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Die Moorleiche aus der Esterweger Dose

1939 stieß ein Arbeiter beim Torfstechen auf ein fast vollständiges Skelett. Die Untersuchungen ergaben, dass es sich wohl um eine Frau handelte, etwa 1,50 Meter, circa 20 Jahre alt. Nun erst wurde die Moorleiche genauer untersucht. Was dabei herauskam, erinnert fast an einen Forscherkrimi.

Von Barbara Weber |
    Wir stehen in unserem Moorausstellungsraum. Oldenburg. Landesmuseum Natur und Mensch. Professor Mamoun Fansa, Leitender Museumsdirektor, steht in einem hellen, großzügigen Raum des Gründerzeitgebäudes. Die dicken Holzdielen sind weiß gestrichen. Links an der Wand haben die Museumsmacher die Moorfunde in Schaukästen präsentiert: ein Lederumhang, vier dicke Holzräder, datiert auf 3000 vor Christus, zwei metergroße, stark stilisierte Holzfiguren, die an einem alten Bohlenweg gefunden wurden, von dem Archäologen ironisch "Verkehrszeichen" genannt.

    "Wir haben versucht, dass der Besucher direkt mit dem Moor und der Schichtung im Moor konfrontiert wird. Deshalb haben wir aus der Landschaft ein Moorprofil abgestochen, entsprechend präpariert und hier in einem Moorblock aufgestellt, wo wir dann auch die Moorleichen in diesen Moorblock integriert haben."

    Zwei bis drei Meter erhebt sich der dunkle Block und teilt den Raum. Hinter Glas, umgeben von der dunklen Torfmasse, liegen sie da: die Moorleiche Husbäke II, mit rotem Haarschopf und buschigen Augenbrauen, oder die aus Bockhorn-Jührdenerfeld. Nur die Moorleiche aus der Esterweger Dose sucht der Besucher vergeblich.

    "Die lag dann auch Jahre lang bei uns im Magazin."

    Als Skelett einer jungen Frau, vermutlich Mittelalter.

    "Da wir unsere Moorleichen, die eigentlich sehr aussagekräftig sind und museal auch sehr gut zu präsentieren sind, in unserer Dauerausstellung haben und die ungern auf Wanderschaft geben, haben wir an unsere Moorleiche, die im Magazin liegt, gedacht. Die wäre dann auch geeignet, um solche Wanderschaft mitzumachen, und wir haben dann gesagt, wir können diese Moorleiche nicht so einfach auf Wanderschaft geben, sondern wir müssen da vorher noch mal genau untersuchen und gucken, ob die Informationen, die wir von vor 60 Jahren haben, ob sie auch stimmen."

    Das Ende des Dornröschenschlafs. Die Überreste der vermeintlich jungen Dame gingen auf Reisen, erst in die Universitätsklinik Hamburg Eppendorf, dann nach Göttingen.
    Dort liegen - in einem braunen Pappkarton - die geschrumpften, schwarz verfärbten Knochen in einem Raum der Universität. Der Anthropologe Professor Michael Schultz hat die Endbegutachtung vorgenommen:

    "Die Untersuchungen der Kollegen der Rechtsmedizin in Hamburg haben also ergeben, dass es sich um ein Kind handelt. Wir haben das voll bestätigen können. Die Situation ist die, dass wir, wenn wir uns den Schädel hier einmal betrachten, erkennen können, wenn man da innen hineinschaut, dass dort ein Teil der Hirnhaut noch erhalten ist, erkennen auch hier, an dieser Stelle, wo im Bereich der Schädelbasis eine mit Knorpel verschlossene Naht normalerweise liegt, dass die noch nicht verwachsen ist, und das deutet darauf hin, dass es sich eben nicht um einen erwachsenen Menschen handelt."

    Was wohl kaum einer erwartet hatte: Nicht nur das Alter wurde die ganzen Jahre falsch eingeschätzt, auch das Geschlecht, denn es handelt sich um einen Jungen. Professor Michael Schultz stieß auf einen weiteren Befund, den er aber sicherheitshalber noch einmal am Max-Planck-Institut für Experimentelle Medizin bestätigen ließ:

    "Wir haben dann, und das ist eigentlich sehr, sehr interessant, am Unterschenkel des rechten Beines im unteren Teil, eine ovale, etwa bohnengroße Öffnung. Diese hat eine trichterförmige Konfiguration hier oben, und da können wir erkennen, dass das ein Prozess ist, der wohl entzündungsbedingt sich in den Knochen hineingefressen hat und zu dieser leichten trichterförmigen Abflachung geführt hat. So ein Prozess ist immer auf einer Knochenmarkentzündung zurückzugehen. Das sehen Sie hier an der Stelle, wo ich mit der Pinzette zeige, sehr deutlich, dass wir da keine Auflagerungen haben."

    Denn der neu gebildete Knochen baut sich durch die Säuren im Moor schnell ab.

    "So eine Knochenmarkentzündung ist äußerst gefährlich, weil in einer Zeit, wo es noch keine Antibiotika gab, natürlich sehr leicht jemand dann an einer Blutvergiftung versterben konnte, sodass man hier nicht ausschließen kann, dass es sich wahrscheinlich um eine Todesursache handeln könnte. Das ist hier wahrscheinlich."

    So birgt ein unscheinbares Skelett, das Jahrzehnte in einem Museumsmagazin fast in Vergessenheit geriet, neue wissenschaftliche Erkenntnisse. Doch für Mamoun Fansa ist das Ergebnis der Untersuchung nur ein weiterer Mosaikstein im Mittelalter Puzzle:

    "Natürlich, Archäologen gehen immer vom Material aus, was da ist. Und Archäologie ist eigentlich immer interdisziplinäres Fach, und da ist man natürlich darauf angewiesen, was die Anthropologen dazu sagen, und unsere Aufgabe: die Objekte in einen kulturhistorischen Kontext zu stellen."
    Wie sieht der kulturhistorische Kontext aus?

    "So im elften, zwölften Jahrhundert hat sich angefangen hier eine Kultur, die aus dem Süden kam, aus Mitteldeutschland, aus Südwestdeutschland, zu etablieren mit der Verschriftlichung, mit der Entstehung von Herzogtümern oder von Grafen. Zu dieser Zeit ist der Anfang von der Entstehung des Oldenburgers Landes beziehungsweise auch 1199 Graf von Oldenburg, der hier sein Territorium gegründet hat."

    Was bislang fehlt, sind Siedlungsspuren direkt vom Rande des Moores der Esterweger Dose im heutigen angrenzenden Landkreis Cloppenburg. Holzbohlenstege durch das Moor, um die Wege abzukürzen, sind schon seit der Eisenzeit überliefert. Dass die Menschen direkt im Moor gelebt haben, ist eher unwahrscheinlich. Doch systematische Grabungen fehlen. Andererseits geben Funde in der Stadt Aufschluss über die Siedlungsformen der Menschen damals.

    "Wir wissen, dass wir hier eine der ältesten Siedlungen in der Stadtmitte haben, wo wir auch nachweisen einige Häuser, die aus Holz gebaut worden sind. Das sind sehr kleine Häuser, die haben nicht mehr als fünf bis sechs Meter Länge und etwa zwei, drei Meter Breite."

    Um sich vor der Witterung zu schützen, bauten die Menschen auch kleine Grubenhäuser mit langgezogenen Dächern, die fast auf den Boden reichten. Das aus unserer Perspektive einfache, harte Leben wurde bestimmt durch die Natur.

    "Wir gehen davon aus, dass sie eigentlich überwiegend durch Landwirtschaft und Viehhaltung gelebt haben. Es gibt auch Belege, dass sie Kontakt zum mittel- beziehungsweise süddeutschen Raum hatten. Das sieht man anhand der archäologischen Funde, die aus verschiedenen Grabungen stammen, das dort Export stattgefunden hat, also auch besondere Objekte, die nicht hier in Oldenburg oder der Umgebung hergestellt worden sind, sondern auch aus Westfälischen und Kölner Bereichen. Wir haben hier eine wunderbare Scheibenfibel, die aus dem 11. Jahrhundert, die ist aus einer Werkstatt in der Nähe von Köln."
    Sogenannte Fibeln hielten damals die kurzen Gewänder zusammen. Ob der Junge aus der Esterweger Dose auch eine Fibel trug? Wir wissen es nicht, denn im dunklen Torf wurde damals nichts gefunden. Aber was das Skelett des Kindes verrät: Der Junge wurde nicht vernachlässigt. Er wurde trotz Behinderung versorgt. Spuren von Hungersnot zeigen die Knochen nicht. Auch Spuren von Gewalteinwirkung konnten die Wissenschaftler nicht erkennen. So ist der Knabe wahrscheinlich wirklich eines natürlichen, wenn auch schmerzhaften Todes gestorben.

    Mamoun Fansa u. a. (Hrsg.): Das Kind aus der Esterweger Dose
    Dokumentation einer außergewöhnlichen Skelett-Moorleiche

    Schriftenreihe des Landesmuseums Natur und Mensch, Heft 74,
    Isensee-Verlag Oldenburg, 2010