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Die Griechen, das Pferd und Troja

Matthias Hartmann adaptiert den ältesten verschriftlichten europäischen Mythos "Das Trojanische Pferd" am Burgtheater in Wien. Dabei erzählt er die Geschichte von Zerstörung vom ganz Kleinen bis zum ganz Großen.

Von Christian Gampert |
    "Seht ihr nicht? Das Pferd ist viel zu groß für jedes unserer Tore!" warnt die Seherin Kassandra die Trojaner. "Dann erweitern wir die Tore!", antworten die Gutgläubigen, froh um den angeblichen Abzug der Griechen. Also: Troja wird zerstört, und es ist sehr die Frage, ob man einen großen Stoff, das Homerische Epos, auch mit großen Mitteln darstellen muss. Matthias Hartmann fängt auch ganz klein an: Er lässt den letzten am Strand zurückgebliebenen Griechen die Geschichte vom Pferd erzählen, die Geschichte eines Betrugs, einer List, einer Intrige, und dabei baut der Schauspieler Fabian Krüger aus lauter kleinen Kinderklötzchen ein Pferd zusammen.

    Aber dann geht dieses ungeheuer bilderreiche, aus vielen verschiedenen Perspektiven und Textfragmenten zusammengesetzte Hartmann-Theater los, und am Ende, nach viereinhalb (!) Stunden Spieldauer, lässt der Regisseur das Pferd noch einmal zusammenbauen, diesmal aus riesigen weißen Schaumstoff-Matratzen, die fast bis zum Olymp hochreichen – einer Art stählerner Kommandobrücke unter dem Dach des Wiener Kasinos.

    Vom ganz Kleinen zum ganz Großen: Darunter macht es Hartmann nicht. Er nutzt Texte von Rudolf Hagelstange, Peter von Matt, Sartre, Walter Jens, Christa Wolf, Ovid – und immer wieder die Homer-Übersetzung von Raoul Schrott. Er lässt Musiker säuseln und den Achill toben. Als Griechenflotte bietet er ein Riesen-Segel und über tausend kleine Papierschiffchen. 17 virtuose Schauspieler spielen 33 Rollen, das heißt: Sie schlüpfen (scheinbar) improvisatorisch in die Rollen hinein und ebenso selbstverständlich wieder heraus. Und doch: Schlussendlich bleibt als Programm nicht viel mehr als der Ausruf der Hekabe: Ich will euch sagen, wie’s gewesen ist!

    Zugegeben, es gibt zauberhafte Momente in dieser Inszenierung: wenn die von Paris verlassene Oinone der Sabine Haupt die ewige Jugendliebe beschwört. Oder wenn die drei Göttinnen im Schönheits-Wettbewerb Paris, den tumben Toren, zu verführen suchen. Es gibt unglaubliche Grausamkeiten zu besichtigen: wenn der schäumende Achill den besiegten Hektor um die Stadt schleift, dann fräst der Schauspieler Oliver Macucci einer Dummy-Puppe tatsächlich das Gesicht weg, mit einer Schleifmaschine. Aber ein wirklicher interpretatorischer Zugriff ist das nicht: eE ist Behauptungs- und Effekt-Theater, auch rhetorisch:

    "Speer stieß an Speer und Schild an Schild. Mit der gepanzerten Stärke eines Armes, Buckel an Buckel, so krachten die Rundschilder aneinander. Ein hohles Donnern, das anschwoll und sich zusammen erhob mit dem Triumphgebrüll und den Todesschreien von Männern, die töteten und getötet wurden. Die Erde schwamm vor Blut."

    "We kill to entertain you" hat Hartmann den kriegsstiftenden Göttern aufs Panier geschrieben. Aber abgesehen davon, dass hier ein paar eitle Göttinnen (!) mit der rasch angeworfenen Tötungsmaschinerie vor allem sich selbst die Langeweile vertreiben wollen, ist die Sucht nach Unterhaltsamkeit der größte Vor-, aber auch Nachteil des Hartmann-Theaters. Keine Episode kann psychologisch zu Ende erzählt werden, immer steht schon das nächste Highlight auf dem Programm. Trotzdem entwickelt die Aufführung einen beachtlichen Sog: Hartmann erzählt kinohaft und mit eingestreuten Slapsticks, in Breitwandformat, aber mit kurzen Flashs auf die einzelnen Figuren. Der Paris des Lukas Gregorovicz: Held oder Weiberheld, das ist hier die Frage – und Gregorovicz sagt: Weiberheld. Die Helena der Adina Vetter: ein strahlendes Mädchen mit Lust auf Abenteuer, der Michelle-Hunzicker-Typ. Der Trojaner Hektor des famosen Daniel Jesch: eine ganz ruhige, überlegte Figur, einer, der den Kopf behält.

    Die These der Inszenierung ist aber, dass hier alle den Kopf verlieren, dass blöde Menschen aus gekränkter Eitelkeit Krieg führen, zum Amüsement der Strippenzieherinnen auf dem Olymp (wo bei Hartmann dann auch Apollon persönlich als DJ auftaucht – er sieht dem Wiener Stadtheiligen Falco verdammt ähnlich). In Wahrheit ist das natürlich viel komplizierter: Auf dem Olymp sitzen heute Banker und Wirtschaftsführer, und Kriege werden zwar oft aus niederen Beweggründen, aber eben auch sehr rational und unter politischem Sachzwang geführt. Dies aus der Ilias herauszukitzeln – und das steckt da auch drin! – das wäre ein Ansatz gewesen. Stattdessen erleben wir nur dräuendes Unheil und anschwellenden Kitschgesang. Wir sehen den Agamemnon als Rummelplatz-Proll und die Hera als Big Sexy Mama. Das ist, immerhin, schönes Schauspielertheater. Aber das ist nicht genug.