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Die grüne Jacke

Man steckt sie in einen Graben und wird schon wissen warum. Einzig ihr Dompteur erhebt sich sichtbar über die Köpfe hinweg und fuchtelt mit einem dünnen Zeigestock herum, als sei er ein Zauberstab, mit dem er sie alle dort unten in Kröten verwandeln könnte. Nein – das Leben eines Orchestermusikers ist kein Zuckerschlecken! Man muß mit einem ausgeprägten Korpsgeist versehen sein, von Natur aus demütig und bescheiden oder aber – die Idealvorstellung – den großen, mächtigen Orchesterklang mehr lieben als den eigenen kleinen Beitrag dazu. Als Konzertmeister mag das noch angehen, vielleicht sogar als Tutti-Geiger, aber wer ein Exoteninstrument wie die Harfe oder den Kontrabaß bedient, sieht sich ein Leben lang schwierigsten Problemen gegenüber: Wohin mit dem am Konservatorium erworbenen Selbstbewußtsein des geborenen Solisten, der nun unhörbar mit dem Gesamtbild verschmilzt? Patrick Süßkind hat vor zwanzig Jahren mit dem "Kontrabaß" dazu einen Theaterklassiker verfaßt, doch sein Musiker von der traurigen Gestalt ist in einer vergleichsweise glücklichen Lage. Zur Not kann er noch Melodien spielen, ja vereinzelte Komponisten haben ihm ein Solo in die Partitur hineingeschrieben. Viel bedauernswerter Mario Soldatis Protagonist in der Erzählung "Die grünen Jacke": Zwar zieht er solistengleich stets alle Aufmerksamkeit auf sich, wenn er für Sekundenbruchteile in Erscheinung tritt – doch womit? Er ist der Paukenschläger. Ersetzbar und unwichtig. Ein musikalischer Zwerg.

Florian Felix Weyh |
    Nur die grüne Jacke, englischer Stoff und im Italien des Winters 1943 eine Rarität, weist ihn als künstlerischen Bohemien aus. Flugs läßt er sich "Maestro" titulieren, als er auf der Flucht vor den Deutschen in einem Kloster Unterschlupf findet. Die arglosen Fratres hofieren den vermeintlichen römischen Kapellmeister, weil sie sich von ihm musikalische Hilfe versprechen. Der reichlich ungeschliffene Frauenchor aus Bäuerinnen der Umgebung benötigt einige Politur, und der Maestro verspricht Abhilfe. Die freilich kommt von einem anderen Flüchtling, der sich ebenfalls im abgelegenen Bergdorf einfindet. Hinter der Maske des biederen Buchhalters versteckt sich ein halbjüdischer echter Kapellmeister aus Rom, ein aufstrebender Dirigentenstar, der sehr schnell herausfindet, daß es um die musikalische Bildung des Paukenschlägers nicht sonderlich gut bestellt ist.

    Ein Burleske, möchte man meinen, doch der im letzten Jahr hochbetagt verstorbene Mario Soldati gewinnt dieser beinahe klassischen Situation ungewohnte Töne ab. Denn hier führt nicht der Überlegene den Unterlegenen vor, sondern arrangiert sich mit der Situation. Als Flüchtlinge sind beide aufeinander angewiesen, und weil der eine den richtigen Zeitpunkt verpaßt, die Komödie des anderen dezent zu beenden, fügt er sich in die ihm zugewiesene Rolle. Als Gehilfe assistiert er bei der Einstudierung eines "Werther"-Chores, den der "Maestro" angeblich selbst komponierte, dessen Melodie er aber leider vergessen habe. Die Selbstverleugnung nimmt schmerzhafte Züge an, und es kommt, wie es kommen muß: Jahre später treffen beide in der richtigen Konstellation aufeinander. Der eine oben am Pult, der andere sklavisch hinter seiner Pauke. Weil Scham eine mächtige Kraft ist, kann der nunmehr berühmte echte Maestro nicht weiterdirigieren und muß eine erkleckliche Konventionalstrafe bezahlen. Welch süßer Triumph für den ewigen Underdog aus dem Orchestergraben! Nachgerade zärtlich betupft er sein Paukenfell, als der zweitklassige Ersatzdirigent den Einsatz gibt.

    Mit unaufdringlicher Lakonie erzählt Mario Soldati diese Musikergeschichte als das, was sie eigentlich ist: eine überall gültige Parabel der Zweierbeziehung. Über Dezenz und Nähe, über die subtilen Fallstricke der Schweigsamkeit und die Feigheit vor dem peinlichen Augenblick der Wahrheit. Man sieht sich stets zweimal im Leben; das will beim Erstkontakt beachtet sein. Keine Frage, dieses Buch lehrt uns, im Umgang miteinander ein bißchen aufrichtiger zu sein. Alles andere kann sehr teuer werden.