Diana hat eine Familie zu ernähren: Irgendwo in der ehemaligen Sowjetunion wächst ihr behinderter Sohn bei ihrer Mutter und ihrer Schwester auf. Von seinem Vater ist nicht die Rede. Auch Diana ist ohne Vater aufgewachsen, denn der war eines Tages verschwunden. Er hinterließ eine große Bibliothek, in der die beiden Mädchen gerne spielten, die aber ansonsten nicht benutzt wurde, denn die Mutter, das begreift Diana eines Tages, kann gar nicht lesen.
Diana liest viel und trägt immer ein Exemplar von Dostojewskis Roman "Der Idiot" bei sich. Sie lebt ohne Aufenthaltserlaubnis in Wien und verdient sich das Geld, das sie nach Hause schickt, mit Sexarbeit. Einst hatte sie Theaterwissenschaft studiert und wollte Regisseurin werden. Aber gemeinsam mit ihrer Freundin, einer angehenden Schauspielerin, begann sie irgendwann, die finanziellen Klemmen mit Gelegenheitsprostitution zu überwinden. Als Illegale im Westen bleibt ihnen dann gar keine andere Verdienstmöglichkeit mehr.
Diana ist die Hauptfigur des Romans "Die Erdfresserin" von Julya Rabinowich, und sie ist eine der wenigen Prostituierten aus Osteuropa, die nicht nur als klischeehafte Nebenrolle in einem Thriller auftauchen, sondern als literarisches Subjekt mit einer Vergangenheit, mit Träumen und Gefühlen, und auch mit unangenehmen Seiten. Gewalt ist ihr nicht fremd, und wenn sie etwas durchsetzen will, kämpft sie mit Tricks und Ellenbogen.
"Mir war sehr wichtig, dieses klassische Bild des Opfers zu umgehen. Ich denke mir, diese Frau befindet sich in einer unglaublich verantwortungsvollen und gleichzeitigen Ausnahme-Situation. Sie hat wenig Möglichkeiten, als brutal zu sein, wenn sie überleben will. Es kann gut sein, und es gibt immer wieder Situationen, die sie als Mitfühlende zeigen. Nur in der der Art, wie sie ihr Leben gestalten muss, und da leg‘ ich Wert auf das MUSS, das ist keine freiwillige Entscheidung, ist kein Platz für Gefühle oder Rührseligkeiten, wie sie es vielleicht betrachten würde."
Als Ernährerin ihrer Familie muss Diana funktionieren. Sie ist nicht mehr so jung, ihr Marktwert sinkt, und als ein krebskranker Polizist sie aufnimmt, als Geliebte und Pflegerin zugleich, da spielt sie auch dieses Spiel mit, etwas widerwillig zwar, aber solange sie Geld nach Hause schicken kann, ist ihr alles recht. Erst als der Mann stirbt, wird ihr bewusst, welche Erleichterung diese abgesicherte Existenz zu zweit für sie bedeutet hatte, und so bricht sie irgendwann zusammen, wird buchstäblich zur "Erdfresserin".
"Halt mich fest. Nimm mich zurück. Aber unbefleckt nimm mich zurück, nimm mich ganz, verstecke mich bei dir, lösche mich aus, verändere mich, bis ich eine andere werde, eine Kuh vielleicht oder eine Pflanze.
Meine Finger suchen ihren Weg durch das Gras, reißen unbarmherzig Halme aus auf ihrem Weg, ungeduldig bohre ich sie in den Boden neben mir, der Nagel meines Ringfingers bricht ab, der Schmerz ist kurz, aber wirkungsvoll, ich hebe die Hand an meinen Mund und lutsche an ihm, kleine Brösel schwarzer Erde bleiben an meinen Lippen zurück.
Schwarzes Brot wie zu Hause, denke ich und lecke sie ab."
Diana liest viel und trägt immer ein Exemplar von Dostojewskis Roman "Der Idiot" bei sich. Sie lebt ohne Aufenthaltserlaubnis in Wien und verdient sich das Geld, das sie nach Hause schickt, mit Sexarbeit. Einst hatte sie Theaterwissenschaft studiert und wollte Regisseurin werden. Aber gemeinsam mit ihrer Freundin, einer angehenden Schauspielerin, begann sie irgendwann, die finanziellen Klemmen mit Gelegenheitsprostitution zu überwinden. Als Illegale im Westen bleibt ihnen dann gar keine andere Verdienstmöglichkeit mehr.
Diana ist die Hauptfigur des Romans "Die Erdfresserin" von Julya Rabinowich, und sie ist eine der wenigen Prostituierten aus Osteuropa, die nicht nur als klischeehafte Nebenrolle in einem Thriller auftauchen, sondern als literarisches Subjekt mit einer Vergangenheit, mit Träumen und Gefühlen, und auch mit unangenehmen Seiten. Gewalt ist ihr nicht fremd, und wenn sie etwas durchsetzen will, kämpft sie mit Tricks und Ellenbogen.
"Mir war sehr wichtig, dieses klassische Bild des Opfers zu umgehen. Ich denke mir, diese Frau befindet sich in einer unglaublich verantwortungsvollen und gleichzeitigen Ausnahme-Situation. Sie hat wenig Möglichkeiten, als brutal zu sein, wenn sie überleben will. Es kann gut sein, und es gibt immer wieder Situationen, die sie als Mitfühlende zeigen. Nur in der der Art, wie sie ihr Leben gestalten muss, und da leg‘ ich Wert auf das MUSS, das ist keine freiwillige Entscheidung, ist kein Platz für Gefühle oder Rührseligkeiten, wie sie es vielleicht betrachten würde."
Als Ernährerin ihrer Familie muss Diana funktionieren. Sie ist nicht mehr so jung, ihr Marktwert sinkt, und als ein krebskranker Polizist sie aufnimmt, als Geliebte und Pflegerin zugleich, da spielt sie auch dieses Spiel mit, etwas widerwillig zwar, aber solange sie Geld nach Hause schicken kann, ist ihr alles recht. Erst als der Mann stirbt, wird ihr bewusst, welche Erleichterung diese abgesicherte Existenz zu zweit für sie bedeutet hatte, und so bricht sie irgendwann zusammen, wird buchstäblich zur "Erdfresserin".
"Halt mich fest. Nimm mich zurück. Aber unbefleckt nimm mich zurück, nimm mich ganz, verstecke mich bei dir, lösche mich aus, verändere mich, bis ich eine andere werde, eine Kuh vielleicht oder eine Pflanze.
Meine Finger suchen ihren Weg durch das Gras, reißen unbarmherzig Halme aus auf ihrem Weg, ungeduldig bohre ich sie in den Boden neben mir, der Nagel meines Ringfingers bricht ab, der Schmerz ist kurz, aber wirkungsvoll, ich hebe die Hand an meinen Mund und lutsche an ihm, kleine Brösel schwarzer Erde bleiben an meinen Lippen zurück.
Schwarzes Brot wie zu Hause, denke ich und lecke sie ab."
Eine Sozialarbeiterin stellt fest: Diana ist nicht einmal vergewaltigt worden
Die österreichische Schriftstellerin Julya Rabinowich arbeitete als Dolmetscherin in einer therapeutischen Einrichtung und hat vielen "Dianas" zugehört. Sie weiß, wie gebildet manche Frauen sind, die verstört, verhärtet und verzweifelt dort landen, - und wie schwer es ist, ihnen zu helfen. Kaum hat Diana begonnen, zu ihrem Therapeuten Vertrauen zu fassen, muss sie erfahren, dass es für sie keine Alternative zur Abschiebung gibt, denn sie kommt nicht aus einem Kriegsgebiet und gehört auch keiner verfolgten Minderheit an.
"Das war mir auch sehr wichtig kundzutun: Diana eignet sich in dem Sinne nicht für einen normalen Asylantrag. Aber an sich gibt es dafür eine Regelung, zumindest in Österreich, ich bin nicht sicher, ob das in Deutschland auch so ist, aber ich glaube es. Das heißt "humanitäres Bleiberecht". Das wird in den Fällen verliehen, wo zwar kein offensichtlicher Asylgrund vorliegt, aber aufgrund der Geschichte man auch Mitleid zeigend, diesen Menschen ins System hinein lässt. Aber es ist in ihrem Fall auch schwierig, denn sie ist kein Kind, das hübsch ist, sie ist keine junge Frau in Not, sie ist kein junger Mann, der seine ganze Karriere noch vor sich hat – sie wäre kein beliebtes Exemplar dafür gewesen."
– und sie ist noch nicht einmal vergewaltigt worden, wie eine Sozialarbeiterin fast bedauernd feststellt. Auch das ist ein Satz, den Julya Rabinowich mit eigenen Ohren gehört hat.
Aber "Die Erdfresserin" ist kein dokumentarischer Roman und will auch keine Sozialreportage sein. Wie schon in ihrem Erstling "Spaltkopf" vermischt die Autorin real Erlebtes mit Mythen, stellt neben hyperrealistische Passagen symbolträchtige Bilder und lässt manches bewusst im Vagen verschwimmen, etwa Dianas Herkunft. Wer war der gebildete, wohlhabende Vater, der das einzige Steinhaus im Dorf besaß mit einer Bibliothek, in der sogar ausländische Bücher standen? Warum ist er verschwunden? Wieso widmete er seiner Frau, die doch gar nicht lesen kann, ausgerechnet ein Buch über den "Golem"?
Früher muss die Familie reich gewesen sein, einmal überraschte Diana ihre Mutter nachts, wie sie mit all ihrem Schmuck behängt vor dem Spiegel stand. Und jeden Tag wäscht sie die Türschwelle des Hauses, in Erwartung ihres verschwundenen Ehemannes. Verbittert leben Mutter und Schwester in der tristen Gegenwart, sie ziehen Dianas Sohn auf, der an einer nicht näher definierten Krankheit leidet, sie leben von Dianas Geld und werfen ihr dennoch ihren Lebenswandel vor. Dass Diana in ihr Dorf zurückkehren könnte, um dort einer geregelten Arbeit nachzugehen, wie ihr Therapeut vorschlägt, das ist eine lebensfremde Vorstellung des Gutmenschen aus dem Westen. Und so wird Dianas letzte Rückkehr zu einer Irrfahrt ins Nirgendwo. Sie vertraut sich ganz der Erde an, die für sie zu einem Schutzwesen wird, zum Golem; er soll sie führen. Sie sieht den dunklen Schatten aus der Erde wachsen und geht ihm nach, kreuz und quer durch Europa über Stock und Stein. Wofür steht der Golem, der Homunculus aus der alten jüdischen Legende, in diesem Roman?
"Das war mir auch sehr wichtig kundzutun: Diana eignet sich in dem Sinne nicht für einen normalen Asylantrag. Aber an sich gibt es dafür eine Regelung, zumindest in Österreich, ich bin nicht sicher, ob das in Deutschland auch so ist, aber ich glaube es. Das heißt "humanitäres Bleiberecht". Das wird in den Fällen verliehen, wo zwar kein offensichtlicher Asylgrund vorliegt, aber aufgrund der Geschichte man auch Mitleid zeigend, diesen Menschen ins System hinein lässt. Aber es ist in ihrem Fall auch schwierig, denn sie ist kein Kind, das hübsch ist, sie ist keine junge Frau in Not, sie ist kein junger Mann, der seine ganze Karriere noch vor sich hat – sie wäre kein beliebtes Exemplar dafür gewesen."
– und sie ist noch nicht einmal vergewaltigt worden, wie eine Sozialarbeiterin fast bedauernd feststellt. Auch das ist ein Satz, den Julya Rabinowich mit eigenen Ohren gehört hat.
Aber "Die Erdfresserin" ist kein dokumentarischer Roman und will auch keine Sozialreportage sein. Wie schon in ihrem Erstling "Spaltkopf" vermischt die Autorin real Erlebtes mit Mythen, stellt neben hyperrealistische Passagen symbolträchtige Bilder und lässt manches bewusst im Vagen verschwimmen, etwa Dianas Herkunft. Wer war der gebildete, wohlhabende Vater, der das einzige Steinhaus im Dorf besaß mit einer Bibliothek, in der sogar ausländische Bücher standen? Warum ist er verschwunden? Wieso widmete er seiner Frau, die doch gar nicht lesen kann, ausgerechnet ein Buch über den "Golem"?
Früher muss die Familie reich gewesen sein, einmal überraschte Diana ihre Mutter nachts, wie sie mit all ihrem Schmuck behängt vor dem Spiegel stand. Und jeden Tag wäscht sie die Türschwelle des Hauses, in Erwartung ihres verschwundenen Ehemannes. Verbittert leben Mutter und Schwester in der tristen Gegenwart, sie ziehen Dianas Sohn auf, der an einer nicht näher definierten Krankheit leidet, sie leben von Dianas Geld und werfen ihr dennoch ihren Lebenswandel vor. Dass Diana in ihr Dorf zurückkehren könnte, um dort einer geregelten Arbeit nachzugehen, wie ihr Therapeut vorschlägt, das ist eine lebensfremde Vorstellung des Gutmenschen aus dem Westen. Und so wird Dianas letzte Rückkehr zu einer Irrfahrt ins Nirgendwo. Sie vertraut sich ganz der Erde an, die für sie zu einem Schutzwesen wird, zum Golem; er soll sie führen. Sie sieht den dunklen Schatten aus der Erde wachsen und geht ihm nach, kreuz und quer durch Europa über Stock und Stein. Wofür steht der Golem, der Homunculus aus der alten jüdischen Legende, in diesem Roman?
Julya Rabinowich ist offensichtlich psychoanalytisch geschult
"Für mich war der Golem auch eine Art Symbol der EU, bestehend aus der Erde dieser Länder, die sie durchschritten hat, sehr langsam in seinen Bewegungen, blind, von dem sie sich Schutz erwartet, und der sie im Endeffekt im Stich lässt. Das war meine Verschlüsselung.
Für sie bedeutet der Golem natürlich etwas völlig anderes, für sie ist das Teil ihrer Geschichte, Teil der ältesten Erinnerungen an ihren Vater, auch etwas, das sie und die Familie beschützen soll, Golem wurde ja dafür geschaffen, seinen Clan zu beschützen von einem weisen Mann. Und sie, die ja die ganze Zeit schon in der Rolle des weisen Mannes der Familie ist, mutet sich dann zu, diesen Prozess auch zu bewältigen. Das Problem ist, diese Bilder, die man hat, wenn sie zu große Gewalt über einen bekommen, die verselbstständigen sich, und es ist kaum möglich, dann Kontrolle über sie zu behalten. Insofern kann diese Lösung logischerweise nur im Untergang enden, wenn man sich so derartig an seine Halluzinationen, an seine unbewussten Anteile ausliefert, ohne stabil dabei bleiben zu können."
"Da war einmal etwas, das ich erfüllen musste. Irgendwann war da etwas, das mein Ziel war und mein Fluchtpunkt. Da war einmal etwas, aber ich weiß nicht mehr, wo das gewesen ist oder warum. Manchmal, wenn ich auf der Erde liege und in sie hineinhöre, ob sie sich noch hebt und senkt mit meinen Atemzügen, wenn mir nicht kalt ist und kein Hunger meine Eingeweide verätzt, wenn ich friedlich liege und auf den Golem warte, und ich nicht friere, weil sein Ausatmen nur für mich da ist, manchmal sehe ich Bilder, auf die ich mir keinen Reim machen kann, Bilder von einem Garten, von Eisblumen auf dunklen Fenstern, ich höre jemanden rufen, nach mir, nach mir, und dann nicht mehr."
Julya Rabinowich ist nicht nur Schriftstellerin und bildende Künstlerin, sie ist offensichtlich auch psychoanalytisch geschult. Beim Schreiben verlässt sie sich auf ihr Unbewusstes, sagt sie, sie schreibe fast traumartig und lasse die Bilder hochkommen, um sie dann im Text zu verarbeiten. Das ist die dritte Schicht in diesem traurigen, verstörenden, manchmal auch irritierenden Roman, der Sozialkritik mit Mythen und Traumsymbolen verbindet.
Buchinfos:
Julya Rabinowich: "Die Erdfresserin", Roman
Deuticke Verlag 2012, 240 Seiten, 17,90 Euro
Für sie bedeutet der Golem natürlich etwas völlig anderes, für sie ist das Teil ihrer Geschichte, Teil der ältesten Erinnerungen an ihren Vater, auch etwas, das sie und die Familie beschützen soll, Golem wurde ja dafür geschaffen, seinen Clan zu beschützen von einem weisen Mann. Und sie, die ja die ganze Zeit schon in der Rolle des weisen Mannes der Familie ist, mutet sich dann zu, diesen Prozess auch zu bewältigen. Das Problem ist, diese Bilder, die man hat, wenn sie zu große Gewalt über einen bekommen, die verselbstständigen sich, und es ist kaum möglich, dann Kontrolle über sie zu behalten. Insofern kann diese Lösung logischerweise nur im Untergang enden, wenn man sich so derartig an seine Halluzinationen, an seine unbewussten Anteile ausliefert, ohne stabil dabei bleiben zu können."
"Da war einmal etwas, das ich erfüllen musste. Irgendwann war da etwas, das mein Ziel war und mein Fluchtpunkt. Da war einmal etwas, aber ich weiß nicht mehr, wo das gewesen ist oder warum. Manchmal, wenn ich auf der Erde liege und in sie hineinhöre, ob sie sich noch hebt und senkt mit meinen Atemzügen, wenn mir nicht kalt ist und kein Hunger meine Eingeweide verätzt, wenn ich friedlich liege und auf den Golem warte, und ich nicht friere, weil sein Ausatmen nur für mich da ist, manchmal sehe ich Bilder, auf die ich mir keinen Reim machen kann, Bilder von einem Garten, von Eisblumen auf dunklen Fenstern, ich höre jemanden rufen, nach mir, nach mir, und dann nicht mehr."
Julya Rabinowich ist nicht nur Schriftstellerin und bildende Künstlerin, sie ist offensichtlich auch psychoanalytisch geschult. Beim Schreiben verlässt sie sich auf ihr Unbewusstes, sagt sie, sie schreibe fast traumartig und lasse die Bilder hochkommen, um sie dann im Text zu verarbeiten. Das ist die dritte Schicht in diesem traurigen, verstörenden, manchmal auch irritierenden Roman, der Sozialkritik mit Mythen und Traumsymbolen verbindet.
Buchinfos:
Julya Rabinowich: "Die Erdfresserin", Roman
Deuticke Verlag 2012, 240 Seiten, 17,90 Euro