jahre" ist es allerdings selten konsequent und mit einer gewissen mathematischen Strenge durchexerziert. Doch warum bei diesem Thema?
Sicher, Gstrein, der an seinem Roman vier Jahre gearbeitet und im übrigen gut recherchiert hat, kann darauf verweisen, daß es in englischen Gefangenenlagern tatsächlich solche Identitätswechsel gegeben hat. Aber reicht das? Ja, natürlich. Der Hinweis wäre nicht einmal nötig. Was ein Erzähler im Roman selbst beglaubigen kann, das gilt. Aber die Frage nach Stoff und Thema stellt sich nicht nur trotzdem, sondern deswegen. Schließlich wirft die Exposition des Romans die Frage selbst auf. Dort ist von Modethema die Rede, zu dem die Biographien vertriebener Juden geworden seien. Und man kann nicht anders, als an Martin Walsers Angriffe auf eine angeblich wohlfeil und damit falsch gewordene Erinnerungskultur in Deutschland zu denken, der die Frage zugrunde liegt, welche internalisierte soziale Instanz das Gedenken steuert. Und an einen Extremfall der Erinnerungsfälschung, an einen wohl nur noch pathologisch aufzulösenden Fall, wird ebenfalls gerührt mit dem Gstreinschen Roman: an die höchstwahrscheinlich phantastischen autobiographischen Erinnerungen von Benjamin Wilkomirski, der sich in seinem Buch "Bruchstücke" eine Kindheit im KZ Majdanek imaginiert. Gstrein bewegt sich mit seiner Konstruktion des Emigrantenschicksals von Gabriel Hirschfelder am Rande solcher Fragen.
Was die modische, sagen wir politisch korrekte Herangehensweise an das Thema betrifft, so würde der gelernte Mathematiker Gstrein gerne demonstrieren, daß wir über die Frage nach den Erzählperspektiven selbst an so etwas wie Wahrheit herankommen. Wenn Wahrheit ein Konstrukt ist, müssen wir Konstruktionsregeln analysieren. Das tut der Roman in einer selbstreflexiven Bewegung. Allerdings bleibt beim Leser ein Zweifel: Denn gerade die imaginativen, die weitgehend frei erfundenen Szenen, über einen starken Sog aus. Selbst wenn man ihre Herstellung durchschaut, bleibt ihnen eine realitätssuggeriende Kraft, die rational schwer zu beherrschen ist. Und dabei hat sich Gstrein so bemüht, schon in der syntaktisch umwegigen, oft distanziert-spröden, gelegentlich automatenhaften Sprache die Unmittelbarkeit der Erzählung zu dämpfen.
Und was den wahnhaften Verfall an die Einbildung betrifft, so ist Gstreins letztendlich rationalistischer Optimismus, der die Ordnung der Zeichen und die der Wirklichkeit unterscheiden zu können glaubt, im Roman stark ausgeprägt. Am Ende scheint alles klar. Die Erzählung klärt sich über sich selber auf, so wie es eine fortschrittliche Aufklärung auch philosophisch für sich selbst reklamiert. Diese Aufklärung sieht im Roman so aus, daß die ehemalige Freundin von Max, die vorgebliche Erzählerin, am Ende zu ihrem verflossenen Liebhaber kommt, um ihm die gesamte Geschichte von Hirschfelder / Harrasser, vom Identitätstausch und von ihren Nachforschungen als Gabe darzubringen. Max erst, so muß man annehmen, macht daraus den Roman "Die englischen Jahre", den wir lesen und setzt die Frau als Erzählerin ein: ein Identitätstausch auch auf der Ebene der Metafiktion. Damit wäre dann wohl auch Max´ Trauma seiner mißlungenen Hommage an Hirschfelder durchgearbeitet.
Glücklicher- und perfider Weise bleiben aber - kann dies wohl gegen die Intention des Romanciers der Fall sein? - Zweifel an der aufgeklärten Geschichte. Denn die einzigen Figuren, die erzählen konnten und bestätigen könnten – denn sie leben noch -, daß Harrasser die Identität von Hirschfelder angenommen hat, sind jene beiden an Kafka erinnernden Gesellen, die lange nur unter den Kennzeichnungen ´der mit der Narbe´ und ´der Blasse´ auftauchen. Sie waren die Lagergenossen von Hirschfelder. Über ihre Namen Lomnitz und Ossovsky wird einmal gesagt, daß sie an Spione erinnerten. Wer sind diese düster-unheimlichen Garanten der Wahrheit? Auf der letzten Seite des Buches, als Max überlegt, den Roman Hirschfelders, den eben, den wir lesen, zu schreiben, sagt er: "Vielleicht sollte ich mich Lomnitz und Ossovsky nennen." Am letzten Punkt der Klarheit, auf dem Gipfel und in der dünnen Luft des erzählerischen Hochgebirges, öffnet sich die Geschichte noch einmal.
"Wozu brauchst du einen anderen Namen?" Es dauerte ein paar Augenblicke, aber dann wurde er laut und beugte sich so weit zu mir vor, daß ich unter seiner Haut die Schatten seiner Bartstoppeln sah. "Ich brauche einen anderen Namen, damit es mich nicht mehr gibt", sagte er. "Dieses Mal werde ich es der Wiener Bande nicht so leicht machen und mich auch noch in aller Form vorstellen." "Das ist doch Unsinn, Max." "Ich werde den Brüdern nicht wieder meinen Kopf hinhalten." Ich packte ihn am Arm. "Vergiß sie, Max." "Ich lasse mich von ihnen nicht umbringen." "Vergiß sie, Max", versuchte ich noch einmal, ihn zu beschwichtigen. "Schreib meinetwegen du einen Roman über Hirschefelder, aber vergiß sie." Damit ließ ich ihn setzen und ging, und vielleicht war das wirklich das Ende, das mir noch gefehlt hatte, das Bruchstück, um davon loszukommen, ihm zu sagen, daß es seine Geschichte war. Zumindest hatte ich sie dadurch in seine Hände gegeben, ob er sich ihrer annahm oder nicht, ob er sie erzählte oder sich entschloß, darüber zu schweigen. An den Tatsachen änderte es nichts, und das beruhigte mich, und beunruhigte mich zugleich, wenn ich daran dachte, was für ein unzuverlässiger Zeitgenosse er war."
Es ist keine Kleinigkeit, was der Romankonstrukteur Norbert Gstrein uns mit den "englischen Jahren" aufgegeben hat. Es ist nicht nur auf der Höhe der handwerklichen Kunst, es ist auch auf der Höhe der Zeit. Eine alpine Hochleistung.