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Die Flucht vor den "Befreiern"

Willkommen in Hölle zwei, Teil zwei. Diese Begrüßung steht in Grosny an einer Häuserwand. Heida Saratowa, die den Spruch an dem Haus gegenüber Tag für Tag gelesen hat, interpretiert ihn als einen Gruß an die jungen russischen Soldaten, die in die tschetschenische Hauptstadt geschickt wurden, um sie zu befreien, wie es nach Moskauer Sprachgebrauch heißt. Wiederaufgebaut werden soll die Stadt vorerst nicht, es sei kein Geld dafür vorhanden, heißt es in Moskau. Die russische Tageszeitung "Kommersant" vermutet jedoch ganz andere Gründe dahinter. Die Hauptstadt Grosny sei ein Symbol des nach Unabhängigkeit strebenden Tschetscheniens, soviel Selbstbewusstsein dürfe nie wieder zugelassen werden. Deshalb werde die Stadt eine Ruine bleiben, in der in Zukunft höchstens Obdachlose und Plünderer wohnen würden, kommentierte die russische Tageszeitung. Der russische Vizepremier und Statthalter Moskaus in Tschetschenien, Koschmann, hatte kurz nach dem erklärten Sieg der Russen verkündet, dass Gudermes vorübergehend Hauptstadt werde. 1500 Rebellen seien in Grosny vernichtet worden, hatten die russischen Generäle gemeldet. Wie viele eigene Soldaten gefallen sind, wird man wohl nie erfahren. Heida Saratowa, die Frau aus Grosny hat die jungen Wehrpflichtigen in der Stadt kämpfen sehen, sie überkommt einfach nur noch Mitleid.

Sabine Adler |
    "Es gibt auch gute Menschen unter den russischen Soldaten. Sie tun mir leid, wenn ich sie nur sehe. Das sind 18jährige Jungen, die in die Armee kamen und sofort nach Tschetschenien geschickt wurden. In dieser Hölle, wo sie zum Tode verurteilt sind. Wir sind zu dritt zu ihnen gegangen und sagten, dass wir ihre Verwandten anrufen könnten, wenn sie das wollen. Wir sind ganz menschlich, brüderlich auf sie zugegangen. Der eine sagte, rufen sie besser nicht an, meine Eltern wissen nicht, dass ich in Tschetschenien bin. Ein Junge starb an einem Herzanfall, als ihm bewusst wurde, wo er gelandet ist."

    Der 40jährigen Frau mit den blondgefärbten Haaren und der zerrissenen Kleidung sind die Strapazen der zurückliegenden Flucht anzusehen. Das Gesicht ist schmutzig, der pinkfarbene Lippenstift ein kläglicher Versuch, sich in Ordnung zu bringen. Ihre Freundin, Maleika Dschabrailowa, verliert die Fassung, als die Erinnerungen beim Erzählen wieder lebendig werden.

    "Ich appelliere an die russischen Mütter, die 1994/1996 bei uns waren. Nehmen Sie Vernunft an, nehmen Sie ihre Kinder! Ihre Kinder sind in den Kellern, von einigen liegen nur noch ihre Leichen dort . Ich bitte Sie, nehmen Sie ihre Kinder. Wir brauchen weder sie, noch ihr Blut, wir wollen in Frieden leben. Als Frau und Mutter wende ich mich an die Welt, uns vor diesem verdammten Rußland zu schützen. Wir brauchen diese Kinder nicht, sie sind verlaust, hungrig, schmutzig. Sie betteln in den Siedlungen, haben Angst, uns ihre Adressen oder Telefonnummern zu geben, diese Leiden sind nicht auszudrücken."

    Seit dem Wochenende gilt Grosny als befreit. Doch viele Einwohner, die so fest entschlossen waren, auszuharren, sind kurz vor dem Ende der Kampfhandlungen schließlich doch noch geflohen. Maleika Sutajewa zum Beispiel, eine 25jährige, der der Krieg die Jugend geraubt hat. Sie sieht aus wie Mitte vierzig und wartet vor dem Inguschetischen Ministerium für Zivilschutz darauf, dass man ihr eine Bleibe zuweist. Ihr vierjähriger Sohn Islam hat völlig verfilztes Haar, sein Gesicht ist so schmutzig wie seine Kleidung. Die Mutter wollte es unbedingt bis zum Kriegsende in Grosny aushalten, doch als ihr Haus in Flammen stand, ihre Wohnung ausbrannte, während sie mit 13 anderen Frauen im Keller saß, wusste sie, dass es nun keinen Grund mehr gab, länger mit der Flucht zu warten.

    " Ich wollte meine Wohnung, meine Habseligkeiten bewachen. Ich bin dazu gezwungen, denn ich lebe allein, ich habe keine Verwandten. Sein Vater ist seit 1995 vermisst, das Kind hat nur mich. Das, was es auf dem Leib trägt, das ist alles was es hat. Er hat eine Hose, drei Strumpfhosen, er hat keine anderen Schuhe, nichts. Alles was er besitzt, hat er an. Ich kann ihn nicht umziehen, bald wird er die Krätze bekommen. Wir haben seit fast zwei Monate nicht mehr gebadet. Niemand lässt uns bei sich baden, in den Lagern gibt es keine Duschen. Alles, was sie wollen ist, das Volk zu schikanieren, nur schikanieren. Sie haben nur ein Ziel, jedes einzelne Haus das noch steht zu vernichten, erst zerstören sie ein Haus, daneben steht ein anderes, das zerstören sie danach, das ist es, was sie machen. Zum Teufel mit diesem Rußland!"

    Auch Heida Saratowa ist schließlich geflüchtet. Auf dem Weg ins Nachbarland Inguschetien hat sie mit ihrer Freundin Maleika Dschabrailowa und anderen Frauen Informationen über Verbrechen an der Zivilbevölkerung gesammelt. Sie sind Mitglieder der Menschenrechtsorganisation Memorial. Einige Gräueltaten sind vor ihren eigenen Augen geschehen:

    "Wir haben am Grenzübergang ein Mädchen ohne Beine gesehen. Sie ist an ihren Blutungen gestorben, im Alter von 12 Jahren. Die Soldaten sahen, wie sie vor ihren Augen stirbt und ließen sie nicht rein nach Inguschetien."

    Die grausamen Details notieren sie, sie besprechen Kassetten, damit die Informationen mehrmals gesichert sind und nicht verloren gehen. Man steckt ihnen sogar Videoaufnahmen zu. Alle Unterlagen schicken sie - mitunter über abenteuerliche Wege - nach Moskau. Seit 1994 werden die Vorgänge in Tschetschenien von Memorial mit besonderer Aufmerksamkeit beobachtet und dokumentiert. Die russische und inzwischen auch international arbeitende Menschenrechtsorganisation hat damit ihr Aufgabengebiet erweitert, neben der Dokumentation von Verstößen gegen Menschenrechte werden auch Kriegsverbrechen und Flüchtlingsprobleme erfasst. Die tschetschenischen Mitarbeiterinnen sind erschöpft, wie alle Flüchtlinge, sie suchen Schutz bei ihren Verwandten in Inguschetien. 80 % der Flüchtlinge kommt bei Verwandten oder Freunden unter, nur 20 % müssen in ein Lager gehen. Inguschetiens Bevölkerung hat sich durch die Aufnahme der Tschetschenen verdoppelt, doch alle beißen die Zähne zusammen und halten durch. Bis 1992 waren Inguschetien und Tschetschenien in einer gemeinsamen Republik zusammengefasst, man spricht fast die gleiche Sprache und hat sich schließlich schon öfter geholfen, 1943/44, als Stalin beide Völker wegen ihrer angeblichen Kollaboration mit den deutschen Faschisten nach Sibirien deportieren ließ, und auch im ersten Tschetschenienkrieg, in dem die Menschen nicht nur nach Dagestan, sondern ebenso nach Inguschetien flohen. Die inguschetische Regierung unter Präsident Ruslan Auschew hat mit Unterstützung der internationalen Hilfsorganisationen sieben Lager eingerichtet. Dort stehen Zelte, man hat Eisenbahnwaggons umfunktioniert und Baracken errichtet. Das Lager Sputnik in Ordschonikidsewskaja beherbergt über 8000 Menschen. Die grünen Zelte reihen sich auf dem zugigen Acker aneinander, häufig sind bis zu 30 Flüchtlinge in einem Zelt untergebracht. Das Tauwetter haben den Boden in eine einzige Schlammlandschaft verwandelt. Aslam Bekow ist der Lagerleiter, selbst ein Flüchtling. Jeden Tag kommen neue Bedürftige, niemand wird abgewiesen, doch die Sorgen wachsen ihm über den Kopf.

    "Wir haben große Probleme mit dem Heizmaterial. Das Holz holen wir aus dem Wald, es gibt keine Straßen. Dann bekamen wir Gas, wir hoffen, dass bald alle Zelte, vor allem die Schule und das Arztzelt, angeschlossen werden können."

    Immer wieder gibt es Engpässe in der Versorgung. Zwei Tage lang konnte in der Küche kein Essen zubereitet werden, weil die Lebensmittel-Lieferungen ausblieben. Möglicherweise weil die Ladungen der Hilfsorganisationen wieder einmal aufgehalten worden sind. Ihre Lieferungen umfassen schicken Mehl, Fleischkonserven, Pflanzenöl, Kondensmilch, Zelte, Betten und Matratzen. Eklatanter Mangel herrscht an Waschpulver und Seife. Die Flüchtlinge haben mit den Männern des inguschetischen Innenministeriums eine Wache rund um die Uhr organisiert. 10 Mann gehen ständig auf Streife. Doch sicher fühlen sich einige trotz allem nicht. Etliche Flüchtlingsfrauen berichten, dass sie nicht schlafen können, wenn sie hören, dass Hubschrauber und Flugzeuge nachts in niedriger Höhe über die Lager hinweg fliegen. Auch Marina Gasijewa, die Direktorin der kleinen Schule, berichtet von solchen Ängsten und Reflexen, die sich mittlerweile ausgebildet haben.

    "Als heute die Hubschrauber über das Lager flogen, erschrak ich, mir fiel sofort ein, dass man sich auf den Boden werfen muss. Wir haben hier Kinder, die nie aus den Kellern herauskamen. Sie brauchen jetzt ganz besonders viel Wärme und Aufmerksamkeit. Die Kinder sind zerstreut, ihr Gedächtnis lässt sie im Stich. Es ist schwer , ihre Aufmerksamkeit zu bekommen, sie können sich nicht konzentrieren, sie haben Wahrnehmungsstörungen. Auch uns Lehrern geht es manchmal so, wir wollen etwas sagen und uns fallen die Worte nicht ein. Manche Kinder sind sehr ängstlich. Kommt man in ihre Nähe, haben sie Angst, geschlagen zu werden. Es gibt Kinder, die keine Kleidung haben, die Leute besitzen nur das, was sie auf dem Leibe trugen."

    18 Lehrer unterrichten die Kinder in dem Zelt, an dem außen ein gelbes Schild mit der Aufschrift "Schule" hängt. Sie arbeiten im Schichtbetrieb. Von 8 Uhr morgens bis halb fünf nachmittags. Die Unterrichtsstunden dauern 35 Minuten. Die Kinder bringen Brennholz mit, damit der Bollerofen geheizt werden kann. Es ist trotzdem so kalt, dass alle Jacken und Mütze anbehalten. Für die Lehrerinnen ist diese Schule, die das inguschetische Bildungsministerium eingerichtet hat, Glück im Unglück, denn zum ersten Mal seit sieben Jahren bekommen sie ihren Lohn ausgezahlt. In Tschetschenien hatten viele Lehrer aufhört zu unterrichten, da sie nur noch auf Spenden der Eltern angewiesen waren. Für Marina Gasijewa war es deshalb ein ganz ungewohntes Gefühl, die Empfangsbestätigung für ihren Lohn zu unterschreiben. Die jahrelange Misere im tschetschenischen Bildungssystem hat ernste Auswirkungen auf die Kenntnisse und Fähigkeiten der Kinder.

    "Es gibt Kinder, die bereits in der fünften oder sechsten Klasse sein müssten, sie sitzen in der ersten. Das sind also schon erwachsenere Kinder, denn ihre Altersgefährten besuchen bereits die Mittel- oder Oberstufe. Sie sind Jahre zurückgeblieben. Manche können auch mit 10 oder 11 Jahren noch nicht lesen. Das ist natürlich nicht plötzlich entstanden, das hat sich im Laufe der Jahre so verschlechtert. Ich unterrichte in der fünften Klasse, aber das Niveau entspricht der zweiten oder dritten. Wir müssen in den 35 Minuten ein bestimmtes Ziel erreichen, aber wir schaffen es einfach nicht, denn die Kinder begreifen alles viel langsamer."

    Die Kinder außerhalb der Flüchtlingslager haben häufig keine Möglichkeit, die Schule zu besuchen. Karabulak, ein Ort in der Nähe der inguschetischen Hauptstadt Nasran, hatte vor dem Krieg 17 000 Einwohner. Jetzt sind es 33 000, die Bevölkerungszahl hat sich verdoppelt, weil praktisch jede Familie Flüchtlinge aufgenommen hat. Die internationalen Hilfsorganisationen stimmen ihre Arbeit untereinander ab. Jürgen Barthels von "Care" beispielsweise hat unmittelbar nach seiner Ankunft in Inguschetien den dänischen Kollegen und dem UNHCR einen Besuch abgestattet, um zu erfahren, wohin schon Hilfslieferungen geschickt wurden und wer bislang möglicherweise noch gar nichts bekommen hat. Eine sinnvolle Vorgehensweise, wie sich herausstellte, denn tat-sachlich haben einige Lager noch gar keine Lebensmittel erhalten. Völlig vergessen wurden die vielen Privathaushalte, die häufig eine Familie, die noch mal so groß ist wie die eigene, zusätzlich mit versorgen müssen. Vor allem für sie machte sich der deutsche "Care"-Mitarbeiter stark. Bei den örtlichen Behörden rannte er offene Türen ein.

    "Die untere Ebene der Zusammenarbeit ist die beste, dort sind Leute, die die Dinge wirklich so sehen, wie sie sind. Und was mich außerordentlich freut für unsere Arbeit, schnell handlungsfähig sind. Auf der anderen Seite muss ich natürlich sagen, auch ihnen sind gewisse Grenzen gesetzt, die Transportmittel stehen nicht in ausreichendem Maße zur Verfügung. Es hat das Lebensmittelprogramm der UN Vorrang, es haben Ladungen, die mit Eisenbahnwaggons geliefert werden Vorrang."

    Als das größte Hindernis erwies sich der sogenannte Putin-Erlass. Seit Anfang des Jahres müssen alle Hilfslieferungen zuerst nach Wladikawkas in die Nachbarrepublik Nord-Ossetien gebracht werden, angeblich, um die humanitäre Hilfe besser koordinieren zu können. Für "Care", wie auch für andere Organisationen, bedeutete dies, dass sich ihre Hilfsaktion um zwei Wochen verzögert. 14 Tage, in denen man längst die Waren verteilt haben könnte. Für die Flüchtlingsfrauen ist das Leben besonders beschwerlich. Unter den improvisierten Bedingungen ist die Hausarbeit noch umständlicher. Die Wege zu den Versorgungsstellen sind weit, das Schleppen der Tasche ist ihre Sache, ebenso wie Holz holen, Kochen, Waschen, soweit es überhaupt möglich ist, und die Betreuung der Kinder. Alles bleibt an ihnen hängen. Die Männer sitzen derweil untätig auf der Straße, völlig ihrer Bedeutung als Ernährer der Familie beraubt. Das macht sie depressiv, manche werden regelrecht krank davon. Viele fahren oder laufen deshalb jeden Tag zur Grenze. Der Grenzübergang ist die wichtigste Nachrichtenbörse, hier erfahren die Wartenden von den ankommenden Flüchtlingen zu allererst, was es neues in der Heimat gibt. Man fragt nach gemeinsamen Bekannten, nach Berichten aus den Heimatorten. Heute brauchen sie viel Geduld, denn heute ist noch niemand angekommen, die Kämpfe haben sich nach der Einnahme von Grosny in den Süden verlagert, wenige Kilometer weiter in Ursus-Martan, Atschchoi-Martan, Alchan-Jurt und Schali soll es schwere Gefechte und Bombenangriffe gegeben haben.

    "Unser Neffe ist in Alchan-Kala geblieben. Ich kann nicht dorthin, denn wir werden nicht reingelassen. Wir wollten zurück zu unserem Haus und Hof, wir haben ihn vorgeschickt, aber er ist noch nicht zurückgekehrt, sagt diese Frau. Eine andere erzählt, dass sie ebenfalls aus Alchan-Kala stammt. Dass sie erlebt haben, wie die Häuser von den Soldaten geplündert und danach angezündet wurden. Eine dritte klagt ihr Leid. Im vorigen Krieg wurde ihr Haus ausgebombt, im vorigen Jahr hatten sie es gerade ein zweites Mal wieder aufgebaut. Sie konnten nur 5 Monate darin wohnen, dann wurde auch das neue Haus schon wieder zerstört. Sie hat keine Kraft mehr, wieder von vorm anzufangen. Ihre Kinder sind ohne Ausbildung und es interessiert niemanden."

    Regelmäßig schicken die Familien einen Angehörigen auf Erkundungsfahrt in die Heimatorte. Ganz aktiv betreiben Mitarbeiter der russischen Seite Agitation, um die Tschetschenen zur Rückkehr in die befreiten Gebiete zu bewegen. Doch länger als ein, zwei Tagen bleiben die meisten nicht in ihren häufig zerstörten Orten. Mitunter kehren sie in schlimmerem Zustand zurück, als von ihrer ursprünglichen Flucht, denn nicht selten werden Busse beschossen. Der bislang tragischste Zwischenfall ereignete sich in Schali. Die russische Journalistin Anna Politkowskaja kehrte kürzlich aus diesem tschetschenischen Ort zurück:

    "Diese Tragödie, die am 9. Und 10.Januar geschah, ist der in Grosny auf dem Marktplatz sehr ähnlich, als dort Ende Oktober eine Rakete einschlug. Am 9. Januar kamen die Rebellen nach Schali zurück. Schali galt als Sicherheitszone. An diesem Tag sollten sich die Einwohner auf dem zentralen Platz einfinden, um ihre Pensionen entgegenzunehmen. An die Kinder sollten Neujahrsgeschenke verteilt werden. Plötzlich schlug eine Rakete ein. Diese Rakete hat nicht die Rebellen, sondern die versammelte Menge auf diesem Platz getroffen. Es soll zwischen 150 und 250 Opfer gegeben haben."

    Wie viel genau, kann niemand mehr sagen, da die Toten nach moslemischem Brauch noch am gleichen Tag beerdigt werden müssen. Auf zwei Friedhöfen hat man Gräber ausgehoben, häufig für mehrere Personen. Bislang hat niemand herausgefunden, wer die Rakete in die Menschenmenge gelenkt hat, es gibt keinerlei Ermittlungen. Den Versprechen, beruhigt in die sogenannten befreiten Gebiet zurückzukehren, begegnen die Menschen deshalb mit größtem Misstrauen. Eine Frau erzählt, dass schon wieder ein vollbesetzter Bus mit Flüchtlingen beschossen worden sein soll. Diese Berichte häufen sich. Die uralten klapprigen Busse, die heute am Grenzposten stundenlang vollbesetzt stehen und nicht losfahren dürfen, tragen ebenfalls untrügliche Spuren von bewaffneten Auseinandersetzungen. Zersplitterte Front-Scheiben, Einschüsse an den Seiten. Die Flüchtlinge wagen dennoch immer wieder diese Fahrten, die Ungewissheit ist für sie schlimmer zu ertragen als das Risiko, verletzt zu werden. Den alten Mann, der seit Stunden vor dem Schlagbaum wartet, fressen die Sorgen um die Angehörigen fast auf.

    "In Schalijurt haben sie um drei Uhr nachmittags mit dem Raketenbeschuss begonnen, ich bin geschäftlich unterwegs gewesen und reiste drei Tage, bevor es passierte ab. Meine Brüder, Schwestern, Eltern sind noch dort, ich weiß nicht, was mit ihnen ist. Ich bin hier geblieben, als ich von dem Angriff hörte. Dort waren keine Rebellen, die sind doch in Grosny gewesen, warum haben sie sie dort rausgelassen? Das ist ein Genozid, man zwingt uns, zu den Waffen zu greifen."

    Plötzlich ballt sich die Menge an einer Stelle zusammen, alle verstummen für einen Moment, hören einem hochgewachsenen dunkelhaarigen Mann von Anfang 30 zu. Bislan Gantamirow spricht. Der ehemalige Bürgermeister von Grosny, der jetzt mit den russischen Soldaten um die sogenannte Befreiung Grosnys gekämpft hat. Er gilt als Verräter, niemand hier hat das auch nur eine Sekunde lang vergessen, doch jetzt sind die Nachrichten aus der Heimat wichtiger. Gantamirow gibt einen Lagebericht, in welchen Orten gekämpft wird und in welchen die Gefechte abgeflaut sind. Er wird nach der Situation in Gudermes, in Schali, Alchan-Jurt, und natürlich in Grosny gefragt. Er antwortet in einem Mischmasch aus russisch und tschetschenisch. Die Menschen unterdrücken ihren Zorn, eine kleine sehr alte Frau steht resigniert an der Seite.

    "Nichts ist mir geblieben, alles ist zerstört, alles ist zerbombt, aber ganz egal, ich will nach Hause, ich will, dass dieser Krieg beendet wird, dass der Frieden wieder kommt."

    Link: (Die russische Armee und die "Soldatenmütter" (5.2.2000)==>/cgi-bin/es/neu-hintergrund/172.html)