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Die Hoffnung trägt ein Narrenkostüm

Mit "Paperboy" schafft Pete Dexter ein Prachtstück an amerikanischem Galgenhumor. Die Story: zwei Reporter, die einen Mordfall neu aufrollen. Es geht um Sex, Gewalt und krumme Geschäfte. Ein Thriller erster Güte – spannend und komisch.

Von Sasha Verna | 09.08.2013
    Es gibt eine Sorte amerikanischer Literatur, die sich kurz oder ausführlich charakterisieren lässt. Die kurze Variante lautet: weiß, grau, schwarz. Die Ausführliche ... nun, die ist komplizierter. Man kann bei den Figuren beginnen. Bei ihnen handelt es sich um Weiße der amerikanischen Unterschicht. Ihre Geschichten sind nicht in den großen Städten, sondern im Hinterland angesiedelt, in gottverlassenen Gegenden mit Namen wie Pitkin County oder Crook. Das moralische Terrain, auf dem sie sich bewegen, weist sämtliche Schattierungen von grau bis grauenhaft auf. Und die Atmosphäre, die sie umgibt, ist schwarz. Rabenschwarz.

    Die Menschen, mit denen die Vertreter dieses spezifisch amerikanischen Genres ihre Werke bevölkern, werden im wirklichen Leben "Hillbilies" oder "Rednecks" genannt. Oder "white trash", weißes Pack. "White Trash Noir" wäre deshalb eine passende Bezeichnung für diese Gattung. "Noir", weil Romane dieser Art zwar keine Krimis oder Thriller im klassischen Sinn darstellen, aber Verbrechen und Spannung so natürlich dazugehören wie Punkte und Kommas.

    Der Münchner Verlag Liebeskind hat es sich zur verdienstvollen Aufgabe gemacht, einige der wichtigsten Autoren von White Trash Noir ins Deutsche zu bringen. Darunter Daniel Woodrell, über dessen Romane "Winters Knochen" und "Der Tod von Sweet Mister" sich die Kritik vor Freude überschlug, sowie David Ray Pollock, der für "Das Handwerk des Teufels" den Deutschen Krimipreis 2013 erhielt. Und nun Pete Dexter mit "Paperboy". Von Dexter erschien zuletzt der Neo-Western "Deadwood" auf Deutsch. "Paperboy" wurde im Original bereits 1995 veröffentlicht, erlebte jedoch im vergangenen Jahr auch in den Vereinigten Staaten eine Renaissance, wo eine Verfilmung des Romans mit Starbesetzung in die Kinos kam.

    "Paperboy" spielt 1969 in Moat County, Florida. Vier Jahre nachdem Hillary Van Wetter für den Mord am Sheriff des Countys verurteilt worden ist, rollen zwei Reporter aus Miami den Fall neu auf. Dazu animiert hat die beiden Van Wetters Verlobte. Charlotte Bless fährt mit Sex-Appeal für zehn und einundvierzig Kartons voller Material vor, das die Unschuld ihres zukünftigen Gemahls beweisen soll. Der eine Reporter schläft bald mit ihr. Der andere verbeißt sich in die Sache. Dessen Bruder Jack fungiert als Chauffeur der Truppe und Ich-Erzähler des Ganzen.

    Nichts und niemand bleibt sauber in diesem Roman oder war es je. Hillary Van Wetter ist ein Monster, egal ob er den Sheriff aufgeschlitzt und ausgeweidet hat oder nicht. Charlottes Gefühle für die Insassen von Todeszellen im Allgemeinen und Hillary im Besonderen erweisen sich als noch ungesünder als es den Anschein hat. Und die Motive, die die Journalisten zu Provinzadvokaten und Rasendieben führen, haben mit einem Kampf für Gerechtigkeit weit weniger zu tun als mit Ehrgeiz und der Hoffnung auf einen Pulitzer Preis.

    Pete Dexter ist ein Meister der cineastischen Anschaulichkeit. Wenn er das provisorische Büro beschreibt, das die Reporter für ihre Recherchen vor Ort beziehen, meint man selbst den Geruch der Zwiebeln zu sehen, der dort aus unerfindlichen Gründen ständig herrscht. Ein erstes Treffen zwischen Hillary und Charlotte im Gefängnis läuft ab wie ein Hardcore-Porno, ohne dass die Akteure sich auch nur berühren. Dexter hält sprachlich die Balance zwischen sachlich, smart und sinnlich, und die Dialoge wirken so echt, wie es nur fiktiven Gesprächen gelingt.

    Einen beachtlichen Teil seines Reizes verdankt "Paperboy" dem Nebenpersonal. Hillary ist Mitglied eines Clans, der in den alligatorenverseuchten Sümpfen Floridas haust. Dort gibt es Rohheit zum Frühstück, Gewalt am Mittag und Eiscreme nach dem Abendessen. Ja, Eiscreme. Dexter inszeniert eine Szene, in der Erdbeer und Vanille zum Inbegriff von Grausamkeit werden, obschon darin lediglich ein Mann auf seiner Veranda sitzt und genussvoll Packung um Packung löffelt.

    Zivilisation ist nicht da, wo Pete Dexter hinschaut. In Romanen wie "Paperboy" schickt er seine Protagonisten an die Ränder der Gesellschaft. Die Rückkehr in den Kokon von Regeln und Anstand schaffen die wenigsten von ihnen. Auch das ist ein Merkmal des White Trash Noirs. In "Paperboy" geht es um Schuld ohne Sühne und Obsessionen, um Familienbande und Familienbanden. Das Gute hat darin keine Chance, und die Hoffnung trägt ein Narrenkostüm.

    Pete Dexter: Paperboy
    Roman. Aus dem Amerikanischen von Bernhard Robben. Liebeskind Verlag, München 2013. 320 Seiten. 19.80 Euro.