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Die letzten Tage von Peking

Im Frühjahr 1900 bricht in Peking der Boxer-Aufstand los, der sich gegen den zunehmenden Einfluß ausländischer Mächte in China richtet. Monatelang werden im Diplomatenviertel Pekings europäische Missionare und Gesandte belagert. Schließlich dringt ein militärisches Expeditionskorps aus sieben verbündeten Nationen nach Peking vor und schlägt den Aufstand ebenso blutig nieder, wie er begann.

Gernot Krämer | 08.03.2000
    Mit diesem Expeditionskorps kommt im September 1900 auch der Schriftsteller Pierre Loti nach China, der als Offizier in der französischen Marine dient. In seinem Bericht Die letzten Tage von Peking schildert er die insgesamt siebeneinhalb Monate, die er in China zugebracht hat, zu einem Zeitpunkt, da es sich erstmals, wenn auch gezwungenermaßen, dem Westen öffnete. Obwohl er erst kurz nach Beendigung der Kämpfe in Peking eintrifft, gehört er zu den ersten Europäern, die den Kaiserpalast und die "Verbotene Stadt" zu sehen bekommen.

    Loti verschweigt nicht den Preis, den es gekostet hat: Die Straßen, Brunnen und Gräben sind von Leichen verstopft, an denen die Hunde nagen, über der ganzen Stadt liegt Verwesungsgeruch, und Tonnen von Schutt machen weite Teile fast unpassierbar. Dennoch ist er wie benommen von der Pracht der "Verbotenen Stadt", die er nach und nach entdeckt und beschreibt. Durch günstige Umstände kann er sich im verlassenen Palast der Kaiserin einquartieren, wo er auch Zeuge von Plünderungen durch Besatzer und Chinesen wird. Er selbst kann es nicht lassen, die weißen Pantoffeln der Kaiserin als Souvenir zu entwenden.

    Aber schon nach kurzer Zeit empfindet er sich und die anderen Europäer als "Barbaren", die einem kultivierten, wenn auch morschen Riesenreich den Todesstoß versetzt haben. In Gesprächen mit Zeugen der Belagerung enthüllen sich ihm nach und nach die dramatischen Ereignisse der letzten Monate. Geschickt sind diese Rückblenden in den Duktus des Tagebuches eingefügt. Nach nur vierzehn Tagen Aufenthalt wird Loti aus Peking abberufen, kehrt aber im folgenden Frühjahr noch einmal für längere Zeit zurück.

    Zu den eindrucksvollsten Passagen des Buchs gehört der Besuch, den Loti zwei überlebenden Boxer-Göttinnen abstattet. "Entrückte" nennt er sie, "die schreiend durch das Gewehrfeuer gingen, um die Soldaten mitzureißen", und fährt fort: "Sie waren die Göttinnen jener unbegreiflichen, zugleich wilden wie bewunderungswürdigen Boxer, jener großen Hysteriker des chinesischen Patriotismus, die von Haß und Wut gegen alles Fremde besessen waren". Jetzt, in Gefangenschaft, starren sie apathisch vor sich hin und bemühen sich, ihre Besucher gar nicht wahrzunehmen. Ein ungeschickter Versuch, ihnen Geld anzubieten, veranlaßt Loti zu der Bemerkung: "Es gibt solche Abgründe des Nichtverstehens zwischen europäischen Offizieren und Boxergöttinnen, daß wir ihnen selbst unser Mitgefühl in keiner Weise bezeugen können."

    Im Verlauf seines zweiten Peking-Aufenthaltes unternimmt er einen mehrtägigen Ausflug zu den Kaisergräbern im Süden. Diesmal wird er unterwegs von chinesischen Mandarinen mit großem Gefolge empfangen, und man gibt Feste zu seinen Ehren: Ihm eilt nämlich der Ruf voraus, "ein großer Mandarin der abendländischen Literatur" zu sein, wie er süffisant bemerkt. Was übrigens nicht falsch ist, denn um die Jahrhundertwende war Pierre Loti ein europäischer Bestseller-Autor.

    Sein Bericht endet mit dem Kapitel, das dem ganzen Buch den Titel gibt: Die letzten Tage von Peking. Warum also Die letzten Tage von Peking? Pierre Loti glaubte natürlich nicht, daß die chinesische Hauptstadt aufhören werde zu existieren. Er glaubte aber fest, Zeuge des Untergangs einer sehr alten und schon verbrauchten Kultur geworden zu sein, und daß diese Kultur in Peking ihren sinnbildlichen Ausdruck gefunden habe. Gegen Ende des Buches türmen sich Bilder des Verfalls, nunmehr nicht durch den Krieg verursacht, sondern, wie Loti suggeriert, durch die eigene Zerrüttung Chinas. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß Loti hier - bewußt oder unbewußt - Stimmungen des europäischen Fin-de-siècle auf China projiziert. Die breit und mit düsterer Melancholie ausgemalte Vision vom Untergang des Riesenreiches hat alles, was ein westlicher Décadent nur wünschen konnte, und gleicht auffallend den sattsam bekannten Szenarien vom Untergang des Römerreiches. Auch die ausländischen "Barbaren", die sein Schicksal besiegeln, fehlen ja nicht. Spätestens hier wird das China Pierre Lotis zum Mythos. Sein "Peking" ist schon halb ein Phantasma, eine Idee, die sich im Augenblick ihrer Berührung mit der westlichen Realität zu verflüchtigen scheint. Das zeigt nicht zuletzt die melancholische Reflexion, mit der er sein Buch, nach einem rauschenden Fest in der wiederhergestellten französischen Botschaft, ausklingen läßt:

    "Uns ist, als ob dieser Abend den Sturz Pekings unwiederbringlich besiegelt hat, den Sturz einer Welt. Was immer geschehen mag, [...] Peking ist dahin, sein Nimbus verloren, sein Geheimnis ans Licht gebracht. Diese 'Kaiserliche Stadt' war dennoch eine der letzten Zufluchtsstätten des Unbekannten und Wunderbaren auf Erden, eines der letzten Bollwerke uralter Kultur, unverständlich für uns und fast ein Märchen."