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Die graue Verweigerung

Wir sehen uns im Schwarzen Rahmen wieder. Mit diesem lakonischen Satz verabschiedeten sich noch vor Jahren die zukünftigen Rekruten beim Abitur. Heute herrscht Fahnenflucht, sozial verteilt scheint die Loyalität mit dem wehrhaften Staat, ein Viertel aller Wehrpflichtigen drückt sich um die Rekrutenzeit. Haggai Matar, geboren 1984, wollte diesen Weg nicht gehen.

Der Friedensaktivist Haggai Matar im Gespräch mit Jochanan Shelliem |
    Als ich ihn 2002 zum ersten Mal traf, sah er aus wie ein Blumenkind aus San Francisco , mit Sommersprossen, roten Locken, Bart und hellen wachen Augen. Er werde, sagte er, auf einem workcamp der israelischen Bürgerrechtsorganisation Ta'ayush, nach dem Abitur seinen Wehrdienst nicht klammheimlich verweigern, sondern sein Recht auf Verweigerung einklagen. Was mit Haggai Matar und sieben Schulabgängern im Herbst 2002 begann, entwickelte sich zunächst zu einem Protest von 350 Jugendlichen, die einen Brief an Ariel Scharon verfassten, indem sie ihrem ersten Dienstherrn die Loyalität aufkündigten. Bis dahin hatte die vereinzelten israelischen Wehrdienstverweigerer eine Routineprozedur erwartet: einzeln wurden sie bis dahin inhaftiert und nach zwei, drei Monaten routinemäßig aus der Haft entlassen.

    Mit der Bewegung der Sh'ministim von Haggai Matar und seinen Freunden wurde aus dem individuellen Protest ein medienwirksames Massenphänomen. Dabei stammt Haggai Matar aus einer zionistischen Familie, in deren neunzigjähriger Geschichte sich seine Eltern, wie Großeltern beim Militärdienst fanden. Im Gespräch berichtet er von der Stimmung in Israel, der Jugendbewegung der Sh'ministim und seiner Haft von letztendlich 24 Monate in israelischen Militärgefängnissen und über die Grauen Verweigerung, in der heute ein Viertel jeden Jahrgangs den israelischen Wehrdienst auf vielfältige Weise umgeht. Ein Gespräch über die Erosion des "Allerheiligsten" in Israel: den Loyalitätsverlust den die israelische Armee als Schmelztiegel und Schild der israelischen Demokratie seit geraumer Zeit erleiden muss.

    Jochanan Shelliem: Haggai Matar, Schulabsolventen pflegten sich in den vergangenen Jahrzehnten mit einem zynische Satz voneinander zu verabschieden. "Wir sehen uns im Schwarzen Rahmen wieder," sagten Sie vor Antritt ihrer Rekrutenzeit. Wie hat sich das Verhältnis zu Wehrdienst und Militär verändert, wenn man sich die letzten beiden Generationen, also die Ihre und die Ihrer Eltern, ansieht. Zu Anbeginn des Staates Israel galt die israelische Verteidigungsarmee als Schmelztiegel, in dem sich die Jugend der verschiedenen Einwandererströme kennen lernen und zu einem neuen Menschen, dem Israeli vereinigen würde. Wie hat sich dies für Sie und ihre Klassenkameraden verändert.

    Haggai Matar: Als ich zum Wehrdienst einberufen wurde, habe ich das Militär nicht mehr in diesem Licht gesehen. Ich hatte zu dieser Zeit bereits einiges erlebt, das mir die Illusionen über die Rolle der Armee geraubt hatte. Ich hatte die Streitkräfte in den besetzten Gebieten schreckliche Dinge machen sehen, sodass sie mir nicht mehr als wünschenswerte Erfahrung erschien.

    Auch die israelische Elite, die in der dritten Generation im Lande lebt, empfindet die Armee nicht mehr als den Schmelztiegel von einst, wo man auf andere Gruppen der Gesellschaft trifft, sich aneinander reibt und so einen Konsens herstellt. Das ist heut nicht mehr so, doch dieses Bild enthält bereits ein paar ernste Probleme. Wenn die Armee als Schmelztiegel das einzige ist, was die israelische Gesellschaft eint, so deutet dies auf ein Identitätsproblem im Land hin. Zugleich schließt diese Selbstdefinition ein Fünftel der Gesellschaft aus, denn die israelischen Araber gehen nicht zum Militär und die Ultra-Orthodoxen Juden absolvieren keinen Wehrdienst - sie gehören also auch nicht dazu.

    Doch selbst beim Militär findet sich eine innere Hierarchie: Männer zählen mehr als Frauen. Frauen verrichten in der Armee zumeist Schreibtischarbeiten. Sie sind nicht so wichtig wie die Männer. Auch bei den Männern zeigt sich eine innere Hierarchie: Da gibt es Offiziere und einfache Soldaten, Kämpfer auf dem Schlachtfeld und Befehlshaber, wenn man sich diese Gesellschaft genau ansieht, bleibt nicht mehr viel. Der Mythos aber ist auch heute noch sehr stark in Israel. Viele glauben nach wie vor an ihn, vor allem Neueinwanderer und Arme, doch die Elite hat sich abgesetzt. Dort lässt die Wirkung nach, hier sieht man sich bereits als Israeli, man ist im Land geboren, die Eltern sind es auch, man ist bereits, was andere werden wollen, blickt auf die Armen der Gesellschaft herab. Neueinwanderer erhoffen sich vom Wehrdienst ihrer Kinder soziale Anerkennung in dem neuen Land. Die Kinder armer Israelis hoffen auf einen Aufstieg durch das Militär.

    Shelliem: Lassen Sie uns dieser Entwicklung in drei Schritten folgen, welche Rolle hat die israelische Armee für Ihren Großvater gespielt, woher ist er eingewandert, wo ist er geboren worden?

    Matar: Meine Großeltern sind alle beim Militär gewesen. Geboren worden sind sie 1917, 1919 und in den Zwanzigern des vergangenen Jahrhunderts. Einer meiner Großväter hat als Spion für Josef Stalin in der deutschen Wehrmacht überlebt, bevor es ihm gelang sich nach Palästina durchzuschlagen. Wie den meisten Einwanderern erschien meinen Großeltern nach ihrer Einwanderung aus Osteuropa der Dienst in der israelischen Armee als etwas selbstverständliches. Übrigens haben sich zwei meiner Großeltern, ebenso wie meine Eltern selbst beim Militär kennen gelernt. Für sie gab es keine Alternative zum Wehrdienst. Sie haben alle in derselben militärischen Spezialeinheit gedient, in der sich meine Großeltern kennen gelernt hatten. Da gab es Anfänge einer Familientradition.

    Shelliem: Was ist das für eine Einheit gewesen?

    Matar: Eine Einheit im Nachrichtendienst. Unsere Familie erwartete, dass auch ich, wenn ich eingezogen würde, mich bei dieser Einheit meldete; doch heute sehen meine Eltern und zwei meiner Großeltern die Lage als verändert an. Und manchmal sagen sie, dass sie, hätten Sie damals all das gewusst, was sie heute wissen, verweigert hätten.

    Shelliem: Hat es denn für die Generation Ihre Großeltern die Option gegeben zu verweigern? Ihre Großeltern dürften im Unabhängigkeitskrieg 1948 gekämpft haben, ihre Mutter, die 1950 geboren worden ist, hat im Sechstagekrieg oder 1973 im Jom Kipur Krieg gekämpft. Galt da nicht ein Verweigerer als geisteskrank, der nicht mal ins Gefängnis eingesperrt worden wäre, sondern in ein Sanatorium kam?

    Matar: Als meine Großeltern zur Armee gegangen sind, auch als meine Eltern zum Militär gegangen sind, gab es keine Verweigerer. Der Gedanke war tabu, eine Option, den Waffendienst zu verweigern, hat es nicht gegeben, ganz unabhängig vom sozialen Preis. 1956 gab es vielleicht zwei Leute, die in den Waffendienst in Israel verweigert haben.

    Shelliem: Was geschah mit ihnen?

    Matar: Sie kamen ins Gefängnis. 1971 hat es einen einzigen Verweigerer gegeben. Die eigentliche Bewegung der Wehrdienstverweigerer begann erst nach dem Krieg im Libanon 1982. Das war das erste Mal, dass die Verweigerung des Wehrdienstes als Bewegung in der israelischen Gesellschaft auftrat. Zuvor war eine solche Haltung, eine derartige Entscheidung sozial ganz einfach undenkbar gewesen.

    Shelliem: Mit welchen Argumenten, an welchen historischen Momenten hat sich die Bewegung der Wehrdienstverweigerer entzündet? Für mich, wie andere jüdische Jugendliche in der Diaspora galt General Moshe Dayan nach dem Sechs Tage Krieg als Held. Lange hat sein Portrait durch die Glastür von meinem Kleiderschrank gestrahlt. Wann hat er für Jugendliche in Israel an Faszination verloren?

    Matar: Um vielleicht ein paar Schritte zurückzugehen. Es ist traurig aber wahr, dass sich die Bewegung der Verweigerer nicht 1948 entwickelt hat. Den Krieg von 1948 nennen wir heute die Mutter aller Sünden. Der zionistischen Bewegung gelang es, 1948 eine Million Palästinenser aus dem Land zu jagen. Menschen sind mit Lastwagen aus dem Land abtransportiert, Massaker fanden statt. Doch eine soziale Bewegung von Kriegsdienstverweigerern hat es nicht gegeben.

    Die ersten Verweigerer - es sind zwei - treten vor dem Krieg von 1956 auf. Doch das ist für die Bewegung nicht entscheidend. Entscheidend war der Brief der Oberschüler von 1970, als einige Sh'ministim drei Jahre nach dem Sechs-Tage-Krieg zum Friedensschluss mit Ägypten aufgerufen haben. Ägypten wollte damals die Wüste Sinai gegen einen Friedensvertrag eintauschen und die Oberschüler schrieben Golda Meir: "Wenn Sie das Angebot aus Kairo nicht annehmen, wird ein neuer Krieg ausbrechen und unser Blut wird auf den Händen der Premierministerin zu sehen sein." Es ist zwar nur eine kleine Bewegung gewesen, die Golda Meir geschrieben hat, doch das ist ein sehr wichtiger Moment.

    Shelliem: Warum sprechen Sie dabei von den Sh'ministim?

    Matar: Sh'ministim ist ein anachronistischer Begriff. Im Hebräischen bezeichnet er die Oberschüler, die in der achten - in Israel der letzten - Klasse in der Oberschule sind und die dreijährige Grundausbildung vor Augen haben.

    Matar: Der wichtigste Moment aber kam mit dem Libanon Krieg von 1982. Der Einmarsch in den Libanon wurde von Vielen als ungerecht empfunden. Er hat der Kriegsdienstverweigerung in Israel den größten Impuls gegeben. Jesh Gvul heißt auf hebräisch "Es gibt eine Grenze" - gemeint war die geographische Grenze, wie die moralische. Jesh Gvul, die damals größte Organisation, hat sich 1982 gegründet. Gadi Algazi ging damals ins Gefängnis, von da an galt Verweigerung als eine mögliche Option. Für uns ist dieses Datum noch nach 25 Jahren entscheidend.

    Shelliem: Die damaligen Kriegsdienstverweigerer haben sich gegen den Einmarsch in den Libanon gewehrt?

    Matar: Damals war man bereit, seinen Wehrdienst zu leisten, doch diesen unnötigen Krieg im Libanon haben viele nicht unterstützen wollen. Von diesem Augenblick an wuchs die Bewegung. Die Leute fingen an, den Wehrdienst in den besetzten Gebieten zu verweigern, manche verweigerten den Militärdienst generell. Und dann kam die Entspannung in den Neunzigern, die mit keiner Ausweitung der Bewegung einhergegangen ist. Doch die Menschen fingen an, den Wehrdienst zu umgehen. Man kann verweigern oder andere Wege einschlagen, um nicht eingezogen zu werden. Es galt sozial nicht mehr als obligatorisch, zum Militär zu gehen. Und dann kamen unsere Verhandlungen, unser Gerichtsverfahren im Herbst 2002 und die Verhandlungen, die anschließend folgten, dazu der Fakt, dass Leute hier zum ersten Mal lange im Gefängnis saßen, mehr als zwei Jahre, länger als jeder Wehrdienstverweigerer zuvor, das hat uns auch die Aufmerksamkeit der Medien verschafft, sodass sich die Bewegung vergrößert hat.

    Shelliem: Wann haben Sie sich entschieden, nicht zur Armee zu gehen?

    Matar: Es hat keinen bestimmten Augenblick gegeben, der meinen Lebensweg verändert hat.

    Shelliem: Wann und wo sind Sie geboren worden?

    Matar: Ich wurde1984 in der Nähe von Tel Aviv geboren. Und als ich in Israel aufwuchs, nahm ich ganz selbstverständlich an, dass ich nach dem Abitur zum Militär gehen würde. Später bin ins Westjordanland gefahren, ich sprach mit Palästinensern, ich habe Dinge gesehen, die mir nicht gefallen haben. Und ich beschloss, dass ich mich an derlei Aktionen nicht beteiligen wollte.

    Shelliem: Konkret?

    Matar: Ich habe Armeebulldozer Häuser niederreißen sehen. Ich sah, wie Soldaten Ortschaften abgeriegelt haben, sah Landnahmen, ich sah wie Bäume entwurzelt worden sind und Friedensaktivisten angegriffen und verhaftet worden sind. Das alles wollte ich nicht tun. Ich habe den Wehrdienst im Westjordanland verweigern wollen, weil mir das Verhalten der Militärs dort nicht als legitim erschien. Doch bald wurde mir klar, dass ich diese Kriegsverbrechen auch dann decken würde, wenn ich mich drei Jahre lang auf irgendeinem abgelegenen Stützpunkt langweilte. Allein durch mein Verhalten, durch meine Zugehörigkeit zu dieser Institution, dadurch, dass ich die Uniform anzöge, auch wenn ich mich auf diesem Stuhl nicht rühren würde - das ist es, was manche Leute tun - würde ich die Armee unterstützen, ihre Taten legitimieren und mich als Teil dieser Organisation definieren, der ich nicht angehören wollte, so kam ich zu meinem Entschluss.

    Shelliem: Wie unterscheiden sich die Beweggründe orthodoxer Juden von den Ihren, den Militärdienst zu verweigern. Soweit ich die Fünf Bücher Mose kenne, dürften das doch keine pazifistischen Gründe sein, denn in der Bibel werden vielerlei Waffen eingesetzt.

    Matar: Die Ultra-Orthodoxen verweigern nicht aus pazifistischen Gründen. Es gibt eine Vereinbarung, die von der Knesseth abgezeichnet worden ist. Sie sind vom Wehrdienst befreit, weil das Studium der Thora und der Gebete als genauso wichtig angesehen wird, wie die militärische Verteidigung. Dadurch, dass sie studieren, stärken sie den jüdischen Charakter der Nation, und wenn sie dies tun, müssen sie nicht zur Armee.

    Shelliem: Was waren Ihre Argumente, den Wehrdienst zu verweigern. Als wir uns im Sommer 2002 zum ersten Mal gesprochen haben, lag ihr Schulabschluss gerade hinter Ihnen.

    Matar: Drei Monate nachdem wir uns zum ersten Mal gesprochen haben, bin ich zu drei Monaten Gefängnis verurteilt worden. Ich wusste, dass das auf mich zukommen würde - ich hatte mit Freunden gesprochen, die bereits im Militärgefängnis saßen - das heißt, ich hatte gedacht, ich wüsste, was auf mich zukommen würde: andere Wehrdienst-verweigerer waren vor mir zu zwei oder drei Monaten Gefängnis verurteilt worden. Es gab da eine Standart Prozedur, denn bis dahin hatten die meisten, die verweigert hatten, dies mit persönlichen Argumenten getan. Sie hatten jeder für sich verweigert. Sie waren nicht als Teil einer Bewegung aufgetreten, die die Moral des Militärs infrage stellte.

    Shelliem: Geben Sie mir ein Beispiel.

    Matar: Ihre Argumente hatten sich nicht von unseren unterschieden, sie waren aber einzeln aufgetreten. Sie waren einzeln zu ihren Offizieren hingegangen und hatten wegen der Besatzungspolitik oder aus anderen Gründen einzeln ihren Dienst verweigert, einzeln waren sie verurteilt worden und nach zwei, drei Monaten kamen sie in aller Stille aus dem Gefängnis frei. Bei mir und meinen Freunden war anders. Wir hatten uns organisiert, wir schrieben eine Brief an Ariel Sharon und gingen an die Presse, alle sprachen darüber...

    Wir schrieben in dem Brief an Ariel Scharon, dass wir gemeinsam, also ein paar hundert Oberschüler, den Wehrdienst verweigern würden, weil sich die Armee im Westjordanland und in Gaza an Kriegsverbrechen beteilige. Wir schrieben auch, dass die Besatzung die Beziehungen zwischen den Palästinensern und den Israelis beschädige und uns als einzig adäquate Lösung erschien, die Besatzung aufzugeben, um zu einem Frieden zu gelangen. Das war für die Armee zuviel. Sie sah sich auf einmal Wehrdienstverweigerern gegenüber, die nicht einzeln auftraten, sagten, ich habe ein persönliches Problem, sondern die kollektiv auftraten und zu den Medien gingen und alle sprachen drüber. Auch als wir unsere Haft antreten mussten, waren die Medien da und gaben bekannt, wie lange wir einsitzen mussten.

    Shelliem: Insgesamt sind es zwei Jahre geworden.

    Matar: Die Prozedur, die es zuvor, bei uns und auch danach wieder gegeben hat, ist, dass man sich zur Einberufung meldet und mit der Meldung als Soldat betrachtet wird. Die Armee ist der Ansicht, dass niemand sich weigern kann, Soldat zu werden. Die Wehrdienstverweigerung wird als Befehlsverweigerung im Dienst bestraft. Dieser Ungehorsam wird dann durch ein normiertes Verfahren sanktioniert. Die Strafen sind bekannt, und wenn das Höchstmaß einen Monate Haft beträgt, dann wird man zu zwei bis vier Wochen Gewahrsam verurteilt. Nach Ablauf der Zeit im Gefängnis tritt man wieder vor seinen Offizier und wird wieder gefragt, ob man seinen Militärdienst jetzt doch antreten will. Will man es nicht, geht alles wieder von vorne los. In der Vergangenheit wäre das so zwei, drei Runden gegangen. Vielleicht auch vier und nach der letzten wäre man entlassen worden.

    Mit diesen Erwartungen habe ich meine erste Haft im Militärgefängnis angetreten. Ich wurde dann ein zweites Mal verurteilt, danach ein drittes, viertes, fünftes Mal, alles begann sich hinzuziehen. Und dann veränderten die Offiziere ihre Strategie, anstatt mich wieder meiner Einberufungsstelle vorzuführen, stellte man mich und meine Freunde vor ein ordentliches Militärgericht. Dieses Verfahren dauerte dann zehn Monate. Am Ende stand ein Urteilsspruch, der uns für ein Jahr hinter Gittern schickte, ohne Anrechnung unserer Untersuchungshaft, sodass unsere Strafe insgesamt zwei Jahre betragen hat, ganz einfach aus dem Grund, dass sich die Armee durch die wachsende Bewegung der verweigernden Oberschüler angegriffen fühlte und die politischen Aussagen der Verweigerer unterbinden wollte. Das Militär demonstrierte mit unserem Verfahren seinen Anspruch, dass jeder seiner Einberufung Folge zu leisten habe. Und wir versuchten durch die Arbeit mit den Medien unsere Kritik an der Besatzung loszuwerden.

    Matar: Kernpunkt des Verfahrens war die Gewissensfreiheit, die wir als allgemeines staatsbürgerliches Recht für uns in Anspruch nahmen, während die israelischen Militäranwälte uns in Einklang mit dem Obersten Gericht als politische Verweigerer ansahen, weil sie die Immoralität der Besatzung nicht einsahen. Für das Gericht ist die Verweigerung aus Gewissensgründen eine rein pazifistische Entscheidung. Eine Entscheidung, die jegliche Gewaltmaßnahme ausschließen muss. In unserem Verfahren hat einmal jemand gesagt, dass man einen Pazifisten daran erkennen könne, das er in der Sonne glitzern müsse, wie ein Diamant, so rein müsse ein Verweigerer aus Gewissensgründen sein, um anerkannt zu werden. Während wir darauf insistierten, dass das Militär bei der Besatzung internationales Recht bräche und Kriegsverbrechen Vorschub leiste.

    Shelliem: Inwiefern Kriegsverbrechen?

    Matar: Zum einen, indem nicht die israelische Armee, sondern die israelische Regierung Land annektiert und jüdische Siedlungen im Westjordanland errichtet. Gemäß der vierten Genfer Konvention ist es illegal, Zivilbevölkerung in einem besetzten Gebiet anzusiedeln. Israel verfolgt diese Politik jedoch in den letzten dreißig Jahren. Man könnte das als nicht so schrecklich ansehen, doch es ist schrecklich, weil diese Politik eine ganze Reihe von Folgeerscheinungen nach sich zieht. Zum einen benötigt diese Politik palästinensisches Land, zum anderen verlängert es die Besatzung, sie führt zu Angriffen der Palästinenser auf die neu errichteten jüdischen Siedlungen, weswegen die Armee wiederum ihre Präsenz verstärken muss, was weitere Kriegsverbrechen nach sich zieht, wozu die kollektive Bestrafung, wie der Belagerungszustand oder die Bombardierung aus der Luft gehören. Die völlige Zerstörung des zivilen Lebens in der Westbank ist die Folge dieser Politik. Mittel zum Zweck sind die Grenzanlagen, die Checkpoints, die Ausgangssperren und die Zerstörung der palästinensischen Infrastruktur.

    Die rein rechtliche Argumentation ist uns jedoch nie per se wichtig gewesen. Unser Hauptargument war, dass wir die Besatzung als unmoralisch empfunden haben: sie ist den Palästinensern gegenüber mörderisch, führt zu derartigem Leid, dass wir uns nicht daran beteiligen wollen, und sie erfüllt nicht einmal die formalen Ziele der israelischen Armee, die vorgibt, die Besatzung zur unserer Verteidigung aufrechtzuerhalten.

    Ganz im Gegenteil, die Anwesenheit des Militärs unterdrückt die Palästinenser immer stärker, womit ihr Hass weiter wächst, während die Chancen für eine Verständigung schrumpfen, sodass es das Beste für alle ist, wenn wir unsere Teilnahme an der Besatzung verweigern und, anstatt zu kämpfen, mit den Palästinensern zusammenarbeiten. Das ist der Kern unserer Argumentation. Daneben ist unsere Verweigerung auch als eine Demonstration gegen den Militarismus zu verstehen, der die israelische Gesellschaft seit der Staatsgründung dominiert.

    Shelliem: Auf welche Weise?

    Matar: Das Militär gilt nach wie vor als Schmelztiegel der Gesellschaft. In der israelischen Gesellschaft erscheint es als Konsens, dass man seiner politischen Meinung nur dann Gewicht verleihen kann, wenn man sie durch die Zugehörigkeit zum Militär legitimiert. Vor allem wenn man ein Offizier oder ein durch die Schlacht geadelter Kämpfer ist. Nur dann ist man legitimiert, die Armee zu kritisieren. Die israelischen Schulen sind mit militärischem Gedankengut angefüllt, sie sind voller Soldaten, die dort als Lehrer tätig sind.

    Shelliem: Was tun sie dort?

    Matar: Man nennt sie Soldaten-Lehrer, sie helfen den Kindern bei ihren Hausaufgaben, arbeiten in den Fächern als normale Lehrer, doch sie erzählen den Schülern auch, wie wichtig es ist, zum Militär zu gehen. Es gibt auch Offiziere, die in Schulen gehen und den Schülern von dem Vermächtnis der Verteidigungsarmee erzählen, von den Meriten mutiger Soldaten, die unser Land gerettet haben. Schon in der ersten Klasse schreiben die Kinder, kaum dass sie schreiben können, Soldaten einen Brief. "Lieber Soldat, ich danke Dir, dass Du mein Land gerettet hast. Ich habe Dich sehr lieb." Das Militär ist in unseren Schulen sehr präsent.

    Hinzu kommt der Lehrplan im Geschichtsunterricht. Wenn es um jüdische Geschichte geht, um die Verfolgung von Juden, dann beschleicht einen das Gefühl, dass der Antisemitismus sich nicht als ein Problem im Kontext eines politischen Zusammenhangs darstellt, als ein soziale Reaktion, die sich analysieren ließe. Es wird nicht offen und direkt gesagt, doch der Antisemitismus wird wie ein natürliches Phänomen beschrieben. Immer schon seien Juden verfolgt worden, die Menschen würden es auch immer wieder tun. Der einzige Weg, dem zu begegnen, bestünde darin, zur Armee zu gehen.

    Die Angriffe palästinensischer Terroristen beispielsweise, auch die Angriffe von arabischen Nationen werden in diesen Kontext gepresst, ihre politischen Motive werden nicht analysiert, im Unterricht wird nicht untersucht, was in Palästina geschieht. Die Folgen der Besatzung werden nicht thematisiert. Die Angriffe erscheinen lediglich wie eine weitere Facette eines weltweit verbreiteten Antisemitismus. Wenn man die Welt mit diesen Augen sieht, dass die Palästinenser uns also das antun wollen, was Hitler schon versucht hat, uns anzutun, dann bleibt nur eine Lösung: das Militär. Natürlich gehe man mit Freude zur Armee, ansonsten drohe uns Auschwitz.

    Shelliem: Haggai Matar, vor Gericht haben sich die Sh'ministim zu fünft für ihre Totalverweigerung verantworten müssen. Was ist aus der Bewegung geworden, die doch mit großer Geste angetreten war und den Staat attackiert hat.
    Matar: Auch wenn wir nur einige Hundert in einem Rekrutenjahrgang von einigen Zehntausend gewesen sind, sah die Lage folgendermaßen aus. In unserem Brief an Ariel Scharon hatten wir erklärt, dass wir den Wehrdienst - jeder auf seine Weise - verweigern wollten.

    Einige wollten den Wehrdienst ganz explizit in jeder Form verweigern - das war auch meine Position - andere wollten nicht als Besatzer in der Westbank dienen. Einige aus der Bewegung wählten einen dritten Weg: Sie wollten wie viele Israelis den Wehrdienst nicht ausdrücklich verweigern, sondern umgingen ihn. Man nennt das heute in Israel "Die Graue Verweigerung." Bevor man eingezogen wird, sucht man aus ganz verschiedenen Gründen einen Psychologen. Ob es sich dabei um politische Argumente handelt oder man den Wehrdienst als reine Zeitverschwendung ansieht, spielt keine Rolle. Es ist bekannt, was man zu sagen hat und was der Psychologe sagen wird, ist auch bekannt. Auch das Ergebnis ist bekannt, man wird von dem Wehrdienst befreit. Das ist ein leichter Weg, den Wehrdienst zu umgehen.

    Zum Zeitpunkt unserer Verweigerung war es so, dass die Frauen - also die Hälfte eines Jahrgangs - vor vier Jahren noch bei einer Verweigerung aus Gewissensgründen ganz automatisch vom Wehrdienst befreit worden sind. Das hat sich geändert. Heute müssen auch sie ins Gefängnis, doch damals kamen die Frauen in unserer Bewegung sofort frei.

    Das waren also unsere Optionen. Aufgrund des Medienechos auf unsere Verweigerung beschloss die Armee, nachdem wir ein paar Mal für jeweils einen Monat in ein Militärgefängnis gesteckt worden waren, wo wir unsere Entscheidung überdenken sollten, an einigen Wehrdienstverweigerern ein Exempel zu statuieren und so kam es zu unserem Prozess.

    Shelliem: Geben Sie mir eine Zahl, von wie viel Verweigerern sprechen wir. Wie viel der Jugend eines Jahrgangs sind betroffen gewesen?

    Matar: Die Bewegung der Sh'ministim hat sich durch den Brief an Scharon definiert. Wenn ich mich recht erinnere, haben ihn 350 Leute unterschrieben. Das war der Brief an den Premierminister, in dem wir, wie ich bereits ausgeführt habe, unsere Argumente aufgelistet haben.

    Shelliem: Wie viele werden jährlich eingezogen?

    Matar: Der Wehrdienst in Israel umfasst normalerweise mehrere zehntausend Menschen.

    Shelliem: Prozentual stellten die Wehrdienstverweigerer insofern keine große Zahl.

    Matar: Unsere Bewegung - die Bewegung der Sh'ministim - ist prozentual gesehen, nicht sehr stark gewesen. Was aber auffällt, ist, dass heute ein Viertel jedes Rekrutenjahrgangs das Militär umgeht. Das ist sehr viel. Politische Überlegungen spielen dabei oft gar keine Rolle. Zu diesen 25 Prozent gehören die arabischen Israelis, denen das Militär verschlossen bleibt, zwar ebenso, wie die Ultra-Orthodoxen, die das Thorastudium dem Waffendienst vorziehen, doch wächst die Anzahl derer, die einfach keine Lust mehr haben, ihre Zeit mit dem Wehrdienst zu verschwenden. 25 Prozent aller Israelis gehen gar nicht mehr zum Militär und weitere 25 Prozent verlassen es in ihrem ersten Rekrutenjahr. Insofern ist es heute eine Legende, dass alle in Israel den Militärdienst leisten und es kommt noch ein Phänomen hinzu, das mir erst vor kurzem klar geworden ist, als ich einen Artikel über den Militarismus in der israelischen Gesellschaft schrieb und den Sprecher der Israelischen Verteidigungsarmee um Zahlen bat.

    Als ich die offiziellen Informationen der Armee schließlich in Händen hielt, hatte ich meinen Artikel bereits geschrieben, doch als ich mir die Zahlen genauer betrachtete, war ich schockiert. Es geht um die Selbstmordrate in der israelischen Armee. Ich hatte ähnliches erwartet, doch das Ergebnis übertraf meine Befürchtungen bei weitem. Wenn man vom Libanon Krieg im letzten Sommer absieht und die Zahlen der Jahre 2000 bis 2007 zu Rate zieht, sieht man, dass mehr Soldaten während ihrer Wehrpflicht durch Selbstmord umgekommen sind als durch Unfälle, Krankheiten und die Anschläge von Palästinensern zusammen. Dieses Zahlenverhältnis bleibt über Jahre konstant. Was ein Licht auf den Druck beim Militärdienst wirft.