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Die Latinos im Süden

Friedlich fließt der Rio Grande dahin. Grillen zirpen, das Wasser funkelt im Sonnenlicht. Es ist ein kleines Paradies.

Von Tom Schimmeck |
    Doch sieht man genauer hin, erblickt man im Grün der Böschung überall Plastiktüten. Und Kleidungsstücke. Hinterlassenschaften der vielen illegalen Grenzgänger, die hier die über 3000 Kilometer lange Grenze zwischen Mexiko und den Vereinigten Staaten überwinden.

    Sie werden nass, wenn sie durch den Fluss kommen. Also haben sie meist eine Plastiktüte mit trockener Kleidung dabei, erzählt Patrol Agent Jim Harrick. Es gibt Menschen, die täglich den Fluss überwinden, um hier zur Arbeit zu gehen – als Haushaltsangestelle und Hilfsarbeiter etwa. Sie verstecken morgens ihre nassen Sachen am Ufer oder hängen sie im Gebüsch auf. Und abends holen sie sie wieder und kehren durch den Rio Grande heim nach Mexiko.

    Grenzer Harrick arbeitet seit vielen Jahren hier. Und er erinnert sich lächelnd einer Episode, die er hier einmal morgens als junger Grenzer erlebte.

    Ein paar Frauen kamen durch den Fluss. Die Beamten wollten sie verhaften. Da schimpften die Mexikanerinnen: Die Grenzer sollten mit dem Quatsch aufhören, sie kämen sonst noch zu spät zur Arbeit. Die waren wirklich sauer.

    Harrick sagte ihnen, leider müsse er sie verhaften, wenn sie aus dem Fluss kämen. Da warfen die Frauen Steine und Schlamm nach ihm.

    Das schwere Patrouillenfahrzeug arbeitet sich am Ufer entlang. Das Funkgerät knattert. Die lange Grenze ist mit Kameras und Sensoren gespickt, die alle Bewegungen, Schritte und Fahrzeuge registrieren sollen. Weiter nördlich gibt es ein Gewitter, ein Platzregen geht nieder. Und die Sensoren produzieren Fehlalarme in Serie.

    Zehntausende werden geschnappt, doch viele kommen durch. Aber es ist sehr gefährlich. Die Entfernungen sind gewaltig, die Landschaft ist sandig, voller Dornenbüsche, die Hitze im Sommer unerträglich. Rechte Milizen wie die Gruppe "Ranch Rescue" machen Jagd auf die Illegalen. Es gibt aber auch Freiwillige, die mit ihren Flugzeugen das weite Land absuchen, um für Hilfsbedürftige Wassercontainer an kleinen Fallschirmen abzuwerfen.

    Offiziell kamen an der mexikanischen Grenze von September letzten bis September diesen Jahres 325 illegale Einwanderer zu Tode. Sie ertranken im Fluss, verdursteten in der Wüste. Sie wurden von Zügen überrollt, weil sie auf den Schienen schliefen - um sich vor den Klapperschlangen zu schützen. Im letzten Sommer erstickten 19 Menschen, gefangen in einem Lastwagen, der auf der texanischen Seite verlassen in der Sonne auf einem Parkplatz stand.

    Patrol Agent Harrick ist sich sicher, dass da draußen noch mehr Tote liegen, die nie entdeckt wurden.

    Das Leben sei cool hier sagt Nicolas, 15 Jahre alt. Fast alles sei besser: Die Schule, der Lebensstil, die Jobs und die Löhne. Er kam mit den Eltern vor drei Jahren aus Mexiko, legal sogar. Nicolas sitzt mit Freunden in der Mall von Laredo, Texas, und spricht davon, dass er studieren und Beamter werden will, vielleicht Polizist.

    Laredo, Texas, ist der wohl emsigste Posten an der Grenze. Tausende kommen täglich, endlose Fahrzeugschlangen schieben sich über die Brücken, auf den Schienen rattern unablässig Güterzüge. Die Stadt, eine der ärmsten der USA, ist fast vollkommen spanischsprachig, Englisch ist kaum zu hören. Laredo ist eine Durchgangsstation. Aber auch ein Ort der Hoffnung auf ein besseres Leben.

    Am anderen Ufer liegt das mexikanische Pendant – Nuevo Laredo. Das Nachtleben ist reger. Aber die Löhne sind miserabel. Die Kriminalität ist gewaltig. Wer zuviel fragt, wird schnell ermordet. Bei einer der großen Drogenbanden fand die Polizei neulich sogar Granatwerfer.

    Die Hispanics seien längst das Rückgrat der USA, sagt Aktivist Jesse, US-Bürger mit mexikanischen Vorfahren. Das Land würde im Nu zusammenbrechen, wenn all die Illegalen deportiert würden. Wer, fragt er, soll dann den Rasen nähen, unser Essen kochen, unser Geschirr abwaschen, und auf den Baustellen schuften?

    Aber die Grenzer passen auf. Hunderte Beamte sind unterwegs, Hunde schnüffeln Fahrzeuge nach Rauschgift und Menschen ab. Tag für Tag werden viele Neuankömmlinge geschnappt, draußen im weiten Land, an den Kontrollposten, auch in der Stadt. Sie werden ins hochmoderne "Processing Center" Laredo North gebracht.

    Die Neuankömmlinge durchlaufen einen Metalldetektor. Ein Spezialgerät prüft sie auf radioaktive Strahlung. Sie müssen ihre wenigen Habseligkeiten abgeben und landen dann in einem großen Raum. An der Außenseite sind elf Zellen mit Glasfenstern, in der Mitte ein großer Halbkreis von Tischen, in denen Computerterminals eingelassen sind. Auf schmalen Sitzstangen vor den Tischen nehmen die Aufgegriffenen Platz, werden vernommen und mit moderner Technik biometrisch erfasst. Seitdem sich die USA im Krieg gegen den Terror befinden, wurde auch hier technologisch nachgerüstet.

    Gerade werden vier Mexikaner im Transporter angeliefert, ein älterer und drei jüngere. Sie sind verschwitzt, erschöpft, staubig und halb verdurstet. Die Kleidung ist zerschlissen. Ihre Gruppe hatte sie zurückgelassen, nach drei Tagen Marsch. Sie konnten nicht mehr, hatten zu viele Blasen an den Füßen. Die Grenzer jagen jetzt den Rest der Gruppe, die anderen Illegalen, die da draußen den langen Marsch nach San Antonio wagen.

    Die Männer drängen sich auf der Stange vor dem vernehmenden Beamten. Sie sagen nicht viel.

    Ein Stück weiter sitzt eine junge Brasilianerin. Ihr kleiner Sohn schaut von seiner Zelle aus zu, interessiert und etwas ungläubig guckend. Mit den Fingern malt er auf der dicken Glasscheibe.

    Mutter und Sohn werden später einem Richter vorgeführt werden. Der Computer macht schon die Papiere fertig, den Haftbefehl und diverse Formulare. Der Beamte tippt, dann streift er grüne Gummihandschuhe über, walzt ihre Finger einzeln über den elektronischen Fingerabdruckscanner. Immer wieder verwirft der Computer das Ergebnis.

    Sie habe sehr schmale Finger, sagt er, während er beginnt, Fotos zu machen. Die Angaben zur Person und die Abdrücke werden derweil automatisch mit etlichen Datenbanken abgeglichen, beim FBI und anderen Behörden.

    Er warte jetzt auf das Booking, erklärt der Supervisor Garcia, ihre Abdrücke würden jetzt in das System eingebucht. Danach wird ihr eine FBI-Nummer zugewiesen. Die Rückmeldung wird darüber entscheiden, was weiter geschieht.

    Hinter den anderen Fenstern sieht man Männer, Frauen, Kinder. Manche hocken einfach da, andere dösen auf Matten am Boden. Eine Frau klagt bei der Zellenkontrolle über Bauchschmerzen.

    An einige Zellen steht VR – voluntary return – freiwillige Rückkehr. Mexikaner, gegen die nichts weiter vorliegt, werden zum nächsten Grenzübergang gebracht und zurückgeschickt.

    Gerade ist wieder eine Gruppe aufgerufen worden. Fünf junge Männer stellen sich vor ihrer Zelle artig in Reihe auf. Ihre Namen werden abgehakt, dann gehen sie im Gänsemarsch los, bekommen ihr Beutelchen ausgehändigt, und werden in einen Transporter der Grenzwache gesteckt. In 15 Minuten sind zurück in Mexiko. Sie sehen nicht glücklich aus. Sie werden es bald wieder versuchen.