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Die Frankfurter Buchmesse 2004

Die Lesung als Großevent - am besten über mehrere Tage mit dutzenden, ja hunderten von Autoren. Das ist eine der Entwicklungen der letzten Jahre. Städte wie Berlin (Internationales Literaturfest), "Leipzig liest" zur Frühjahrsbuchmesse oder Köln (LitCologne) streiten gerne darüber, welches Festival das größte ist. Die Buchstadt Frankfurt zur Zeit der Herbstmesse kommt bei diesen müßigen Rangüberlegungen meist nicht vor - sie ist außer Konkurrenz. Zu viel, zu groß, zu unübersichtlich. Man darf einmal an diese Fülle von gelesener, gehörter, im viel beschworenen Fall: gelebter Literatur erinnern, bevor man erwähnt, dass die Buchmesse in erster Linie ein Marketinginstrument mit überwältigendem Ereignischarakter ist. Der Glanz der großen Zahl ist betäubend: Über 350.000 Bücher werden präsentiert, davon rund 80.000 Neuerscheinungen. 6.600 Aussteller aus rund 100 Ländern und 180.000 Fachbesucher aus aller Welt werden erwartet. So weit, so imposant, so üblich. Und auch die Medienausweitung - im letzten Jahr wurde erstmals das "Forum Film und TV" eingerichtet zur direkten Installation der Verwertungskette am Ursprung Buch - wird erfolgreich fortgesetzt.

Von Hubert Winkels |
    Was die deutschen Buchverlage angeht, so gibt es in diesem Jahr bislang weniger Diskussionen über Aufkäufe, Fusionen und Abspaltungen. Die Situation hat sich hier wie in der ökonomischen Entwicklung auf dem Buchmarkt insgesamt wieder etwas entspannt nach drei mageren Jahren. Interessanterweise konnten sich einige kleinere Verlage etablieren oder bemühen sich darum: Vom Schirmer & Graf Verlag aus München, angelehnt an Schirmer & Mosel bis zum Münchner Liebeskind Verlag, dem Kölner Tropen Verlag , dem Bloomsbury oder dem blumenbar Verlag. Ein Büchermarkt im Deutschlandfunk wird das Gespräch mit den neuen Verlegern suchen.

    Doch die eigentliche Besonderheit der diesjährigen Buchmesse ist ganz zweifellos der Messeschwerpunkt: Die Arabische Welt. Es bedarf nicht viel Fantasie, um die Diskussionen vorauszusehen, die sich darum ranken: von der Freiheit des Wortes in islamischen Ländern, über die interkulturellen Verwerfungen der jüngsten Zeit, die Rolle der großen Religionen in der globalisierten Welt bis hin zu Frauenrechten, dem Kopftuchverbot und anderem mehr. 212 arabische Autoren werden in Frankfurt sein. Darüber hinaus werden aber viele kommen, die nicht eingeladen sind oder auch aus den Liga-Ländern stammen, die offiziell nicht dabei sind wie Algerien, Marokko, Libyen, Kuwait und der Irak.

    Natürlich wird die arabische Kultur und Literatur, ihre Verbindung mit der westlichen Tradition, auch Thema zahlreicher Sendungen des DeutschlandRadio sein, allen voran "Die lange Nacht der arabischen Literatur" mit dem schönen Titel "Wir haben ein Land aus Worten" (s. auch Veranstaltungen) . Der Büchermarkt unter dem Titel "Den Verstand verschleiern" wird mit arabischen Autorinnen über die Situation der arabischen Frauen sprechen. Ein WortSpiel von DeutschlandRadio Berlin blickt in die zeitgenössische Literatur und arabische Verlagsszene.

    Doch wie immer werden auch deutschsprachige Autoren aus ihren neuen Werken vorlesen, vom jüngsten Büchnerpreisträger Wilhelm Genazino bis zum grotesken Erzähler Max Goldt. Es werden Gespräche geführt und Analysen versucht. Und in vielen weiteren Live-Sendungen aus unserem Gläsernen Messestudio werden verschiedene Redaktionen Aktuelles vom jeweiligen Messetag aufgreifen und kommentieren.

    Besonders hingewiesen sei auf den am Samstag stattfindenden traditionellen "Bücherherbst" (live vom 3Sat-Stand, Halle 4.1 E154). Das dreistündige exklusive Lese-Fest ist mitten im Messegeschehen ein Anziehungspunkt für Leser, Autoren, Verleger, Buchhändler und Besucher. Auch in diesem Jahr werden Autor(innen) sowie ihre neuen Bücher präsentiert. Erwartet werden unter anderem Lars Gustafsson, Peter Rühmkorf, Thomas Brussig, Sven Regener und Rafik Schami.

    Alle Beteiligten hoffen auf eine friedliche Messe. Von extremen Sicherheitsvorkehrungen wie bei den vergangenen Olympischen Spielen war noch nicht die Rede, aber die angespannte Weltlage lässt beim gegebenen Messeschwerpunkt auch hintergründige Ängste und einige akute Sorgen entstehen. Die Messeleitung, man muss es ausdrücklich anerkennen, hat sich nicht gescheut, die aufklärende und Kommunikation herstellende Funktion von Büchern und insbesondere der schönen Literatur mit dem tatsächlichen politischen Brennpunkt des internationalen Geschehens zu verknüpfen. Wenn alles friedlich verläuft, darf man allein dies schon als Erfolg werten. Am Rande: Darin drückt sich eine mit der bürgerlichen Aufklärung des Westens verbundene Vorstellung von der Grenzen und Vorurteile überwindenden Kraft der Literatur aus.