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Die Heimat der Vorfahren hat an Glanz verloren

Weiter weiter weiter... na bitte, Tatjana... - Otto Schmidt ist Farmer von Beruf - Ja, Otto Schmidt ist Farmer, das stimmt, ja. Und weiter, weiter, möchte ich kontrollieren, wie Sie die Zahlen gut kennen.

Von Gesine Dornblüth | 13.09.2004
    Deutschunterricht für Anfänger in Orenburg, einer russischen Stadt an der Grenze zur zentralasiatischen Republik Kasachstan. Etwa zwanzig Menschen, junge und ältere, vor allem Frauen, schauen auf die Tafel. Die meisten sind deutschstämmig. Sie lernen die Sprache ihrer Vorfahren.

    In diesen Tagen ist es genau 240 Jahre her, dass sich die ersten deutschen Siedler an der Wolga niederließen. Sie waren der Einladung der deutschstämmigen Zarin Katharina der Zweiten gefolgt, die mit Hilfe ihrer Landsleute das Bauerntum im Russischen Reich stärken wollte. Die meisten Deutschen siedelten an der Wolga. Nach der Gründung der Sowjetunion erhielten sie 1924 eine eigene Republik, die Autonome Sozialistische Sowjetrublik der Wolgadeutschen, mit Deutsch als Amtssprache und deutschsprachigem Kulturleben.

    Die Wolgarepublik existiert längst nicht mehr. Sie wurde gleich nach dem Überfall der deutschen Truppen auf die Sowjetunion 1941 aufgelöst. Stalin ließ die deutschen Bewohner als potentielle Spione und Kollaborateure nach Sibirien und Zentralasien deportieren. Etwa 300.000 Russlanddeutsche starben in den Arbeitslagern. Selbst als Mitte der 50er Jahre der stalinistische Terror nachgelassen hatte, wurden viele deutsche Überlebende und ihre Nachkommen weiterhin als "Faschisten" diskriminiert. In ihre Heimatorte in der damaligen Sowjetunion durften sie nicht zurückkehren.

    Erst 1986 erhielten die Russlanddeutschen in der UdSSR eine neue Perspektive. Der Begründer der Perestroika, Michail Gorbatschov, erließ ein Dekret, das die Ausreise der Russlanddeutschen erheblich vereinfachte, für viele überhaupt erst möglich machte. Seitdem sind mehr als zwei Millionen Deutschstämmige und ihre zum Teil nichtdeutschen Angehörigen aus der ehemaligen Sowjetunion in die Bundesrepublik übergesiedelt. Der größte Teil von ihnen kam aus Russland.

    Die meisten Spätaussiedler entschlossen sich aus wirtschaftlicher Not zu diesem Schritt, weil sie in Russland Anfang der 90er Jahre, als alle Fabriken stillstanden und der Rubel mit jedem Tag weiter verfiel, keine Zukunft mehr für sich sahen. Manche hatten die anhaltenden Diskriminierungen endgültig satt. Wieder andere fühlten sich auch von der neuen russischen Führung betrogen. Boris Jelzin, der erste Präsident des unabhängigen Russland, hatte den Russlanddeutschen im Überschwang der Ereignisse versprochen. ihnen die Wolgarepublik zurückzugeben, dann aber sein Wort gebrochen.

    Auch heute, im Jahr 2004, bereiten sich immer noch junge und alte Menschen auf die Ausreise nach Deutschland vor. So auch die Studentin Tanja aus der Stadt Orsk in der Orenburger Oblast. Dieses Verwaltungsgebiet liegt an der russisch-kasachischen Grenze und umfasst eine Fläche größer als die ehemalige DDR. Es gehörte zu den zentralen Siedlungsgebieten der Deutschen in Russland neben der Wolgarepublik. Tanja hat bereits alle Ausreiseunterlagen beisammen.

    Hier bei uns habe ich überhaupt keine Chancen. In unserer Stadt stehen alle Fabriken still. Einfach in eine Großstadt zu ziehen, geht auch nicht, denn ich habe keine Berufserfahrung, und das Leben ist dort teurer als hier in Orsk. Da ich die Wahl habe, möchte ich lieber nach Deutschland gehen. Ich will einfach versuchen, mich im Ausland zu verwirklichen. Ich möchte meine Fähigkeiten einbringen, und ich will allein zurechtkommen. Deshalb will ich nach Deutschland.

    Aber - auch eine neue Tendenz beginnt, sich bemerkbar zu machen: Immer mehr Deutschstämmige wollen in Russland bleiben. Seit zwei Jahren nimmt der Zustrom von deutschen Spätaussiedlern aus der ehemaligen Sowjetunion erheblich ab. Nach Angaben von Jochen Welt, dem Aussiedlerbeauftragten der Bundesregierung, kamen im vergangenen Jahr noch gut 72.000 Menschen: Etwa ein Fünftel weniger als im Vorjahr. Für dieses Jahr wird ein weiterer drastischer Rückgang auf nur noch etwa 50.000 Spätaussiedler erwartet.

    Dass immer weniger von ihnen kommen, liegt zum einen ganz einfach daran, dass die meisten Angehörigen dieser Volksgruppe schon hier sind. Ohnehin ziehen seit einigen Jahren vor allem russische Familienangehörige nach. Ende der 90er Jahre hat die Bundesregierung zudem die Einreise-Voraussetzungen für die Spätaussiedler erhöht. Kommen darf nur noch, wer nachweislich in der Familie deutsch gesprochen hat. Dieses Kriterium erfüllen nur noch wenige. Immer mehr Russlanddeutsche aber wollen gar nicht übersiedeln, selbst, wenn sie könnten. Sie sehen in Russland derzeit größere Chancen für ihre Zukunft als in der Heimat ihrer Vorfahren, als in Deutschland.

    Zum Beispiel Vladimir Chomutzkij. Chomutzkij sitzt mit Freunden im Café "Boheme" in Kitschkass, einem ehemals deutschen Ort in der Orenburger Oblast. Vladimir Chomutzkij ist Russlanddeutscher, einer der letzten, die in Kitschkass geblieben sind. Das Café gehört ihm.

    Ich habe nicht vor, auszureisen. Ich bleibe hier. Meine Eltern sind in Deutschland, meine Geschwister, meine Tanten und Onkel. Aber mir gefällt es hier. Ich war drei Wochen zu Besuch in Deutschland, aber ich konnte es dort nicht aushalten. Die Lebensbedingungen sind bei uns jetzt genauso wie in Deutschland.

    Naja, vielleicht nicht ganz. Aber leben kann man auch bei uns. In Russland ist es jetzt stabiler. Die Menschen leben viel ruhiger und sind wohlhabender. Wer hätte vor fünf Jahren geglaubt, dass es in unserem Dorf Mikrowellen geben würde? Niemand. Das war Exotik für uns. Deshalb sind die Leute ausgewandert. Waschmaschinen genauso. Immer war es im Westen besser. Oder Spülmaschinen. Jetzt haben wir das auch alles.


    Vladimir Chomutzkij ist Landwirt. Er baut Getreide und Gemüse an, hat neun Angestellte. Das Cafe habe er aufgemacht, damit das Dorf schöner wird, damit es wieder einen Treffpunkt gibt, sagt Chomutzkij.

    Von ehemals 40.000 Russlanddeutschen in der Orenburger Oblast sind nach offiziellen Angaben nur noch etwa 7.000 da - also etwas mehr als ein Sechstel. Im nachhinein hat es sich als Verlust erwiesen, dass so viele Deutschstämmige ausgereist sind, sagt Sergej Gorschenin, der stellvertretende Leiter der Administration der Orenburger Oblast.

    Wenn Menschen aus Russland ausreisen, ganz gleich, welcher Nationalität, dann nützt das Russland in keinem Fall. Russland muss, wie jedes Land, Bedingungen schaffen, damit die Menschen dableiben, damit sie arbeiten, in ihrem Land heiraten, Kinder bekommen und die Kinder eine Perspektive haben. Der Mensch muss sich da nützlich machen, wo er geboren wurde. Dort ist seine Heimat. Ein Russlanddeutscher kann in Büchern oder in seiner Familiengeschichte nachlesen, dass er aus Deutschland stammt. Aber seine Heimat ist in Kasachstan oder in Orenburg, da, wo er geboren wurde.

    Die Deutschen gelten inzwischen bei vielen in Russland als, wie die Russen sagen, "unsere", als zu ihnen gehörig, betont auch Venalij Amelin. Amelin ist Vorsitzender des Ausschusses für Nationalitäten in der Orenburger Gebietsverwaltung. In der Orenburger Oblast leben diverse Minderheiten, neben Deutschen auch Tataren, Kasachen, Ukrainer, Baschkiren, Juden und andere.

    Der Nationalitätenausschuss fördert kulturelle Veranstaltungen der Volksgruppen und setzt sich für gegenseitige Toleranz ein. Das geschieht im Rahmen eines speziellen Programms für eine regionale Nationalitätenpolitik. Zwar würden Fremdenfeindlichkeit und Rassismus in Russland zunehmen, berichtet Amelin; die aber richteten sich heute keinesfalls gegen die Deutschstämmigen.

    An der absoluten Toleranz gegenüber der deutschen Bevölkerung besteht überhaupt kein Zweifel. Alle bedauern, dass die Deutschen weggehen. Das hört man im Alltag genauso wie auf offizieller Ebene. Wir hatten mehrere Kolchosen und Sowchosen, die von Deutschen bewirtschaftet wurden. Jetzt sind die Deutschen weg, und seitdem stehen diese Betriebe leer. An Stelle der Deutschen sind andere Leute in die Dörfer gezogen, vor allem Stadtbewohner, die gar nichts von Landwirtschaft verstehen. Sie arbeiten nicht in der Landwirtschaft.

    Abhilfe könnten die deutschstämmigen Zuwanderer aus dem benachbarten Kasachstan schaffen. Anders als in Russland hat sich die Situation für die deutsche Minderheit in Kasachstan in den vergangenen Jahren verschärft. Jugendliche klagen, dass sie in der Schule - anstelle von russisch - kasachisch sprechen müssen. Erwachsene berichten, sie hätten ihren Arbeitsplatz verloren, weil Kasachen bevorzugt würden. Viele Deutschstämmige aus Kasachstan siedeln deshalb nach Russland über: Entweder, um dort auf die Papiere für die Ausreise nach Deutschland zu warten, oder, um dort zu bleiben. Das Orenburger Gebiet ist davon als Grenzregion besonders betroffen, weiß Venalij Amelin vom Nationalitätenausschuss:

    Die Deutschen aus Kasachstan könnten die Plätze der ausgewanderten Russlanddeutschen einnehmen. Aber dazu brauchen wir einen Mechanismus. Das muß wie ein Fließband laufen: Die einen Deutschen fahren weg, und an ihre Stelle treten Deutsche aus Kasachstan oder aus Usbekistan.

    Bisher bereiten die Deutschen aus Kasachstan den Orenburgern aber offenbar mehr Probleme, als dass sie ihnen nützen.

    Leonid Raisich ist Vorsitzender der russlanddeutschen Organisation "Wiedergeburt" in der Orenburger Oblast. Er sieht den Zuzug der Deutschen aus den Nachbarstaaten eher skeptisch.

    Die Deutschen aus Kasachstan sind anders als wir. Das Leben dort ist anders, die Mentalität. Deshalb haben sie es hier zuerst schwer. Viele trinken. Besonders schlimm ist es, wenn sie schon in Kasachstan Probleme hatten, am Arbeitsplatz getrunken haben und dann den Job verloren haben. Und viele von ihnen sind Städter. Hier wohnen sie auf dem Land, wollen aber nicht in der Landwirtschaft arbeiten und versuchen sich statt dessen als Unternehmer.

    Umso mehr bemühen sich die Politiker in Orenburg, die letzten einheimischen Russlanddeutschen zu halten - zum Beispiel, indem sie deutsche Kulturzentren unterstützen. Und in dem Punkt sind die russischen Politiker auf einer Linie mit der Bundesregierung. Denn auch die setzt schon seit Jahren darauf, die Deutschstämmigen in Russland zu unterstützen - um auf diese Weise den Zuzug nach Deutschland zu bremsen.

    Seit 1990 hat die Bundesregierung dafür etwa 450 Millionen
    Euro eingesetzt. Am stärksten floß das Geld Anfang der 90er Jahre. Die Projekte waren nicht immer sinnvoll, einige sogar politisch fragwürdig. So ließ der damalige Beauftragte der Bundesregierung für Aussiedlerfragen, Horst Waffenschmidt, zum Beispiel ganze Siedlungen für Russlanddeutsche im Kaliningrader Gebiet errichten. Die Deutschstämmigen sollten so im einstigen Ostpreußen zumindest eine Ahnung vom Land ihrer Vorfahren bekommen - aber in Russland bleiben. Das Projekt scheiterte. Andere Investitionsruinen aus der damaligen Verantwortung dieses Ressorts beschäftigen den Bundesrechnungshof bis heute.

    Seit 1998 investiert die Bundesrepublik vor allem in kleine, nachhaltige Projekte. Sie finanziert Sprachkurse, unterstützt Maßnahmen zur Gesundheitsvorsorge und fördert Aus- und Fortbildungsprogramme in den Siedlungsgebieten der Russlanddeutschen.

    Zu den Vorzeigeprojekten, die mit deutschen Geldern gefördert werden, zählt die Fachschule in Kitschkass, jenem ursprünglich deutschen Dorf in der Orenburger Oblast.

    In der Auto-Werkstatt schrauben zwei Schüler an einem grasgrünen Lada herum. Ein zweiter Wagen steht auf der Hebebühne. Per Computer werden die Schäden analysiert. Außer Kraftfahrzeug-Mechanikern werden in Kitschkass Köche, Konditoren, Traktorfahrer, Verkäufer, Schweißer und Chauffeure ausgebildet, insgesamt 200 Schüler, darunter 27 Russlanddeutsche. Die Ausbildungswerkstätten wurden dank deutscher Hilfe mit modernster Technik ausgerüstet. Schuldirektor Igor Derksen, selbst Russlanddeutscher, ist überzeugt, dass das Geld gut angelegt ist.

    Jetzt brechen nur noch ganz wenige die Ausbildung ab, weil sie nach Deutschland gehen. Die Schüler bekommen die Fahrtkosten erstattet, einige erhalten materielle Hilfe, und einmal im Jahr machen wir eine Schulreise ans Schwarze Meer. Das motiviert sie, besser zu lernen. Vielleicht fahren sie später nach Deutschland, aber zumindest machen sie die Ausbildung zu Ende.

    90 Prozent von denen, die bei uns einen Abschluss machen, finden später Arbeit. Denn wir bilden Berufe aus, die gefragt sind. In Russland entwickelt sich der Dienstleistungssektor zur Zeit sehr stürmisch. Die Leute denken zwar oft: Was kann man auf dem Land schon lernen... Aber wir bilden die Jugendlichen so aus, dass sie auch in der Stadt Arbeit finden. Wenn das gelingt, brauche ich mir um die Zukunft meiner Absolventen keine Sorgen zu machen.


    Schon jetzt nehmen Russlanddeutsche zentrale Positionen ein. Sie stellen Bürgermeister, Direktoren in Fabriken und sogar zwei, eigentlich nur noch von der Moskauer Machtzentrale abhängige, Gouverneure. Besonders augenfällig ist das im Gebiet Jekaterinburg. Die Oblast erstreckt sich östlich des Uralgebirges, liegt damit schon im asiatischen Teil des Riesenlandes und zählt heute wegen der dort niedergelassenen Schwerindustrie zu den reichsten Gebieten der Russischen Föderation.

    Alexander Buchgamer ist Abgeordneter der Duma der Jekaterinburger Oblast und stellvertretender Fraktionsvorsitzender der Putin-treuen Regionalpartei "Für eine Umgestaltung des Ural". Buchgamer ist Vorsitzender der Jekaterinburger Sektion der russlanddeutschen Organisation "Wiedergeburt" und zugleich Vertrauter von Eduard Rossel, dem gleichfalls deutschstämmigen Gouverneur des Gebietes. Auch Buchgamers Sekretärin hat deutsche Vorfahren. Buchgamers Tochter macht Karriere als PR-Beraterin, der Sohn ist erfolgreicher Disc-Jockey. In Jekaterinburg gäbe es mittlerweile ein regelrechtes Netzwerk von Russlanddeutschen, bestätigt Alexander Buchgamer und meint dann:

    In Deutschland haben sich die Leute eingerichtet, die hier nicht viel erreicht haben. Die hier keine Perspektiven gesehen haben. Das waren vor allem Rentner, die gut leben wollten, und die hier nicht so viel Rente bekommen hätten wie in Deutschland. Und es waren einfache Leute, Traktoristen, Menschen, die körperlich arbeiten, mit Berufen, bei denen es ganz egal ist, wo man ihn ausübt, in Russland oder in Deutschland. Nur dass die Arbeit in Deutschland besser bezahlt wird.

    Die aber, die hier etwas erreicht haben, warum sollten die nach Deutschland gehen und von vorn anfangen? Ein Ingenieur oder ein Arzt, der hier von allen geschätzt wird, der raubt sich doch die Selbstachtung, wenn er dort hin fährt und noch mal ein Diplom machen muss, weil sein hiesiges nicht anerkannt wird. Oder ein Baudirektor, der dort als Schwarzarbeiter auf der Baustelle anfangen muß.


    Einige Russlanddeutsche sind genau deshalb bereits wieder aus Deutschland zurückgekehrt. Zum Beispiel die Rentnerin Erna Bogatyrjova, geborene Braun. Vor fünf Jahren verließ sie mit ihrer Tochter ihre Heimatstadt Orsk bei Orenburg. Sie bekam eine Wohnung in Erfurt und hat die deutsche Staatsbürgerschaft. Vor einem Jahr aber ging sie nach Orsk zurück.

    Seit Anfang 2004 gelten in Deutschland viele neue Gesetze, die es einem sehr schwer machen, materiell zurechtzukommen. Für alte Leute gibt es nur noch eine Grundsicherung. Wer aus einem abgeschiedenen russischen Dorf kommt, dem gefällt es in Deutschland sehr gut und er geht nie wieder zurück. Wer aber, wie ich, hier in der Stadt gelebt hat, wer ein Auto, eine Garage, einen Garten hatte, der will in Deutschland nicht beim Sozialamt betteln gehen.

    Ihr stünden in Deutschland nur 260 Euro zur Verfügung, damit könne sie nicht über die Runden kommen. Wenn sie schon in Armut leben müsse, dann wolle sie das wenigstens in gewohnter Umgebung tun, so die Rentnerin. Ihre Tochter Svetlana, 36 Jahre alt, war gleichfalls in Erfurt. Sie fand Arbeit in einem Kindergarten. Dann wurde sie krank. Auch sie hielt es in Deutschland nicht aus.

    Die ganze Verwandtschaft meiner Mutter ist in Deutschland, die meines Vaters hier in Russland. Ich habe ihn sehr vermißt. Und ich will noch eins sagen: Ich mußte noch nie im Leben so hart arbeiten wie in Deutschland. Hier werde ich mich wahrscheinlich als Invalidin melden. Dann bekomme ich eine Unterstützung. Das reicht, um Milch und Brot zu kaufen.

    Lieber als Kranke und Rentner möchte Russland allerdings die arbeitsfähigen Spätaussiedler zurückgewinnen. Am liebsten die, die in Deutschland eine Ausbildung gemacht haben. Denn in Russland werden Facharbeiter dringend gesucht. Allein im Jekaterinburger Gebiet gibt es nach offiziellen Angaben etwa 46.000 offene Stellen. Der deutschstämmige Gouverneur von Jekaterinburg hat deshalb alle qualifizierten Spätaussiedler in Deutschland aufgefordert, nach Russland zurückzukommen. Der Appell wurde in verschiedenen russischsprachigen Medien in Deutschland verbreitet. Bisher allerdings ohne Erfolg. Alexander Buchgamer, der Abgeordnete und Russlanddeutschen-Funktionär aus Jekaterinburg:

    Wir haben über hundert Zuschriften bekommen. Die Leute schreiben: 'Helfen Sie mir, ich bin Filmemacher, ich kann in Deutschland keine Filme machen.' Oder: 'Helfen Sie mir, ein Buch zu schreiben, ich bin Journalist, mich verstehen sie hier nicht, ich kann eine Fernsehsendung moderieren...' und so weiter und so weiter. Aber wir brauchen ein bißchen etwas anderes. Wir brauchen Leute, die mit Metall arbeiten können, die wissen, was Landwirtschaft ist, die Getreide anbauen können, die etwas von Viehzucht verstehen, die Wurst und Käse machen können. Solche Leute brauchen wir hier.