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Die Gesellschaft der Individuen

Voicebroker heißt die Gattung der Geldhändler, deren Stimme aus kleinen Lautsprechern knarrt. Die Stimme kommt aus London, dem Handelsplatz für Geld. 1.500 Milliarden Dollar werden täglich rund um den Globus gehandelt, ein Drittel davon in London, ein anderer großer Teil in Frankfurt, auch hier im größten europäischen Handelssaal bei der Commerzbank. Pier Becker erklärt, was passiert:

Michael Braun |
    Da werden gerade zwei Millionen handelt, das heißt einfach nur zwo. Das ist ein kleiner Betrag für ihn, gängige Beträge sind eher ab fünf Millionen Euro.

    Ein Piepen zeigt an: Da will jemand einen Preis wissen. Hier entscheidet die vierte Stelle hinter dem Komma darüber, ob der Geldhändler billig einkaufen kann, um anschließend etwas teurer zu verkaufen. Große Summen werden gehandelt, oft in Sekundenschnelle. Arbitrage heißt das Geschäft, das darauf aus ist, kleinste Kursunterschiede auszunutzen. Und das prägt auch das Denken am Geldmarkt. Pier Becker:

    Langfristig heißt hier ab sechs Monaten, mittelfristig bedeutet bis zu sechs Monate, ab einer Woche.

    Mittelfristiges Denken am Kapitalmarkt umfasst also Zeiträume von einer Woche oder mehr. Lang sind Zeiträume schon, wenn ein halbes Jahr überdacht werden soll. Kein Vorwurf an den einzelnen, der an solchem Arbeitsplatz sitzt. Aber kann ein System nachhaltig agieren, das in solchen Zeiträumen denkt? Norbert Walter, der Chefvolkswirt der Deutschen Bank, hat den schnellen Wechsel von Vermögensgegenständen auch an anderen Kapitalmärkten beobachtet, am Aktienmarkt etwa. Und er kritisiert, dass die Orientierung am Interesse des Aktionärs, am shareholder, zugunsten des sharehoppers aufgegeben wurde, dass also das Interesse des flotten Springers sich in den Vordergrund zu schieben scheint.

    Aber das, was halt an Finanzmärkten beobachtet wurde, und was manchmal das Zusammenschmieden von Unternehmen im Verlauf der letzten Zeit geprägt hat, war nicht die langfristige Orientierung am Interesse des Aktionärs, sondern war Bedienermentalität. Und dort, wo es Aktionärsinteresse war, wurden nur sehr kurzfristige Interessen bedient, die ich dann eben als sharehopper bezeichnet habe. Das sind Leute, die in zwei Jahren einen Reibach machen wollten und die sich nicht darum kümmerten, was danach mit dem Aktionär war oder mit dem Unternehmen. Ein Beispiel? Das wird schwieriger, da muss man schmutzige Wäsche waschen und das ist vielleicht nicht die richtige Methode. Mein Urteil, dass das oft so ist, hat damit zu tun, dass sich sowohl Berater auf dem Finanzmarkt aber auch Manager nicht mehr einbinden in eine gesellschaftliche Ethik, in eine gesellschaftliche Pflicht, dass sie sich nicht vorstellen, dass sie das, was sie getan haben, auch noch drei oder vier Jahre später vertreten müssen – in der Öffentlichkeit oder ihren Kindern gegenüber. Solche Fragen werden in meinem Urteil nicht oft genug gestellt.

    Es scheint die Frage nach Nachhaltigkeit, nach langfristiger Orientierung, nach Bindungsbereitschaft und Bindungsfähigkeit zu sein, die sich an den Kapitalmärkten stellt. Aber nicht nur dort. - Die Parteien klagen über Mangel an Nachwuchs. Zeitungen drucken Daten über das Familienleben der Deutschen unter der Überschrift: "Immer weniger haben Lust auf die klassische Familie". So wird über die sinkende Zahl von Heiraten und Geburten, über die wachsende Zahl des Zusammenlebens ohne Trauschein berichtet. Selbst in der deutschen Fußball-National-Mannschaft scheint ein anderer Geist eingezogen, wenn man dem Kolumnisten der FAZ glauben darf. Er schrieb zum WM-Auftakt über die Twens der Mannschaft wie Christoph Metzelder, Sebastian Kehl oder Frank Baumann:

    Mit der alten Klüngelwirtschaft oder gar autoritären Strukturen können diese individualistischen Unternehmer in eigener Sache nichts mehr anfangen.

    Auch Vereine klagen über weniger Mitglieder. Manche stellen sich darauf ein, passen sich an, indem sie sich eben nicht mehr als Verein mit regelmäßigen Treffen, sondern als saisonal agierende Werkstatt aufstellen.

    Winterhalbjahr 2001/2002. Die Erlöserkirche in Bad Homburg ist bekannt für ihr musikalisches Engagement, für Orgelkonzerte, für Chormusik. Zum zweiten Mal fanden sich Sänger zu einer Gospelwerkstatt zusammen. Sie probten zwischen Oktober und März für ein großes Konzert. Viele waren gekommen, weil es sich um eine Werkstatt während der Wintersaison handelte und eben nicht um einen ganzjährig probenden Gesangverein.

    Ich bin durch solche einen Workshop eher angehalten, doch zu kommen, weil ich den regelmäßigen Zwängen eines Vereins nicht unterliegen mag. Ich will die Freiheit haben, frei zu entscheiden, wann ich komme, und das sehe ich eben gerade in den Wintermonaten mit diesem Workshop eher gegeben. Ich denke mal, dass es den Interessen jedes einzelnen zugrunde liegt, ob man wöchentlich was machen will oder eher im Workshop. Das müssen die Leute entscheiden, und das ist halt schwierig abzugrenzen. Mir kommt die saisonale Tätigkeit in einem Verein entgegen, da ich mich während der Sommermonate nicht so gerne binde und während der Wintermonate eher bereit bin, mich an einen Verein zu binden oder dort zu engagieren. Ich denke, dass ich im Sommer gerne Rad fahre oder anderen Tätigkeiten nachkomme.

    Die Chorleiterin, Christiane Rust, weiß um solche Bedürfnisse und hat sich darauf eingestellt:

    Das lag ein bisschen daran, dass ich als Zielgruppe doch Schüler und Teenager im Blick hatte, und ich hatte das Gefühl, das ich die nicht mit so einer dauernden Chorprobe begeistern könnte. Ich wollte die ein bisschen fangen mit Projekten und mit einer kürzeren Probenzeit und habe den Eindruck, das kommt besser an.

    13,5 Millionen oder 17 Prozent der Menschen in Deutschland leben allein. In Ostdeutschland hat sich der Anteil der Alleinlebenden seit 1991 verdoppelt. Im April vorigen Jahres gab es, so das Statistische Bundesamt, 1,5 Millionen allein erziehende Mütter und Väter, 13 Prozent mehr als fünf Jahre zuvor. Doch der Hang zur Individualisierung, womöglich zur Bindungslosigkeit ist keineswegs neu. Nach Beobachtung von Soziologen und Sozialhistorikern hat er schon viel früher eingesetzt. Die Darmstädter Soziologieprofessorin Beate Krais zur Situationsanalyse und –genese:

    Von der frühen Neuzeit an hat sich das entwickelt. Gesellschaftliche Entwicklungen gehen langsamer voran als man denkt. Die moderne Gesellschaft ist eine der Individuen. Das wird deutlich, wenn man sie mit der Feudalgesellschaft vergleicht, die die Gemeinschaft und das Kollektiv als zentralen Wert hatte. Die moderne Gesellschaft hat das Individuum als den zentralen Wert, weil alle Individuen als individuelle Ausprägung der Menschheit gesehen werden. Damit können sie keines mehr über das andere stellen. Und damit haben Sie auch fundamentale Gleichheit als Voraussetzung.

    Auch der Frankfurter Sozialwissenschaftler Professor Michael Erler greift wenn nicht in die europäische Feudalgesellschaft, so doch ähnlich weit zurück, auf das Ende des 18. Jahrhunderts, wenn er gefragt wird, ob die Prozesse der Individualisierung und Bindungslosigkeit von den Finanzmärkten ausgehen:

    Ich bin mir nicht sicher, ob es von den Finanzmärkten ausgeht. Wahrscheinlich ist es eine Tendenz, die Sie quer durch die gesamte Gesellschaft durchgehend finden. Und ich denke auch gar nicht, dass es solch ein neues Phänomen ist. Ich glaube schon, dass das eine Entwicklung ist, ich hänge es jetzt einmal sehr weit historisch hoch, die wir spätestens haben seit der Bostoner Tea-Party, seitdem haben wir einfach diese Prozesse des Loslösens.

    Im Dezember 1773 warfen Bostoner Kaufleute eine englische Schiffsladung Tee ins Meer. Sie gehörte der Ostindischen Kompanie. Die stand kurz vor dem Konkurs. Um zu helfen, hatte der englische König der Ostindischen Kompanie Privilegien verschafft, hatte ihr erlaubt, Tee in die Kolonien zu liefern, und zwar ohne die Zölle und Steuern zu zahlen, die die Händler der nordamerikanischen Kolonien abzuliefern hatten. Die Bostoner Tea Party wurde so der Beginn des nordamerikanischen Unabhängigkeitskrieges.

    Vordergründig ist es ein ökonomisches Reaktionsmuster, aber hintergründig ist es ja so, dass die Damen und Herren in Boston ein Grundprinzip der Theoretiker des Gesellschaftsvertrages aufgenommen haben: vom Status zum Vertrag. Und genau, als der Vertrag vom König nicht eingehalten wurde, hat man den Vertrag gekündigt. Da hat man natürlich einen Bereich gewählt, wo es weh tut. Und weh tut’s immer, wenn Geld im Spiel ist.

    Die Bindungslosigkeit an den Finanzmärkten heute, der schnelle Wechsel von Positionen, das bindungslose Suchen nach dem Trend ist also nur Teil eines gesamtgesellschaftlichen Phänomens, das in Europa auch durch die Studentenbewegung der späten sechziger Jahre in eine womöglich ungewollte Übertreibung geraten ist. Norbert Walter, Chefvolkswirt der Deutschen Bank:

    Ich glaube in der Tat, dass das gesellschaftlich zugrunde gelegt ist und dass das etwas zu tun hat, was wir 68er hochtrabend Emanzipation genannt haben, was aber zum exzessiven Individualismus ausgeartet ist. Und das hat schon was mit der Auflösung von Bindungen, von Traditionen, Ordnungen, die wir Studenten am Ende der 60er-Jahre ausgerufen haben, zu tun. Und wie so oft bei gesellschaftlichen Prozessen, die ein Übel anpacken, passiert halt manchmal dann die Übertreibung – so auch hier. Aus der berechtigten Befreiung des Individuums, um seiner Kreativität, seiner Verantwortlichkeit überhaupt entsprechen zu können, ist am Ende Bindungslosigkeit geworden, Bindungslosigkeit in der Familie, dem Partner und den Kindern gegenüber, Bindungslosigkeit aber auch im Betrieb, Beliebigkeit, Permissivität.

    Vielleicht ist die Lage auch noch komplizierter, so nämlich, dass nicht Individualisierung per se den Zusammenhalt der Gesellschaft durchlöchert. Denn es gibt ja gesellschaftlich akzeptierte Werte - Toleranz, Selbstverwirklichung, Flexibilität. Aber die innere Bindungsbereitschaft an diese Werte, die Bereitschaft zu Disziplin scheint nicht mehr zu halten. Der Sozialwissenschaftler Michael Erler erklärt jedenfalls so den Niedergang des Neuen Markts, jenes Börsensegments also, das für junge Wachstumsunternehmen geschaffen worden war:

    Sie haben eine Vielfalt von Werten, aber sozusagen die subjektiv gefärbte Innenseite, die Bezugsgrößen, die sind austauschbar geworden. Wir stehen vor dem Prinzip des Durchbrechens von Regeln. Und wenn die Werte nicht auf dem bestimmten Weg erreichbar sind, siehe Neuer Markt, dann ist man an dem Punkt angelangt, dass man auch Bilanzen verfälscht. Die Werte sind da, die Bindungen sind nicht mehr fest. Wir geraten in das Problem, vieles ist beliebig.

    Alles hoffnungslos also? Soziologiestudenten an der TU Darmstadt haben sich in diesem Semester mit dem Thema "Die Gesellschaft der Individuen und neue Formen der Vergemeinschaftung" befasst. Die Professorin, Beate Krais, lenkt mit diesem Thema die soziologische Neugier der Studenten zum Beispiel auf Skateboard- oder BMX-Fahrer, Menschen also, die einem Individualsport frönen, und dies natürlich nicht im Verein.

    Hier haben wir ein typisch modernes Phänomen, nix ist mit Zusammenhalt und Vergemeinschaftung. Aber unser soziologischer Spürsinn sollte ja darauf gehen herauszufinden, inwiefern auch bei diesen Formen Elemente von Vergemeinschaftung vorhanden sind und wo sich die möglicherweise zeigen. Und ich finde, dass das Material wunderbar erhoben ist, das Frau Graf da präsentiert hat, und das man da viele Sachen sehen kann.

    Die Studentin Angela Graf ist auf Skateboard-Plätze gegangen und hat den Skatern und BMX-Fahrern ihren Fragebogen hingehalten.

    Das heißt, da haben 14-, 15-Jährige ohne weiteres mit 24-Jährigen trainiert, und die Frage war: Stellt sich da irgendwo eine Hierarchie raus? Sind die Älteren oder die Besseren eher die, die das Sagen haben? Haben sich die Jüngeren beziehungsweise die Anfänger eher zu fügen ? Als wir die Frage den Skateboard- und BMX-Fahrern gestellt haben, war eigentlich äußerst überraschend, dass sie eigentlich alle befürwortet haben, mit Jüngeren zu trainieren. Sie haben alle gesagt: "Ja, wir finden es toll, wir finden es gut, wenn Jüngere dabei sind, wir helfen denen auch gerne, wir zeigen denen auch gerne was. Denn: Schließlich hat ja jeder mal klein angefangen." Das war so ein Satz, der immer wieder aufgetaucht ist, und auch der Begriff "family" ist ganz oft genannt worden. Also, sie begreifen sich da schon irgendwie als Einheit, die zusammenhalten muss, zusammen agieren muss, und vor allem, die sich komplett über Altersstrukturen hinwegsetzt. Aber, sie fühlen sich dennoch nicht als Freunde. Sie sind darüber hinaus in keiner Form irgendwie gebunden.

    Auch die unorganisierten, individualisierten Skater also schaffen sich ihre Identifikationsmerkmale. Sie durchbrechen alte Bindungen, etwa die eines Vereins, pflegen aber nicht Bindungslosigkeit. Und selbst die Wirtschaft merkt, dass sie ohne Bindung nicht auskommt. Kundenbindung ist namentlich in der Autoindustrie und im Handel ein immer wichtigeres Thema. Der Marketingberater Robert Kleinhenz aus Oberursel bei Frankfurt über die Beweggründe seiner Kunden:

    Die Entwicklung der Märkte in Richtung Käufermärkte weg vom Verkäufermarkt, bedingt, dass der Kunde immer mehr in den Vordergrund rückt und auch immer mehr von den Unternehmen gebunden werden muss, um am Markt erfolgreich zu agieren. Die Produkte werden immer ähnlicher, austauschbarer, was dazu führt, dass ich spezielle Punkte setzen muss, um meine Kunden an das Unternehmen zu binden. Es gibt verschiedene Ansätze dazu. In jedem Fall ist es wichtig, mit dem Kunden in einen Dialog zu treten. Das kann verschiedene Formen haben. Das beginnt bei Direct-Mail-Aktionen, geht weiter über Gewinnspiele oder über Aktionen am Handelsplatz, zum Beispiel durch spezielle Kundenevents, um dem Kunden eine emotionale Bindung an ein Unternehmen oder an ein Produkt oder an eine Marke zu geben.

    Kundenbindung kann bis zum Kundenausschluss gehen. Wer kürzlich John Grishams neuen Roman "Die Farm" kaufen wollte, der sich im Schaufenster des Buchladens stapelte, wurde abgewiesen, zumindest dann, wenn er nicht Mitglied im Buchclub war. Der hatte sich den exklusiven Verkauf der Erstausgabe für seine Mitglieder gesichert. Wer nicht an den Club gebunden ist, muss auf Grishams Farm bis Jahresende warten. Das hat verärgert, das schafft aber auch Hoffnung, Hoffnung darauf, dass Bindung als Wert wider entdeckt wird. Und auch die wiederholte Kurskrise an der Börse lässt sich als Zeichen der Besinnung deuten. Norbert Walter von der Deutschen Bank darüber, ob Wirtschaft, Unternehmen und Märkte die Krise der Bindungslosigkeit überwinden können:

    Mit Sicherheit wird es gelingen, aber möglicherweise nur über den Fall pathologischen Lernens, über eine Krise. Wir beobachten dann, wenn wir alle uns als Egomanen verwirklicht haben, dass das Ganze, unser Gemeinsames, zusammenbricht, und stellen dann fest, dass es so nicht weitergeht. Es wäre natürlich schön, wir hätten einen konstruktiveren Weg aus dem Dilemma. Und so etwas gibt es. Früher gab es so etwas wie strategische Eigentümer von Unternehmen, die nicht das nächste Quartal, sondern die nächsten zehn Jahre im Sinn hatten. Und es spricht einiges dafür, dass es auch heute solche Interessen geben könnte. Zum Beispiel könnte es sein, dass diejenigen, die Pensionssondervermögen verwalten, die also für die Altersversorgung derer, die die Mittel bei ihnen abliefern, Sorge zu tragen haben, solche längerfristigen Zeithorizonte für ihre Entscheidungen zugrunde legen und damit natürlich auf das Management im Sinne Einfluss nehmen, der die nachhaltige Unternehmensentwicklung zum Ziel hat, und nicht das nächste Quartal zum Maßstab aller Dinge macht. Also Pensionsfonds, die in Zukunft statt der amorphen Masse von Aktionären in Hauptversammlungen auf Unternehmenspolitik und Unternehmensentscheidungen konstruktiv einwirken können. Das wäre eine der Hoffnungen, die man haben kann.

    Den Weg dahin muss freilich die Politik ebnen. Das kann ganz konkret geschehen: Dass Einkommen aus Kursgewinnen steuerlich besser behandelt werden als Einkommen aus anderer Arbeit, dass Buchhaltungsvorschriften nicht darauf achten, dass nur nachhaltige Wertveränderungen in einer Bilanz Eingang finden sollen, das alles sorgt für Kurzatmigkeit. Und davon haben wir zuviel.