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Die kleinen Unterschiede. Der Cultural Studies Reader.

Zwischen 1957 und 1963 erschienen in Großbritannien drei Bücher, die sowohl in politischer als auch in wissenschaftlicher Hinsicht einiges auslösten. Die Autoren dieser drei Werke waren allesamt engagiert links und zum Zeitpunkt der Niederschrift nicht an Universitäten beschäftigt, sondern vielmehr in der Erwachsenenbildung. Jeweils auf ihre Weise reagierten alle drei auf eine mehr oder minder weltpolitische Krise linker Theorie und Praxis. Der Stalinismus war endgültig bankrott und die Sowjetunion hatte bei ihrem brutalen Vorgehen gegen die rebellierenden Ungarn ihre häßliche Fratze gezeigt. Nichtsdestotrotz frönte die britische Kommunistische Partei weiter ihrem hergebrachten Dogmatismus. Darüber hinaus setzte sich im Westen eine neue und seltsam "klassenlose" Konsumkultur durch - ein Phänomen, das man mit den traditionell stark auf Ökonomie ausgerichteten Methoden des Marxismus offenbar nicht mehr richtig begreifen konnte.

Mark Terkessidis |
    Und so kreisten Richard Hoggarts Buch "Vom Gebrauch der Lesefähigkeit", "Kultur und Gesellschaft" von Raymond Williams und Edward P. Thompsons "Die Entstehung der englischen Arbeiterklasse" bei allen Unterschieden vor allem um zwei Punkte. Zum einen wandten sie sich gegen eine Perspektive, welche die Frauen und Männer der Arbeiterklasse immer nur als Opfer der Verhältnisse sehen wollte und betonten dagegen das aktive Element der "gelebten Erfahrung". Zum anderen wollten sie gegen den herrschenden linken "Ökonomismus" die Bedeutung von Kultur hervorheben. Dabei hingen die beiden Punkte letztlich eng miteinander zusammen, denn unter Kultur verstanden alle drei eben nicht nur künstlerisch-ästhetische Hochkultur, sondern die "gesamte Lebensweise" der gewöhnlich verachteten Masse. Insofern schreckte der selbst aus einer Arbeiterfamilie stammende Hoggart auch nicht vor der Beschäftigung mit Illustrierten und Groschenromanen zurück. Es schien ihm nutzlos, über diese Erzeugnisse herzuziehen - ihn interessierten die Beschreibungen von Lebensumständen und die vermittelten Werte. Zusammen mit einem jungen Einwanderer jamaikanischer Herkunft namens Stuart Hall begründeten diese drei die sogenannte "Neue Linke" in Großbritannien und gleichzeitig auch ein Forschungsfeld mit der Bezeichnung "Cultural Studies". Während diese Studien sich in Großbritannien und später auch den USA als immens fruchtbar erwiesen und an den dortigen Universitäten wohletabliert sind, blieb die deutsche Rezeption auf kleine Kreise beschränkt.

    Im Grunde gibt es heute hierzulande nicht einmal eine angemessene Übersetzung des Begriffs. Denn aufgrund ihres besonderen Hintergrundes sind die "Cultural Studies" weder mit der traditionellen deutschen Kulturwissenschaft vergleichbar noch mit der linken Kulturkritik im Gefolge von Adorno und Horkheimer.

    Die Schlüsseltexte der "Studies" sind entweder nicht übersetzt oder kurz nach ihrer Übersetzung in den siebziger Jahren aus dem Buchhandel wieder verschwunden. Doch nun sind auf einem Schlag zwei Sammelbände erschienen, die diesem Mangel Abhilfe schaffen wollen. Der Soziologe Udo Göttlich und der Kulturwissenschaftler Carsten Winter haben zusammen mit dem britischen Cultural Studies-Professor Roger Bromley einen Band mit "Grundlagentexten zur Einführung" herausgegeben, während der in Köln lebende freie Lektor Jan Engelmann eine Textauswahl unter dem spezifischeren Titel "Die kleinen Unterschiede" zusammenstellte.

    Aber was sind nun eigentlich genau Cultural Studies? Udo Göttlich, Mitherausgeber der "Grundlagentexte", tut sich schwer mit einer genauen Definition und versucht sich den Studies eher thematisch zu nähern:

    "Zu den Gegenständen der CS - und das wär vielleicht auch ein weiterer Hinweis, wie man sich dem Problemkreis der CS nähert. Wenn man schon keine Definition angeben kann, so kann man doch über die Gegenstände zu erschließen versuchen oder erschließen, was CS sind. Das ist auch hier wieder zunächst für bestimmte Phasen und Etappen der Forschung zu differenzieren und wie gesagt, der frühe Gegenstand war eben die Arbeiterkultur und die gelebte Alltagspraxis in den Unterschichten und auch in den englischen Mittelschichten, die unter einer Perspektive der Elitekultur immer als Masse wahrgenommen wurden. Und hier wurde von den CS-Vertretern zum ersten Mal auch der Blick auf Alltagsbereiche geworfen und auch dann dazu publiziert, die bislang nicht im Verständnis der meisten Leute als Forschungsgegenstand und als forschungsrelevante Probleme wahrgenommen wurden."

    Offenbar befassen sich die Cultural Studies also mit dem Thema der "populären" Kultur, wobei diese eben nicht mit Massenkultur zu verwechseln ist. Als Hoggart in den Fünfzigern die "populäre" Kultur der Arbeiter untersuchte, beklagte er sich bitterlich über deren langsame Auflösung zugunsten der aufkommenden US-Massenkultur. Erst später entdeckten andere Forscher in den Phänomenen der britischen Jugendkultur wie etwa den "Mods", daß die Unterschicht auch von der standardisierten Medienkultur einen "populären" Gebrauch machen konnte - also sich die Produkte aktiv und "kreativ" aneignete und sie als Ausdruck ihrer Lebensumstände und auch ihres Protestes verwendete. Dadurch erweiterte sich dann das Spektrum.

    "In den siebziger Jahren - vor allem unter dem Einfluß der beginnenden und sich entwickelnden Mediengesellschaft - hat man dann sehr stark der Fragestellung zugewandt, wie werden eigentlich Soap Operas aber auch populäre Serien wahrgenommen, was ist eigentlich in der Rezeption an Besonderheiten zu erschließen, wenn man auf die Seite der Rezipienten geht, ohne nun zwangsläufig vom Text ausgehend zu sagen, der Text wirkt in diese oder jene Richtung. Man hat sich mit ethnographischen Methoden der Zuschauerforschung, die dann verstärkt in den achtziger Jahren angewandt wurden, dann damit auseinandergesetzt, wie Medien und auch die Geschichten in den Alltag eingebunden werden und auch den Alltag strukturieren."

    Aber der Horizont der Studies verbreiterte sich auch demographisch. Während die Untersuchungen zunächst auf Arbeiter beschränkt blieben, sorgte zumal die Kritik von feministischen Intellektuellen wie Angele McRobbie und Minderheitenangehörigen wie dem erwähnten Hall oder Paul Gilroy mehr und mehr dafür, daß die "gelebten Erfahrungen" aller Marginalisierten in den Blick kamen. Doch während der siebziger Jahre geriet dann plötzlich die Fixierung der Studies auf "Erfahrungen" selbst unter Beschuß. Vor allem mit Hilfe des Strukturalismus von Louis Althusser forderten eine Reihe der Cultural-Studies-Vertreter wieder eine intensivere Beschäftigung mit der herrschenden Ideologie.

    Als Stuart Hall 1968 die Leitung des Centre for Contemporary Cultural Studies übernahm, welches Hoggart 1963 in Birmingham gegründet hatte, befaßte man sich dort immer wieder mit dem Thema, wie sich unter den Bedingungen der Mediengesellschaft eigentlich Herrschaft organisiert. In Sammelbänden des Centre ging es daher etwa um das Zusammenspiel zwischen Kriminalitätsberichterstattung und polizeilicher Aufrüstung, um Rassismus und Neue Rechte und um die Politik des Thatcherismus. Heute ist das Feld der Cultural Studies äußerst vielfältig und vor allem von Auseinandersetzungen geprägt. Umstritten sind etwa die Auffassungen John Fiskes, der standhaft in nahezu jeder Art des Vergnügens der "kleinen Leute" an den Produkten der Massenkultur eine subversive Kraft aufspürt. In einem Beitrag Fiskes, der in "Die kleinen Unterschiede" abgedruckt ist, analysiert er die englischen Pendants zu "Der Preis ist heiß" oder "Herzblatt" unter dem Aspekt der weiblichen Emanzipation: In der einen Show würde lautstark ein Wissen gefeiert (nämlich jenes über die Preise der Waren), welchem gewöhnlich jede Anerkennung verwehrt bliebe und in der anderen würde die "weibliche Sexualität" von der Verpflichtung auf Ehe und Tugendhaftigkeit befreit.

    Gleich danach findet man im gleichen Band einen Text von Angela McRobbie über "Feminismus, Mode und Konsum", wo Fiskes Begeisterung so gar nicht geteilt wird. McRobbie kritisiert die einseitige Konzentration auf den Konsum als einziges Mittel zur Befreiung und befaßt sich nachdrücklich mit der Rolle von Frauen in der Produktion.

    Zweifelsohne decken beide Bände ein beachtliches Spektrum der Diskussionen rund um Cultural Studies ab. Dabei ist die Zusammenstellung der "Grundlagentexte" sorgfältig und sinnvoll: Der Band verschafft vor allem dem akademisch interessierten Publikum einen guten Überblick. Der von Engelmann herausgegebene "Reader" ist weniger zusammenhängend, aber dafür aktueller: Das Buch soll gleichzeitig eine Einführung sein als auch laufende Diskussionen vor allem über kulturelle Identität aufgreifen. Doch liegen in den jeweiligen Orientierungen der beiden Bände auch bestimmte Verkürzungen. So schielt "Die kleinen Unterschiede" trotz der durchaus nicht unkomplizierten Texte ständig auf ein breiteres Publikum. Insofern wirken Cultural Studies in dem Band ein wenig wie ein glamouröses Instrument aus Übersee, das dem jungen Medienarbeiter die Navigation durch den Kulturdschungel erleichtern soll.

    "Gebrauchsanweisung für Andersdenkende" heißt entsprechend die letzte Zwischenüberschrift in Engelmanns Einleitung. Die "Grundlagentexte" dagegen sind ziemlich deutlich darauf gerichtet, den Ansatz der Cultural Studies im deutschen Wissenschaftsbetrieb zu verankern. Für Udo Göttlich dürfen die Studies denn auch nicht zu subversiv werden:

    "Das geht soweit, daß in Amerika eine Phase war, oder streckenweise noch ist, in der auch ein Verständnis von Cultural Studies als gegendisziplinär formuliert wurde. Diese Phase wird aber dann in weiteren Rezeptionskontexten sicherlich auch disziplinär eingebunden. Und CS lassen sich in unterschiedlichen Kontexten dann gerade auch mit ihrer disziplinären Einbindung aufschließen."

    Aber möchte man die Studies denn tatsächlich "aufschließen"? Ganz sicher benötigt man in Deutschland eine Auseinandersetzung mit diesem Ansatz - gerade weil das Nachdenken über populäre Kultur und Mediennutzung hierzulande weiterhin äußerst traditionell erscheint und zudem die Mittelschichtsperspektive der Forscher so gut wie nie hinterfragt wird. Allerdings besteht bei den vorliegenden Einführungen die Gefahr, daß ein zentrales Moment der Studies einfach auf der Strecke bleibt: Die Parteilichkeit des Standpunktes und die politische Einmischung an der Seite der Marginalisierten. Und so wundert es denn auch nicht, daß in beiden Bänden nicht einmal erwähnt wird, daß die Entstehung der Cultural Studies ein Teil der Geschichte der britischen "Neuen Linken" war.