10. Juni 2024
Die internationale Presseschau

Zentrales Thema ist der Ausgang der Europawahl.

Eine Frau wirft in einem Wahllokal im Bezirk Lichtenberg ihren Wahlzettel für die Europawahl ein.
Die EU-Wahl wird auch in zahlreichen internationalen Zeitungen kommentiert. (picture alliance / dpa / Sebastian Gollnow)
Der TAGES-ANZEIGER aus der Schweiz blickt mit Sorge auf die Erfolge populistischer und rechtsextremer Parteien: "Eigentlich bräuchte es jetzt ein starkes Europa, eine EU die liefert und Antworten bereit hat. In Moskau macht Wladimir Putin keine Anstalten, seinen Vernichtungskrieg gegen die Ukraine einzustellen. China greift mit Dumpingpreisen Europas industrielle Basis an, und im November droht in den USA möglicherweise ein Comeback von Donald Trump. Doch nach der Europawahl vom Wochenende steht die Europäische Union geschwächt und verunsichert da. Der Vormarsch der Populisten und Rechtsextremen war zwar prognostiziert worden. Aber am Ende überrascht die Wucht doch, mit der in Paris Emmanuel Macron desavouiert und in Deutschland die regierenden Sozialdemokraten von Olaf Scholz deklassiert wurden. Frankreich und Deutschland geben in der EU oft Tempo und Richtung vor. Dieser deutsch-französische Motor wird noch weniger Zugkraft haben als bisher. Scholz und Macron dürften in nächster Zeit mit politischen Aufräumarbeiten und mit ihren nationalen Agenden beschäftigt sein“, erwartet der TAGES-ANZEIGER aus Zürich.
Auch der Kommentar in der taiwanesischen ZIYOU SHIBAO hat den Rechtsruck zum Thema: "Sowohl in Frankreich und Deutschland als auch in den Niederlanden konnten die rechten Flügel große Wahlerfolge verzeichnen. In vielen Ländern hat sich zudem das konservative Lager behauptet. Jetzt steht eine großangelegte Umverteilung der Sitze im europäischen Parlament an. Das hat wahrscheinlich eine abgeschwächte Klimaschutz-Politik zur Folge. Zugleich dürfte die Migrationspolitik verschärft werden. In seinen Grundsätzen zersplittert Europa immer mehr. Entsprechend schwierig wird es sicher auch, sich auf eine gemeinsame Haltung gegenüber Russland, China und den USA zu einigen", befürchtet ZIYOU SHIBAO aus Taipeh.
Die japanische Zeitung NIHON KEIZAI SHIMBUN meint: "Der Aufstieg der rechtsextremen Parteien hat das gute Image Europas, das großen Wert auf die Diversität und Toleranz legt beschädigt. Doch es gibt auch etwas Positives: Eine Europawahl galt bislang als unpopuläres politisches Event. Diesmal hat sie aber enorm an Aufmerksamkeit gewonnen, deshalb haben auch die Rechtsextremen all ihre Kräfte in den Wahlkampf gesteckt. Das ist doch ein Beweis, dass sich ein vereintes Europa langsam etabliert, auch wenn es dabei viele Herausforderungen gibt", findet NIHON KEIZAI SHIMBUN aus Tokio.
Die schwedische Zeitung DAGENS NYHETER greift das starke Abschneiden der AfD bei den deutschen Wählern auf und erklärt: "Die Alternative für Deutschland ist nicht irgendeine Partei. In drei Bundesländern wird sie als gesichert rechtsextrem eingestuft. Drei von vier Deutschen sehen die AfD einer aktuellen Umfrage zufolge als eine Gefahr für die Demokratie. Viele Menschen haben Angst, dass die Partei ihre Rechte einschränken will, weil sie eine bestimmte Hautfarbe, Religion oder sexuelle Orientierung haben. Selbst den französischen und italienischen Rechtsaußen ist die AfD zu radikal geworden. Dass mehrere Millionen deutsche Wähler die Partei gleichzeitig als beste Alternative für das Land sehen, dürfte Bundeskanzler Olaf Scholz den Schlaf rauben", meint DAGENS NYHETER aus Stockholm.
In Österreich ist die rechte FPÖ der Wahlsieger. "Wer sich in den Tagen vor der Wahl umgehört hat, wird nicht erstaunt sein", meint dazu DER STANDARD aus Wien: "Überraschend viele Menschen sagten da, im privaten Gespräch, sie hätten eigentlich 'nix mit der FPÖ am Hut'– aber diesmal bekämen sie die Stimme. Weil: Alle anderen Parteien bräuchten dringend einen 'Denkzettel'. Frust wegen der massiven Teuerung, Grant wegen der Corona-Impfpflicht, aber auch Skepsis, was Klimaschutzmaßnahmen angeht, hatten sich in den vergangenen Monaten ausgebreitet. Dass FPÖ-Funktionäre eine bedenkliche Nähe zur Partei von Wladimir Putin und auch zu russischen Spionen pflegen, ist für FPÖ-Wählerinnen und -Wähler offenbar ebenso nebensächlich wie die zahlreichen, großteils strafrechtlich relevanten, 'Einzelfälle' und die unverhohlenen Drohungen der FPÖ gegen den ORF und andere unabhängige Medien", vermerkt die österreichische Zeitung DER STANDARD.
In Frankreich hat die rechtsnationale Partei Rassemblement National die Europawahl klar gewonnen. Präsident Macron setzte daraufhin eine vorgezogene Neuwahl der Nationalversammlung an. Die französische Zeitung LIBÉRATION schreibt von einem "doppelten Erdbeben". "Es kommt einem Paukenschlag gleich, dass gerade der Staatschef, der sich die Eindämmung des Einflusses von rechts auf die Fahnen geschrieben hat, unter dem Druck der extremen Rechten zu einem derartigen institutionellen Pokerspiel greift. Die Auflösung der Nationalversammlung ist umso merkwürdiger, als der Staatschef während des Wahlkampfs mehrfach darauf hinwies, dass diese Europawahl nicht unbedingt Auswirkungen auf nationaler Ebene haben wird. Die wahrscheinlichste Konsequenz ist nun, dass die Rechtspopulisten noch vor Eröffnung der Olympischen Spiele den Premierminister stellen. Vielleicht spekuliert Macron genau darauf; vielleicht will er vor 2027 und der nächsten Präsidentschaftswahl den Beweis erbringen, dass der RN die Probleme der Franzosen nicht lösen kann. In der Hoffnung, dass die Wähler, nachdem sie die Rechtspopulisten zwei Jahre lang als Regierung ausprobiert haben, darauf verzichten, die extreme Rechte in den Elysée-Palast zu schicken". Das war LIBÉRATION aus Paris.
Die norwegische Zeitung VERDENS GANG befasst sich mit dem Wahlausgang in Europas Norden: "Die ultrarechten Schwedendemokraten mussten einen heftigen Rückschlag hinnehmen und kommen nur noch auf Platz vier. Der jüngste Skandal um eine Trollfabrik hat sich also offenbar auf das Wählerverhalten ausgewirkt. Auch in Finnland hat die Partei 'Die Finnen' vom rechten Rand ein schlechtes Ergebnis erzielt. Und was ist mit dem Nicht-EU-Mitglied Norwegen, das dennoch von 90 Prozent aller im EU-Parlament gefällten Entscheidungen direkt betroffen ist? Wir haben eine Partei in der Regierung, deren Vertreter einen Sitz im EU-Parlament als ihren 'größten Albtraum' bezeichnen", vermerkt VERDENS GANG aus Oslo.
Die spanische Zeitung LA VANGUARDIA gibt zu bedenken: "Der Rahmen, in dem sich die Politik in Brüssel bewegt, dürfte sich auch durch die Ergebnisse der EU-Wahl nicht ändern. Zwar blicken die EU-Bürger vermehrt nach rechts, aber die parlamentarische Mehrheit aus Christdemokraten, Sozialisten und Liberalen, die die europäische Politik in den letzten Jahren de facto bestimmt hat, wird mit einem deutlichen Vorsprung weitermachen können. Die extreme Rechte konnte zwar Zuwächse verzeichnen, aber eben nicht genug, um diese Mehrheit zu ersetzen", bemerkt LA VANGUARDIA aus Barcelona.
Etwas anders sieht es die polnische GAZETA WYBORCZA: "Ursula von der Leyen, die Chefin der Europäischen Kommission und Spitzenkandidatin der europäischen Christdemokraten, triumphierte mit der Ankündigung, sie werde eine 'Bastion gegen die extreme Rechte und Linke' errichten. Scheinbar ist alles in Ordnung – von der Leyens Europäische Volkspartei hat die Wahl gewonnen, eine Koalition mit den Sozialdemokraten und Liberalen wird bestehen bleiben. Trotzdem ist Europa auf einen Kurs eingeschwenkt, der unangenehme historische Erinnerungen weckt. Die Stimme der extremen Rechten im Europäischen Parlament wird stärker gehört werden. Viel war die Rede von der neuen Rolle Polens in der Europäischen Union - einem Land, das Hoffnung auf einen Sieg über die populistische Hydra gibt und daher den Ton für die Gemeinschaft angeben könnte. Es ist aber zu befürchten, dass die europäische Führung nicht mit Premierminister Donald Tusk und Außenminister Radosław Sikorski über die Zukunft der EU sprechen wird, ungeachtet derer politischen Talente. Weil jeder so sehr mit sich selbst beschäftigt sein wird“, notiert die GAZETA WYBORCZA aus Warschau, und damit endet die Internationale Presseschau.