Doch die Beschränkung auf die Porträts engt die Schau keineswegs ein - was sie als Fotografin auszeichnet, ist an ihnen abzulesen: ihre große technische Meisterschaft, ihr Blick für ungewöhnliche Situationen und vor allem ihre Fähigkeit, sich mit anderen Menschen zu identifizieren. Das zeigt sich nicht nur, wenn sie Künstler bei der Arbeit oder mit ihren Werken fotografiert, sondern auch bei ihren Porträts von Soldatinnen der britischen Marine und von Frauen, die während des Krieges Männerarbeit verrichteten.
Von ihrem Mentor und Liebhaber Man Ray lernte sie in Paris die einfache Direktheit, die gerade ihre frühe Porträtarbeit auszeichnet - sie fotografiert vor neutralem Hintergrund, mit klarem, hellem Licht. Er brachte sie auch mit den Surrealisten zusammen, deren Denken immer wieder in ihre Arbeit einfließt: Charlie Chaplin scheint einen Lüster auf dem Kopf zu balancieren, der Kopf des amerikanischen Künstlers Joseph Cornell wächst aus einem Modellboot heraus.
Den Krieg verbrachte sie zunächst in London und ließ sich 1942 bei der amerikanischen Armee als Kriegsberichterstatterin akkreditieren. Ab 1944 begleitete sie die GI’s auf ihrem Vormarsch durch Frankreich. Am 25. August traf sie, als erste alliierte Kriegsfotografin, im gerade befreiten Paris ein und machte sich auf die Suche nach ihren Künstlerfreunden, die sie seit Ausbruch des Krieges nicht mehr gesehen hatte. Pablo Picasso war einer der ersten, den sie fand und fotografierte - er hatte, während draußen geschossen wurde, wie besessen weiter gearbeitet. Ihr erstes Foto von ihm zeigt ihn in seinem Atelier, umgeben von diesen fast noch feuchten neuen Arbeiten. Jean Cocteau, in dessen 1930 gedrehtem Film "Le Sang d’un Poète” sie eine griechische Statue gespielt hatte, fotografierte sie in den Kollonaden des Palais Royal, wo der elegante Dandy eine Wohnung hatte. Seine Nachbarin Colette blickt, fast wie eine Wahrsagerin, in eine gläserne Kugel.
Mit diesen und anderen Porträts aus der Zeit wollte sie zeigen, dass die Kultur, dass die Kreativität des Menschen die Barbarei überlebt hatte. Ganz besonders deutlich wird das bei ihrem Porträt von Irmgard Seefried vom September 1945. Sie hatte die junge Sopranistin in der Wiener Staatsoper als Mimi in "Madame Butterfly” bewundert. Am nächsten Tag fotografierte sie sie in einem ausgebombten Teil des Opernhauses, die Arme ausgebreitet, singend - selbst in den Ruinen kann und soll Kunst entstehen.
Nach 18 Monaten ununterbrochener Kriegsberichterstattung kehrte sie dann 1946 erschöpft zu ihrem zweiten Gatten, dem englischen Künstler und Sammler Roland Penrose, nach England zurück. In einen Bauernhof südlich von London, und dort entstanden ihre vielleicht wärmsten und humorvollsten Porträts - von Freunden, die zu Besuch kamen, und auf dem Bauernhof mit Hand anlegten: Alfred Barr, Gründer und Direktor des Museum of Modern Art in New York, mit Hut und Jackett, füttert die Schweine, der italienische Maler Renato Guttuso sticht Kopfsalat im Küchengarten, der Karikaturist Saul Steinberg verheddert sich in einem Gartenschlauch. Die Direktheit und Spontaneität dieser Fotos ist ansteckend und findet sich in solchem Masse nur noch auf ihren vielen Porträts von Picasso, der sich ihr, wie keinem anderen Fotografen, über Jahre hinweg öffnete.