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Die Lady des Swing

Die großen Big-Band-Leiter der Swing-Ära standen Schlange, um sich von ihr Arrangements schreiben zu lassen. Die Pianisten des modernen Jazz wurden von ihrem Spiel nachhaltig beeinflusst. Und wenn Duke Ellington krank war, ließ er sein Orchester von der Pianistin leiten: Mary Lou Williams.

Von Günther Huesmann | 08.05.2010
    Alles schien gegen Mary Lou Williams zu sprechen: ihre Herkunft, ihre Hautfarbe, ihr Geschlecht. Und doch sollte dieses Mädchen es schaffen, zum gefeierten Jazz-Star aufzusteigen. Duke Ellington schrieb:

    Mary Lou Williams ist unendlich modern. Ihre Kompositionen und ihr Spiel waren über ihre ganze Karriere hinweg der Zeit voraus. Ihre Musik liefert und hält einen Qualitätsstandard, der zeitlos ist. Sie ist wie eine Seele hoch zwei.

    Geboren am 8. Mai 1910 in Atlanta, wuchs die Afroamerikanerin in bitterer Armut auf. Sie war vier Jahre alt, da zeigte sich zum ersten Mal ihr Talent. Die Mutter spielte Spirituals auf einem Harmonium.

    "Sie hielt mich immer auf dem Schoß. Eines Tages spielte sie wieder das Harmonium. Da nahm ich ihre Finger, führte sie zu den Tasten und pickte genau jene Melodien heraus, die sie vorher gespielt hatte. Sie war so überrascht, dass sie die Nachbarn holte, damit sie mich spielen hörten."

    Als Mary Lou fünf Jahre alt war, zog sie mit ihrer Familie nach Pittsburgh. Dort hatte sie ihre ersten Erlebnisse mit Rassismus und Gewalt. Musik war eine Möglichkeit, Armut und Vorurteilen zu entfliehen.

    Im Orchester von Andy Kirk, den "Clouds of Joy", avancierte sie zu einem Star der Swing-Ära - damals, in der männerdominierten Welt des Jazz, eine Seltenheit. Sie heimste den größten Applaus ein, bekam in dem Starensemble die höchste Gage.

    Als fantastische Pianistin war sie harmonisch und rhythmisch den Musikerkollegen weit voraus. Aber es waren ihre Kompositionen, die sie in die erste Reihe der Jazzschreiber katapultierten. Andy Kirk sagte:

    "Sie hatte unglaublich gute Ohren. Wenn man eine Abwaschschüssel auf den Boden fallen ließ, konnte sie dir sagen, in welcher Tonart sie klingelte."

    Lester Young, Ben Webster und Count Basie zehrten von ihrem Spiel. Über zwölf Jahre blieb sie bei Andy Kirk, war aber unglücklich über die kommerzielle Ausrichtung seiner Musik.

    "Sie beerdigen mich in der Band."

    1942 kündigte sie. Während eines Auftritts stand sie vom Klavierstuhl auf und verließ den Saal.

    Die musikalischen Erschütterungen des modernen Jazz empfand sie als Befreiung und schloss sich den Bebopmusikern an. Ihre Wohnung in Harlem wurde zum Hafen der Jazzmoderne, wo Bud Powell und Thelonious Monk mit ihren neuen Ideen experimentierten.

    Doch eine ungewollte Schwangerschaft und eine Abtreibung brachten sie seelisch aus dem Gleichgewicht. 1947 ging sie nach Paris, wo sie beim Besuch eines Klostergartens an eine Marienerscheinung glaubte. Fortan beschäftigte sie sich intensiv mit Mystik und konvertierte schließlich zum Katholizismus.

    "Ich gab das Spielen ganz auf und betete zehn Jahre lang immer wieder. Der wunderbare Dizzy Gillespie bot mir einmal an, mit ihm auf Tournee zu gehen. Ich aber ging in meine Wohnung zurück und betete weiter."

    Doch Freunde bedrängten sie, wieder zu spielen. Bis sie in den 60er- und 70er-Jahren in New York ein kleines Comeback erlebte.

    Als einzige Jazzmusikerin der alten Schule hatte sie den Mut, sich mit den Größen der Avantgarde zu messen. 1977 trat sie gemeinsam mit dem Free-Jazz-Pianisten Cecil Taylor in der New Yorker Carnegie Hall auf. Das Konzert mit dem Titel "Embrace" - "Umarmung" endete als Duell. Doch die Kritiker waren sich einig: den größeren Mut, die größere Freiheit bewiesen hatte Mary Lou Williams.

    "Ich bin die einzige lebende Musikerin, die sich durch alle Jazzstile gespielt hat. Andere Musiker haben jede Ära miterlebt und änderten doch nie ihren Stil."