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Die Macht der Bilder

Die Terrorangriffe vom 11. September 2001 haben sich als Flut von Bildern in das Bewusstsein der Menschen eingebrannt. W.J.T Mitchell ist Professor für Kunstgeschichte und Englisch an der Universität Chicago und hat sich in seinem Buch "Das Klonen und der Terror. Der Krieg der Bilder seit 9/11" mit dem Thema auseinandergesetzt.

Von Angela Gutzeit | 11.09.2011
    Das Datum 9/11 ist zur Chiffre geworden - eingegraben wie ein Brandzeichen im Bewusstsein der westlichen Welt. Die in Echtzeit rund um den Globus empfangenen Bilder vom Zusammensturz der New Yorker Zwillingstürme im September 2001 markieren eine Zeitenwende. Aber vielleicht ist es erst jetzt möglich, zehn Jahre nach dem Anschlag auf eine der zentralen Ikonen amerikanischen Selbst- und Machtbewusstseins, Bilanz zu ziehen und dieser Wende und ihren Folgen umfassende Erklärungen abzugewinnen. Auf dem deutschen Buchmarkt sind es in diesem Jahr insbesondere zwei Studien, die wegen ihrer sorgfältigen Recherche und ihrer Originalität besondere Aufmerksamkeit verdienen: das im Frühjahr erschienene Buch "9/11. Der Tag, die Angst und die Folgen" des deutschen Historikers und Gewaltforschers Bernd Greiner. Und - das pünktlich zum Gedenktag vorliegende Buch "Das Klonen und der Terror. Der Krieg der Bilder seit 9/11" des amerikanischen Bildtheoretikers und Kunsthistorikers William John Thomas Mitchell.
    Beide Bücher haben einen provozierend radikalen Ansatz: Die wirkliche Bedrohung, sagen Greiner wie Mitchell, lauert im eigenen Lager, der eigentliche Feind nistet in der amerikanischen Gesellschaft selbst. Gemeint ist damit die beispiellose Inszenierung einer vermeintlich weltumspannenden terroristischen Bedrohung und die Durchsetzung politischer und militärischer Allmacht, die der engste Führungszirkel um den amerikanischen Präsidenten George W. Bush vom ersten Tag an in die Wege leitete und die bis heute, so die Autoren, ihre verheerende Wirkung entfaltet. Während der deutsche Wissenschaftler sich akribisch durch die Papierberge der Quellensammlung des von amerikanischen Historikern angelegten "National Security Archive" gearbeitet hat, ist der amerikanische Bildtheoretiker hinabgestiegen in die eher virtuellen Archive unseres Bildbewusstseins und seiner kulturellen Prägung.

    "Jede Geschichte..."
    schreibt Mitchell in seiner Einleitung,
    "... jede Geschichte besteht in Wirklichkeit aus zwei Geschichten. Da ist einmal die Geschichte des tatsächlich Geschehenen und zum anderen die Geschichte der Wahrnehmung des Geschehenen. Die erste Art von Geschichte konzentriert sich auf Zahlen und Fakten, die zweite auf Bilder und Worte, die den Rahmen bestimmen, in dem Zahlen und Fakten erst ihre Bedeutung erlangen."

    Dass Bilder ihr eigene Sprache haben, ist nicht neu. Mitchell baut auf Erkenntnissen auf, mit denen sich schon die altgriechischen Philosophen beschäftigt und die ihre Nachfolge in Denkmodellen gefunden haben, die sich heute zwischen Literaturtheorie, Linguistik und Kunstwissenschaft bewegen. Aber Mitchell nimmt insofern als Bildtheoretiker eine besondere Stellung ein, als er mit seiner vor über 15 Jahren verfassten Studie "Picture Theory. Essays On Verbal and Visual Representation" von 1994 den sogenannten "pictorial turn" ausrief. Gemeint ist damit eine Wende, die die Dominanz und Macht der Bilder in unserer heutigen Zeit der elektronischen Massenmedien betont. Das Interessante daran ist, dass Mitchell fragt, warum manche Bilder wirkungsmächtiger sind als andere. Was macht sie zu Ikonen unserer Zeit? Warum sind manche Bilder gefährlicher als jedes Waffenarsenal? Und wie kommt es, dass sie in der Lage sind, eine eigene Realität zu erschaffen? Diesen Fragen ist Mitchell mit den disziplinübergreifenden Forschungsansätzen der Bildwissenschaft auch schon in seinem Buch "What do Pictures want?" nachgegangen.
    Eigentlich, so betont Mitchell in seinem neuen Buch "Das Klonen und der Terror" habe er über die sprachlichen und visuellen Bilder im Krieg gegen den Terror schreiben wollen. Aber dann - und genau das ist für Mitchells Denken so typisch - sei ihm plötzlich ein weiteres Bild in den Sinn gekommen, das erstaunliche Analogien dazu aufweise: die Figur des Klons und des Klonens.

    "Die Klonkriege und der Krieg gegen den Terror haben sich in unserer Zeit miteinander verbunden und bilden nun das zusammengesetzte Ur- und Leitbild unserer Zeit, das Metabild, das die Bildwelt der Bush-Ära dominierte. Beides sind Metaphern, die man ins Buchstäbliche gewendet hat, Bilder, die real geworden sind. Die Biotechnologie machte aus dem Traum, die lebendige Kopie eines Lebewesens herzustellen, eine wissenschaftliche Realität, und der Krieg gegen den Terror verwandelte sich aus einer "bloßen Metapher" in eine nur allzu machtvolle und materielle Realität. Gemeinsam brachten sie so das Syndrom hervor, das ich "cloning terror", das "Klonen des Terrors", nenne, den Prozess, der dafür sorgt, dass der Krieg gegen den Terror die Zahl der Terroristen vergrößert und der Terror als Bild einer unsichtbaren, allgegenwärtigen Bedrohung sich noch weiter verbreitet."

    Grundlage dieses Gedankens ist die Beobachtung, dass Wissenschaft und Technik es geschafft haben, alles Mögliche zu vervielfältigen, unbegrenzt - sogar das Leben selbst. Der Mensch steht damit vor einem tief greifenden Wandel seiner Umwelt und seiner selbst. Mitchell sieht darin eine Überforderung, die archaische Ängste heraufbeschwört und die in Verbindung mit politischen Entscheidungen fatale Folgen haben kann. Zu Recht sagt er im Sinne Marshall McLuhans, das "globale Dorf" sei keine friedvolle Utopie, sondern ein Ort der Gefahr und der möglichen explosiven Gewalt.

    Der Computer, digitale Bildtechnik und die Entschlüsselung der DNA sind für Mitchell die entscheidenden Voraussetzungen für diesen Wandel. Der Computer hat die Darstellung des Bauplans menschlichen und tierischen Lebens ermöglicht. In greifbare Nähe gerückt ist damit auch das Klonen. Das versteht Mitchell nicht nur als biologischen Vorgang, sondern auch als eine eigene Form des Bildermachens, "das heißt der Erzeugung lebender Kopien lebendiger Organismen". Gleichzeitig ist es heute dank der digitalen Bildtechnik und einer Vielzahl neuer Medien möglich, Bilder in Sekundenschnelle um den Globus zu schicken - ungehemmt, unzensiert in ihrer millionenfachen Vervielfältigung.

    Die Regierung Bush, so Mitchell, habe die Bekämpfung der Stammzellenforschung bis zum Jahre 2001 zu ihrem zentralen Thema gemacht und dabei bewusst angstvolle Fantasien geschürt wie die vor industrialisierten Organbanken und der Produktion seelenloser Klone. Religiöse Konnotationen spielten dabei eine große Rolle, die an uralten Bildern rührten wie die Erschaffung Evas aus der Rippe Adams, ein göttliches Privileg, das dem Menschen nicht zusteht und im zweiten Gebot festgeschrieben ist: Du sollst dir kein Bildnis machen ...

    "Letztlich wurzelt die Angst vor dem Klonen in der Angst vor den Bildern und dem Bildermachen, einer der nachhaltigsten Phobien, die von den Menschen jemals entwickelt worden sind. Das Klonen ist die buchstäbliche Realisierung der ältesten Angst - und zugleich der ältesten Hoffnung - im Blick auf Bilder, nämlich, dass wir sie lebendig machen könnten."

    Dann kam der 11. September 2001 und eröffnete dieser Regierung mit dem Terroranschlag arabischer Extremisten auf das World Trade Center einen beispiellosen politischen Aktionsrahmen, den sie weit über die verfassungs- und völkerrechtlichen Grenzen ausdehnte, wie Bernd Greiner in seinem Buch dezidiert nachgewiesen hat. Dabei habe die Klonophobie, so Mitchell, als Subtext weitergewirkt und sich schließlich mit den Bildern des Terrors vermischt, da sowohl das Klonen - aufgeladen mit Sexual- und Fortpflanzungstabus - wie auch der Terror zum Inbegriff des radikal Bösen mutierte. In den vergangenen zehn Jahren produzierte gerade die amerikanische Filmindustrie eine wahre Fülle von Spielfilmen, in denen programmierte Klon-Armeen die Gesellschaft zu vernichten drohen. Eine Verbindung zum islamistischen Terror, der wie eine lebende, aber programmierte Bombe sein Ziel ansteuere und nach seiner eigenen Auslöschung sofort wieder ersetzbar sei, liegt nahe.

    Nun könnte man einwenden, dass der internationale Terrorismus, auf dessen Konto nicht nur der Tod von über 3000 Menschen in den New Yorker Zwillingstürmen geht, sondern auch der Tod weitere Opfer terroristischer Anschläge auf Bali, im nordossetischen Beslan oder im indischen Mumbai, keineswegs eine Phantasmagorie ist. Der Terrorismus ist eine ernsthafte Bedrohung, gerade weil ihre Protagonisten unauffällig agieren und sich aus ihrem weltweiten Umfeld scheinbar beliebig viele rekrutieren lassen.

    Aber das ist bei Mitchell gar nicht der entscheidende Punkt. Er will zeigen, dass der Krieg gegen den Terror, so wie er unter der Bush-Administration seinen Lauf nahm, zur Selbstzerstörung führen könnte, zur Vervielfältigung, zur Klonung des Terrors und damit zur Zersetzung durch Demoralisierung und durch Missachtung der gesetzlichen Grundrechte. Der französische Philosoph Jacques Derrida, dessen Spuren Mitchell immer wieder folgt, spricht in diesem Zusammenhang sogar von einer "Autoimmunkrankheit", die - ausgelöst durch Terror und Gegenterror - das gesamte Kollektiv der Weltgemeinschaft befallen könne.

    Für Mitchell spielen dabei Bilder eine entscheidende Rolle.

    So wie von der Zerstörung des World Trade Centers in einer Endlosschleife immer dieselben Bilder gezeigt wurden, so starteten auch die USA ihren geradezu skandalös begründeten Angriff auf den Irak zur besten Fernsehsendezeit. Ein Krieg der Bilder entstand, der sich, wie Mitchell ausführt, gegen die USA wendete, weil die wirkungsmächtigsten Bilder schließlich aus den eigenen Reihen kamen. Zuerst waren es die Bilder von immer mehr Särgen gefallener US-Soldaten, die die Befürchtung in der Bevölkerung verstärkten, je mehr Bomben im Irak und Afghanistan fallen würden, desto mehr klone sich der Terror in diesen wie in anderen Ländern.

    Aber dann kamen die Bilder aus dem amerikanischen Gefangenenlager Abu Ghraib im Irak. Das war im Jahre 2004. Und diese Bilder markieren für Mitchell die Wende im Krieg gegen den Terror. Plötzlich gelangten Aufnahmen von Folterungen arabischer Gefangener aus diesem Lager in die Öffentlichkeit. Die Digitaltechnik machte ihre umgehende Verbreitung über eine Vielzahl von elektronischen Medien möglich. Zu sehen waren nackte Männerkörper zu einer Pyramide gestapelt sowie auf dem Boden kriechende Gestalten, die an Hundehalsbändern geführt wurden. Ein weiteres zeigte einen mit Kot übergossenen Gefangenen - und schließlich gab es noch dieses Bild: Ein Folteropfer steht auf einer Kiste, er hat die Arme ausgebreitet, an seinen Gliedmaßen wie an seinem Geschlechtsteil sind Kabel befestigt. Über seinen Kopf hat man eine Kapuze gestülpt. Fällt er von der Kiste, so hatten ihm seine Peinigern signalisiert, werde er von Stromschlägen getötet. Das Foto hatte die im Lager tätige Sabrina Hartmann gemacht, angeblich um Grausamkeiten zu dokumentieren, die ihr einen tiefen Schreck versetzten. Der sogenannte "Bagman" oder "Kapuzenmann" hatte seinen Weg in die Medien und in das zunehmend verunsicherte Bewusstsein der amerikanischen Gesellschaft gefunden und entfaltete dort wie ein Virus seine Wirkung - als Ikone, als Wiedergänger, als Mahnmal, als Klon.

    "Wenn jemals ein Bild in den Kreisläufen der Massenmedien geklont wurde, dann dieses, und zwar sowohl im Sinne endloser Vervielfältigung als auch in dem weiteren Sinne, dass es ein "Eigenleben" erlangt, welches sich den Absichten seiner Produzenten widersetzt und sie sogar in ihr Gegenteil verkehrt. (...) Der Mann mit der Kapuze tauchte in aller Welt auf, im Fernsehen, im gesamten Internet, auf Protestplakaten, in Wandmalereien, Graffitis und Kunstwerken von Bagdad bis Berkley."

    Manches Mal wirkt diese 'biopolitische' Metapher vom Klonen in Zusammenhang mit dem Terror und dem Kampf gegen den Terror in Mitchells Buch etwas überstrapaziert. Aber der amerikanische Bildtheoretiker will sie wohl auch gar nicht wortwörtlich verstanden wissen, sondern als eine Art Denkhilfe. Er will einen Weg weisen, wie man politische, technische und mediale Entwicklungen aufeinander beziehen kann, um überhaupt noch in der Lage zu sein, eine Gegenwart zu verstehen, die uns in ihrer Überfülle an Bildern und Informationen zu entgleiten droht.
    Dabei ist sein größtes Verdienst in dieser Studie, wie er es versteht, die Verselbstständigung des Abu-Graib-Fotos nachzuweisen - und zwar auf den Terrain der Kunst. Die Frage, die ihn bewegt, ist die, warum gerade dieses Bild zur Ikone werden konnte oder - wie er es nennt - zum "Biobild", das er folgendermaßen charakterisiert:

    "Alle Elemente des Biobildes - augenblickliche Reproduktion und virusähnliche Ausbreitung; der Einbruch von Zwillingen, Doubles und Mannigfaltigkeiten in die Sphäre der öffentlichen, massenhaft konsumierten Bilder, Reduzierung des Menschen auf nacktes Leben oder auf ein bloßes Bild wie die Leiche, die darauf wartet, verstümmelt, ihres Gesichtes beraubt und vernichtet zu werden; der damit einhergehende Identitätsverlust und die Vervielfältigung von Bildern der Gesichts- und Kopflosigkeit, des akephalen Klons - vereinigen sich in der zentralen Ikone des Irakkriegs und sogar des gesamten Kriegs gegen den Terror. Ich meine natürlich das berühmt-berüchtigte Bild, das unter Bezeichnungen wie "der Kapuzenmann", "der Mann auf der Kiste" oder (einfach) der Abu-Ghraib-Mann" bekannt ist."

    W.J.T. Mitchell zeigt in diesem Kontext eine geniale Serigraphie von Forkscrew Graphics, angebracht in der Nähe einer New Yorker U-Bahnstation: In eine iPod-Werbetafel mit vielen Einzelbildern, die tanzende Gestalten mit wechselnden Armbewegungen zeigt, sind verstreut Abbildungen des Abu-Ghraib-Mannes auf der Kiste eingefügt. Zuerst sieht man nur einen Kapuzenmann, dann plötzlich einen weiteren und dann noch einen ... Wie ein Virus scheint er sich hier eingeschlichen zu haben und sich nun unaufhaltsam im Werbebild zu verbreiten. Ein weiteres Beispiel, eine Wandmalerei des irakischen Künstlers Sallah Edine Sallat, zeigt auf einem weiteren Podest neben dem Folteropfer die amerikanische Freiheitsstatue. Auch sie hat den Kopf verhüllt, aber ihre Kapuze hat Sehschlitze wie bei einem Ku-Klux-Klan-Habit - oder wie bei der Kapuze eines Henkers. Ihre erhobene Hand, die im Original die Fackel hält, bedient gerade den Stromkasten. Wichtig auch Hans Haackes Arbeit "Star Gazing", die einen Mann in rotem T-Shirt oder Overall zeigt mit einem blauen, sternenbesetzten Sack über dem Kopf. Offensichtlich kein arabischer Terrorismusverdächtiger, sondern ein Amerikaner - dargestellt als Opfer der Verblendung seiner eigenen Taten.

    Alle Arbeiten verweisen unmissverständlich mit nur wenigen Andeutungen auf das Folteropfer aus Abu Ghraib und verbinden es geschickt mit amerikanischen Emblemen, die ursprünglich in der einen oder anderen Form für Sinnbilder der Freiheit stehen, sich in dieser Kombination aber ins Gegenteil verkehren - in Zeichen für die Selbstzerstörung amerikanischer Freiheit und Souveränität.
    Wenn ein Foto, das von Amateuren angefertigt wurde, eine solche Wirkung entfaltet, dass ein Krieg dadurch seine letzte Legitimation verliert sowie die Sinn- und Würdelosigkeit seiner Mittel offenbar wird - und das obwohl im Internet ja auch Enthauptungsbilder von Amerikanern durch islamische Terroristen kursierten - , dann muss diesem Foto vom Abu-Ghraib-Mann eine besondere Kraft innewohnen, eine Verweiskraft, die noch aus anderen Quellen ihre Energie bezieht. So ist die Haltung des Kapuzenmannes oft in Beziehung zur Kreuzigung Jesu gesetzt worden. Mitchell folgt der Spur der christologischen Ausdeutung, indem er zum Beispiel die Haltung der Arme zwar nicht mit der Kreuzigungsszene vergleicht, aber mit der Gestik des auferstandenen Christus, der zum Zeichen des Willkommens und der Erlösung die Arme ausbreitet. Der Kunsthistoriker W.J.T. Mitchell geht sogar so weit, die Kopfverhüllung des gefolterten Irakers mit einem berühmten Motiv des verschleierten Mohammed zu vergleichen.

    Aber er ist sich auch der Ambivalenz des Folterbildes bewusst, das nicht nur eine typologische Identifizierung mit zentralen Gestalten der Weltreligionen zulässt, sondern auch, um eine Formulierung Walter Benjamins aufzugreifen, "Geschichte im Stillstand" zeigt. Das Bild löst Mitleid aus, aber auch Furcht. Furcht vor Rache im konkreten wie metaphorisch-biblischen Sinne oder Scham - wie Mitchell schreibt:

    "Deshalb hat dieses Bild 'zwei Körper' und changiert zwischen Souveränität und Erniedrigung, Terrorverdächtigem und Folteropfer, Kriminellen und Märtyrer. Es sorgt dafür, dass der amerikanische Betrachter sich zwischen zwei miteinander unvereinbaren Positionen gefangen sieht: einer Einfühlung in die Lage des Folteropfers und einer Komplizenschaft mit den hämischen Folterern. Die Scham, die ursprünglich die Aufnahmen dieser Szenen motiviert haben soll, kehrt nun verdoppelt zurück und verfolgt den Fotografen, den Betrachter wie auch die Nation und die Welt, die sie repräsentiert."

    Man mag den Ausführungen Mitchells in seinem Buch "Das Klonen und der Terror" nicht in allen seinen Gedankengängen folgen. Streitbar ist seine These, dass die Terroranschläge vom 11. September 2001 von den arabischen Terroristen von vorn herein darauf angelegt waren, die USA militärisch in den Irak zu locken und sie in einen aussichtslosen Kampf zu verstricken, der Weltmacht sozusagen ein zweites Vietnam zu bereiten und sie damit in die Knie zu zwingen. Bush sei genau in diese Falle getappt, so Mitchell. Das ist möglich, aber eben doch auch spekulativ. Auch steigert er sich so manches Mal in eine emotional gefärbte Wortwahl hinein, wenn er beispielsweise die Bush-Politik als "faschistisch" bezeichnet. Eine derart historisch belastete Wortwahl stört in diesem Buch, das ansonsten besticht durch seine kühnen Gedankenflüge und seine atemberaubenden Verknüpfungen verschiedenster Entwicklungen und Bilder unserer Zeit.
    Mitchells Studie "Das Klonen und der Terror. Der Krieg der Bilder seit 9/11" offenbart zudem Gedankengänge zum Umgang mit dem Terrorismus, die bedenkenswert, aber noch weit von ihrer Realisierung entfernt sind.

    "Die angemessene Strategie gegen internationalen Terrorismus ist nicht Krieg, sondern die Entwicklung rationaler, offener, staatlicher Institutionen eines internationalen Rechtssystems. 'Krieg gegen den Terror' heißt Öl ins Feuer gießen. (...) Zu dieser Strategie gehörte dann auch der Versuch, die operative Verantwortung für die Auseinandersetzung mit dem internationalen Terrorismus weitgehend in die islamische Welt zu verlagern und deren eigene Rechtstraditionen, ihre sozialen und politischen Netzwerke, die dortigen Tendenzen zur Modernisierung und Säkularisierung sowie die tief verwurzelte Verpflichtung des Islam auf Frieden und Gerechtigkeit für diesen Zweck zu nutzen."

    W.J.T. Mitchells Buch "Das Klonen und der Terror. Der Krieg der Bilder seit 9/11" ist ein lesenswerter, durch seine kühnen Gedankengänge auch imponierender Versuch, die unheilvolle Vermehrung und Zirkulation von Bildern, die den Terror wie den Kampf gegen den Terror befeuern, zu verstehen. Mit seiner Ermahnung, mit der Stimmgabel an die heutigen Konflikte in der Welt, die uns zu verschlingen drohen, heranzugehen und nicht mit Axt, weist sein Buch weit über das Ereignis des 11. September hinaus. Die gefährlichste Bedrohung für das Immunsystem einer Gesellschaft, schreibt Mitchell, sei die Amnesie, bei der Erlerntes vergessen wird, zum Beispiel, dass die Terroristen von heute die Verbündeten von gestern waren. Die Wahl Obamas zum amerikanischen Präsidenten wertet er als Atempause. Das Gefangenlager von Abu Ghraib im Irak wurde im Jahre 2006 aufgelöst, aber andere Lager, deren Schließung Obama in seinem Wahlkampf versprach, existieren weiter. Und das Bildarchiv von Abu Ghraib, das noch viel mehr Bilder des Schreckens bergen soll, wird nach dem Willen Obamas und des amerikanischen Militärs geschlossen bleiben.

    W.J.T. Mitchell: Das Klonen und der Terror. Der Krieg der Bilder seit 9/11, aus dem Amerikanischen von Michael Bischoff. Suhrkamp Verlag, 288 Seiten, 28,90 Euro.