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Die neue, alte Sexualmedizin

Der Psychoanalytiker, Sexualtherapeut, Sozialpsychologe und Naturforscher Wilhelm Reich war zeitlebens umstritten. Der Erfinder der "Orgon"-Therapie hatte mit seinen Thesen von freier Sexualität, die zu einer Neuordnung der Gesellschaft führen sollte, vor allem in der 68er-Bewegung Anhänger. In Berlin ging man nun zum 50. Todestag von Reich auf einem von der Wilhelm-Reich-Gesellschaft veranstalteten Kongress der Frage nach, wie aktuell die Arbeit des Wissenschaftlers heute ist.

Von Eva-Maria Götz | 08.11.2007
    " Lebensenergie, die er "Orgon" nannte, ist ja dass, was in allen lebendigen Organismen strömt, das ist das, was das Lebendige vom Toten unterscheidet, und die Frage: was ist das eigentlich und was ist Leben eigentlich, das war die zentrale Frage für Wilhelm Reich, "

    sagt die Ärztin und Vorsitzende der "Wilhelm- Reich Gesellschaft" Dr. Heike Buhl. Reich, im Jahr 1897 in Galizien geboren, beschäftigte sich schon früh mit der Psychoanalyse. Ein Seminar über Sexualität machte den Jura- und Medizinstudenten der Wiener Universität auf Siegmund Freud aufmerksam, noch als Student wurde er Mitglied der Wiener Psychoanalytischen Gesellschaft und begann mit 23 Jahren als Analytiker zu praktizieren. 1927 veröffentlichte er seine "Orgasmustheorie", der zufolge die orgastische Potenz ein Zeichen seelischer Gesundheit sei. Aus dieser Anschauung entwickelte er später sein Konzept der Lebensenergie. Heike Buhl:

    " Sexualität und Lebensenergie bedingen sich ja gegenseitig, das ist eigentlich so: die Sexualität ist Ausdruck der Lebensenergie, wir können, wenn wir einen verspannten Körper haben, die Energie nicht fließt, Sexualität natürlicherweise nicht lustvoll empfinden. "

    Nach dem Bruch mit Siegmund Freud ging Wilhelm Reich nach Berlin, trat der Kommunistischen Partei bei und gründete den "Verband für proletarische Sexualpolitik" kurz: Sexpol genannt, mit dem er einerseits auf die Umwälzung und Erneuerung der Gesellschaft durch ein unverkrampftes Verhältnis zur Sexualität hinarbeitete, anderseits aber auch Gesundheits- und Familienplanungsberatung anbot. Seine Idee von der Lebensenergie, die mittlerweile über das Sexuelle hinausging, entwickelte Wilhelm Reich immer weiter, auch, nachdem er 1933 Deutschland verlassen musste und zunächst nach Skandinavien emigrierte. Sozialwissenschaftlerin und Biographieforscherin Prof. Annelie Keil:

    " Die Dynamik der Lebensenergie ist: wir kommen mit einem bestimmten Quantum zur Welt, so hat das Reich mal gesagt, das wir nicht messen können. Aber jetzt, so ist die Frage: wird diese Energie gestärkt, wird sie behindert, wird sie gefördert, wächst ein kleiner Mensch über sich hinaus, später nennen wir das Früh- oder Spätentwickler, das ist höchst unterschiedlich. Wir haben ein bestimmtes Potential, ein unendliches Potential, eine Entwicklungsmöglichkeit, aber die Zeit, die Gesellschaft, die Familie geben uns eine Möglichkeit das zu entwickeln oder auch nicht. Das heißt, letztlich muss man sagen, wir entwickeln immer nur einen Teil von dem, was möglich gewesen wäre. "

    Diese Lebensenergie müsse sich doch messen und medizinisch nutzen lassen, meinte Wilhelm Reich, der sich nach seiner Emigration in die USA im Jahr 1939 mehr als Naturwissenschaftler denn als Psychoanalytiker verstand. Das Ergebnis dieser Forschungen war auf der Berliner Konferenz zu besichtigen: der "Orgon- Akkumulator" zur Umwandlung kosmischer Energie. Es handelt sich um eine Holz- Metallkiste von der Größe eines Besenschrankes (oder: Dixieklos), in dem die Patienten auf einem Hocker sitzen. Heike Buhl:

    " Das war eigentlich mehr ein Zufallsfund im Rahmen seiner Untersuchungen, dass er festgestellt hat, dass eine bestimmt Schichtung von organischem und anorganischem Material, genauer gesagt Stahlwolle und Schafswolle nimmt man dazu, dass diese Schichtung Lebensenergie konzentrieren kann und hat Kästen gebaut, in denen er zunächst Krebsmäuse behandelt hat, und da hat er festgestellt, dass die dadurch in größerem Maße wieder gesundet sind. Er hat sie dann auch auf Menschen angewendet und wir haben dazu Studien vorliegen, die die Wirksamkeit dieser Orgonakkumulatoren belegen, und haben auch eine Studie hier in Berlin gemacht mit schwerkranken Krebspatienten, wo festgestellt wurde, dass die Schmerzempfindung deutlich zurückgegangen ist. Die Patienten konnten von Morphium wieder auf Aspirin zurückgehen, und haben wesentlich mehr Kraft gehabt, um ihre Sachen noch mal anzugehen, das was ihnen noch wichtig war im Leben zu erledigen. "

    Für Wilhelm Reich war die Auswirkung seiner Erfindung weniger segensreich. Die amerikanische Gesundheitsbehörde verbot den Vertrieb der Akkumulatoren und verhaftete Reich wegen Scharlatanerie und Kurpfuscherei. Er starb 1957 im Gefängnis. Seine Ideen zur freien Sexualität blieben bestehen und erlebten in den 60er und 70er Jahren eine große Renaissance. Auch seine Theorien zu einer ganzheitlichen Medizin unter Berücksichtigung asiatischer Heilmethoden erfreuen sich bis heute steigender Beliebtheit. In der klassischen Psychotherapie allerdings ist Wilhelm Reich nur eine Randfigur, wie Professor Klaus Beier, Direktor des Instituts für Sexualmedizin der Berliner Charite erläutert:


    " Es gab anfänglich Berührungspunkte zur frühen Sexualwissenschaft, aber die Entwicklungen sind dann doch deutlich anders verlaufen, weil sich die Sexualwissenschaft sehr stark konzentriert hat auf klinische Fragen zur Diagnostik und Therapie von Sexualstörungen, und grade bei Wilhelm Reich eine Metaebene zu diesem Aspekt angestrebt wurde, in Richtung eines gesellschaftlichen Umbaus, der dann umgekehrt dafür sorgen sollte, dass gar keine sexuellen Störungen mehr zustande kommen. Es ist (auch) belegbar, dass viele Symptome gestörter Sexualität zurückgehen auf Besonderheiten der Erlebnisverarbeitung, die ich will nicht sagen losgelöst von der gesellschaftlichen Ebene, aber doch eine gewisse eigene Dynamik aufweisen, und ein gutes Beispiel ist dafür ja die pädophile Neigung. Wenn sich diese Struktur im Kindesalter hin aus bildet, dann wird auch ein Umbau der Gesellschaft nicht dazu führen, dass sie verschwindet, sondern diese Betroffenen müssen bis zu ihrem Lebensende diese Neigung kontrollieren können. "