Dienstag, 07. Mai 2024

Archiv


Die Erkundung eines dichterischen Kosmos

20 Jahren lang hat Dietrich E. Sattler an einer historisch - kritischen Gesamtausgabe von Friedrich Hölderlins Werk gearbeitet. Seine sorgfältige wissenschaftliche Arbeit sollte aber kein Selbstzweck bleiben. Die 3000-seitige chronologische Leseausgabe liefert ein lebendiges Bild des deutschen Romantikers.

Von Arnold Thünker | 22.03.2005
    Seit 20 Jahren arbeitet der Herausgeber Dietrich E. Sattler an einer historisch - kritischen Gesamtausgabe von Friedrich Hölderlins Werk. Er hat Spuren von Leben und Werk sorgfältig recherchiert und behutsam kommentiert. Der 1939 in Apolda, Thüringen, geborene Sattler, ist zu der Überzeugung gelangt, dass seine wissenschaftliche Arbeit kein Selbstzweck bleiben durfte. Deshalb hat er sich zu einer Leseausgabe in chronologischer Reihenfolge entschlossen. Durch die Abkehr vom Ordnungsgeist alter Klassikerausgaben entsteht ein lebendiges Bild des Dichters, das Hölderlins Lebensumstände, sein Denken und sein Schaffen miteinander verwebt.

    Briefe an die Mutter und Freunde stehen neben Gedichten, Tagebucheintragungen und Aufsätzen, Textvariationen zum Roman "Hyperion" neben philosophischen Betrachtungen. Zeugnisse von Hölderlins Weggefährten und Zeitgenossen ergänzen das Zeitbild mit Dichter. Der heutige Leser kann der Spur Friedrich Hölderlins in alle Lebensbereiche folgen, die den schwäbischen Knaben zu einem der großen deutschen Dichter hat werden lassen.

    Die im Luchterhand erschienene Leseausgabe in 12 Bänden ist eine Einladung zu einer spannenden Entdeckungsreise in den dichterischen Kosmos und das Leben Friedrich Hölderlins. Mit dieser Ausgabe kann jeder Leser sein eigenes Urteil über den deutschen Dichter fällen, der Zeit seines Lebens von einer heiligen Raserei für die reine Dichtung besessen gewesen ist.

    Für den achtzehnjährigen Hölderlin, der die Briefe an seine strenge Mutter mit "Ihr gehorsamster Hölderlin" bis zu seinem Wahnsinn unterschrieb, ist Dichten die einzig erstrebenswerte Freiheit. Friedrich, der die Neckarwiesen seiner schwäbischen Heimat auf Wunsch der Mutter gegen die engen Klosterschulen, Nürtingen, Denkendorf , Maulbronn und schließlich dem Tübinger Stift eintauschen muss, sind die heimischen Orte Zeit seines Schaffens Orte der Inspiration. In seinen Hymnen und Oden klingt die Sehnsucht nach Heimat zusammen mit den großen Themen der Philosophie und der Liebe. Auf seine Art konsequent erfindet Hölderlin sich eine neue Heimat: Griechenland. "Hyperion oder der Eremit von Griechenland" ist Hölderlins Traum von einer jenseitigen Welt, ein behütetes Terrain, aus dem er niemals völlig ins wirkliche Leben wiederkehren wird. Hölderlin hat Griechenland nie besucht.
    Auch wenn die Anerkennung seiner Zeitgenossen wuchs, Schiller und Goethe waren ihm wohl gesonnen, der sensible Hölderlin fühlte sich verkannt. Zu Lebzeiten blieb ihm der Ruhm verwehrt. Nervenkrisen sind die Folge. Ärzte, die Hölderlin auf Drängen von Familie und Freunden aufsucht, vermuten Wahnsinn.

    Hölderlin wird in verschiedenen Kliniken untersucht. Der Tübinger Arzt Dr. Autenrieth befindet, dass Hölderlin unheilbar krank ist. Ein Verehrer seines Werkes, der Schreiner - Obermeister Ernst Zimmer, nimmt ihn 1807 zur Pflege in sein Haus auf. Hölderlin wird noch 36 Jahre, in engen räumlichen Verhältnissen, seiner inneren Stimme folgen. Die "Turmgedichte" aus dieser Zeit gehören zu den unerhörtesten Gebilden der Weltliteratur.
    Wer heute Friedrich Hölderlin für sich entdecken möchte, dem sei Dietrich E. Sattlers Leseausgabe empfohlen.

    Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke, Briefe und Dokumente in zeitlicher Abfolge
    12 Bände, Luchterhand, München 2004
    ca. 3.000 Seiten, 99,00 €