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Die Kunst des Lebens

Was hat Philosophie mit Lebenskunst zu tun? In der Tat, so weit ist es gekommen, dass man diese Frage stellen muß. Die Philosophie selbst trägt die Verantwortung dafür, dass sie eines ihrer vornehmsten Gebiete aus den Augen verloren hat. Über die Gründe kann man lange spekulieren. Jedenfalls wurde im Laufe der Moderne die Reflexion trivial erscheinender Lebensfragen und die Fragestellung der Lebenskunst nahezu vollständig vergessen. "Wie kann ich mein Leben führen?" In der Epoche, in der die Philosophie zu einer bloßen Fachdisziplin im Kanon der Wissenschaften wurde, fand diese Frage in ihr keinen Platz mehr. Die Geschichte der Philosophie führt dagegen vor Augen, dass dies einst anders war, welche Bedeutung in ihr den Lebensfragen einst zugemessen worden ist und welche Antworten eine philosophische Lebenskunst darauf zu geben versucht hat.

Wilhelm Schmid |
    Einer derer, die davon Zeugnis geben, ist Plutarch, der im 1./2. Jahrhundert n.Chr. lebte. Man kennt vielleicht seine "Parallelbiographien", in denen er große Griechen und Römer nebeneinander stellt, um zu zeigen, dass nicht nur die historisch siegreichen Römer große Gestalten hervorgebracht haben, und welche Beispiele für die Lebensführung aus diesen Gestalten zu erschliessen sind. Nicht sehr weit von Delphi geboren, hatte Plutarch Philosophie in Athen studiert, und das bedeutete offenkundig, sich für Fragen der bewussten Lebensführung zu interessieren. Er gehörte keiner Schule an, unterhielt jedoch selbst eine Privatakademie mit Freunden und Schülern, und wurde schliesslich zum Oberpriester von Delphi, somit zum Hüter des Spruches "Erkenne dich selbst", der den Eingang zum delphischen Tempel markierte.

    Die Erbschaft von Jahrhunderten der philosophischen Reflexion verwandelt Plutarch in seinen "Moralia" genannten Essays in eine abgeklärte, maßvolle Lebensklugheit, voller Menschenkenntnis und Menschenliebe. Es ist bezeichnend für die Abstinenz der modernen Philosophie, dass diese Schriften Plutarchs bis heute nur ein Schattendasein fristen. Das hat sich auch auf die Editionslage niedergeschlagen: Eine komplette deutsche Übersetzung ist nicht verfügbar; in längeren Abständen erscheinen kleine Auswahlbände, die bald wieder vergriffen sind. Nun also wieder ein Versuch, sehr verdienstvoll unternommen von Marion Giebel, der freiberuflich tätigen Münchner Altphilologin, mit unaufdringlichen, knappen, kundigen Einleitungen zu den jeweils von ihr selbst übersetzten Texten. Auch sie wagt freilich nicht, Plutarch als Philosophen zu bezeichnen, er ist nur ein "Schriftsteller", seine Themen sind "populärphilosophische" – seine Charakterisierung im Standardwerk "Der kleine Pauly" wird also noch immer beibehalten.

    Fragen der Lebensführung sind in Plutarchs Sicht ganz selbstverständlich in der Philosophie beheimatet: Nichts, was Menschen und ihr Leben betrifft, ist ihm fremd, sei es hinsichtlich der Liebe, der Lüste, der Ehe,der Freundschaft, der Feindschaft, der Trauer, des Lobes, der Neugierde, des Zorns. Die Philosophie ist, wie er sagt, eine -Kunst des Lebens, eine téchné perì bíon, und als solche sollte sie -weder von einem Spiel noch von irgendeiner Lust oder Belustigung ausgeschlossen sein; ihr Dabeisein ist vielmehr überall nötig, damit sie das Maß und den richtigen Zeitpunkt hinzubringe". Plutarch ist der Denker des Maßes in allen Dingen, immer eingedenk des anderen delphischen Spruches: "Nichts im Übermaß!"

    Die ausgewählten Texte handeln von der Geschwätzigkeit und der Kindererziehung, von Gesundheitsregeln und Ratschlägen für die Ehe, von der Philosophie als Lebenskunst und der Seelenruhe. Anzumerken ist allenfalls, dass "Seelenruhe" zwar eine beliebte, nicht unbedingt aber zutreffende Übersetzung für die griechische euthymia ist. Treffender wäre wohl "Heiterkeit", nicht zu verwechseln mit dem Affekt der Fröhlichkeit, vielmehr eine philosophisch ausbalancierte Lebenshaltung, ein "symmetrisches Leben", wie es schon bei Demokrit heisst; ausbalanciert zwischen Fröhlichkeit und Traurigkeit, Ruhe und Unruhe, Sanftmut und Zorn, Alltäglichkeit und Abgründigkeit, Zufriedenheit und Unzufriedenheit. Was diese jeweiligen Extreme übergreift, das ist Heiterkeit.

    Ein Jahrtausend lang war Plutarch völlig vergessen, bis Michel de Montaigne im 16. Jahrhundert wieder auf ihn aufmerksam wurde, vielleicht aufgrund einer 1471 erschienenen lateinischen Übersetzung. Nachdem durch diese lange Zeit hindurch Themen und Techniken der antiken philosophischen Lebenskunst in transformierter Form im Christentum aufbewahrt worden waren, vermittelt durch die Mönchsorden und durch die Kirchenväter, negiert freilich von der Scholastik des Mittelalters, wurde Montaigne in seinen "Essais" der große Wiederentdecker der Tradition der Lebenskunst. Nachdem er nun heute selbst eine Renaissance erlebt, könnte dies auch das Interesse an der ihm vorausgehenden Tradition wieder beleben. Bitte mehr von Plutarch! Material liegt noch genug auf Halde.