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Die neuen Fremden

Sie putzen die Wohnungen, pflegen die Großeltern, bauen Häuser: Ohne Ausländer ist der griechische Alltag gar nicht mehr vorstellbar. Migranten schließen all die Lücken, die die Griechen auf ihrem eigenen Arbeitsmarkt nicht mehr schließen wollen oder können. Sie tun dies mal mit, mal ohne Papiere. Auf mindestens 1,2 Millionen Ausländer wird ihre Zahl geschätzt, jeder zehnte Einwohner Griechenlands ist ein Migrant.

Mit Reportagen von Anna Koktsidou, Redakteur am Mikrophon: Thilo Kößler | 14.06.2008
    Das kleine Land am Rande Südosteuropas ist in den letzten fünfzehn Jahren unwiderruflich zum Einwanderungsland geworden: Magnet für die Nachbarn aus dem Balkan, die hier Arbeit suchen, aber auch für die Flüchtlinge aus Afrika, Asien und dem Nahen Osten, die ihr Leben aufs Spiel setzen, um nach Griechenland und Europa zu gelangen.

    Doch während sich das Land an die Arbeitsmigranten aus Albanien oder Georgien gewöhnt hat, gewährt es den Flüchtlingen und illegalen Immigranten nicht einmal minimalen Schutz. Während der politische Druck auf die griechische Regierung wächst, haben die Einwanderer nicht geringste Hoffnung auf eine bessere Zukunft.

    Auch, weil es immer schwieriger wird, die Mauern der Festung Europa auf legalem Wege zu überwinden, probieren es jährlich Zigtausende auf illegalem Wege - und nehmen dabei immer größere Risiken in Kauf. Niemand weiß, wie viele Menschen bei diesen Flüchtlingsdramen ums Leben kommen.

    Fluchtpunkt Südeuropa, Schauplatz Mittelmeer: Neben Italien, Spanien und Malta wird zunehmend Griechenland zum Ziel der Flüchtlinge. Sie versuchen, über die Türkei und das östliche Mittelmeer nach Samos, Lesbos oder Chios zu kommen, auf eine jener griechischen Inseln also, die schon vom türkischen Festland aus zu sehen sind. Die griechischen Behörden sind überfordert - und geraten zunehmend in die Kritik, seit Flüchtlingsorganisationen ihnen im Herbst vergangenen Jahres systematische Menschenrechtsverletzungen vorwarfen: Von skandalösen Übergriffen der griechischen Küstenwache ist die Rede. Von einem Asylrecht, das internationalen Mindeststandards nicht gerecht wird. Und von untragbaren Zuständen in überfüllten Auffang- und Flüchtlingslagern.

    Patras im Südwesten Griechenlands. Die Hafenstadt am Ionischen Meer nennt sich "Tor nach Europa" - und das nehmen die Boat-people aus Afghanistan, die hier gestrandet sind, wörtlich: Sie hausen in einem Elendsquartier ohne Wasser und Strom; sie haben keinerlei Hoffnung, als Flüchtlinge oder Asylbewerber anerkannt zu werden; sie wollen nur noch weg - und so hoffen sie darauf, dass Patras für sie zum Tor nach Nordeuropa wird.

    Flüchtlingsnot in Patras: Die zerstobenen Hoffnungen auf ein besseres Leben in Europa

    Die Hafenpromenade von Patras. Auf der einen Seite der Straße das Meer und die großen Fähren, die nach Italien fahren. Auf der anderen Seite neue, schicke Mehrfamilienhäuser mit Blick auf das Wasser und auf das Camp der Afghanen, das an ihr Grundstück grenzt: Dort stehen rund einhundert armselige Hütten: aus Holzpaletten die Böden, aus Pappe die Wände und die Dächer. Darüber Plastikplanen, mit Seilen und Schnüren festgebunden. Sie sollen ein bisschen Schutz vor Wind und Wetter bieten:

    Said steht am Eingang des Lagers - er ist 22 Jahre alt, klein und schlank. Said lebt nicht im Lager - er hat nach langem Hin und Her ein Zimmer in Patras gefunden. Als Asylbewerber hat er die sogenannte rosa Karte bekommen. Damit hat er das Recht zu arbeiten - er jobbt auf Baustellen, hilft bei den Behörden als Dolmetscher aus und verdient sich so ein bisschen Geld. Fast täglich kommt er ins Lager, um zu übersetzen - er kennt hier jeden und alle kennen ihn.

    "Den Strom zapfen sie illegal an. So viele Menschen ohne Strom, das geht nicht. Sich den Strom von den Leitungen zu holen, ist gefährlich - einmal ist schon jemand ums Leben gekommen. Aber was sollen sie machen? Die Behörden drehen den Strom immer wieder ab, aber sie gehen wieder drauf, manchmal zehn mal am Tag, ab und an, ab und an."

    Mit dem Strom werden Fernseher oder Radiogeräte betrieben, hier und dort auch ein Kühlschrank. Gekocht wird allerdings fast immer auf Feuerstellen im Freien.

    "Auch das Wasser wird geklaut. Da hinten in dem Graben sind zwei Schläuche. Die müssen für alle reichen. Das ist natürlich nur kaltes Wasser. Wer seine Teller abspülen will, muss sich anstellen, wer duschen will, auch, und manchmal gibt es Mord- und Totschlag darüber, wer zuerst drankommt."

    Am Graben stehen ein paar Männer, um Fleisch für ihr Abendessen zu spülen. Weiter oben putzt sich jemand die Zähne. Ein anderer wäscht Wäsche. An manchen Stellen stinkt es nach Kloake. Es gibt keine sanitären Anlagen, als Toiletten dienen die Büsche oder eben der Graben. Doch insgesamt versuchen die Männer, das Camp trotz der menschenunwürdigen Verhältnisse so sauber wie möglich zu halten.

    In einer Ecke des Grundstücks wird gerade eine größere Hütte aus Pressspannplatten gebaut - ein paar Griechen haben sich zusammengetan, um den Flüchtlingen Sprachunterricht zu erteilen. Der überwiegende Teil der Bewohner von Patras reagiert jedoch ablehnend, manche sogar feindselig. Die Einwanderer sind nur willkommen, wenn sie als Schwarzarbeiter zu Niedrigstlöhnen gebraucht werden, klagt Said, aber sonst werden sie wie Aussätzige behandelt:

    "Kein Mensch kümmert sich hier um Flüchtlinge. Im Fernsehen berichten sie jeden Tag nur Schlechtes über die Ausländer. Die Menschen in Patras haben vor uns Flüchtlingen Angst. Als ob wir keine Menschen wären. Um eine Duldung zu verlängern, braucht man auch eine Wohnung, aber niemand vergibt eine. Sobald der Vermieter weiß, dass es Afghanen sind, sagt er nein."

    Said lächelt müde, seine Augen glänzen, die Haut ist fahl. Er hat leichtes Fieber, doch anstatt in seinem Zimmer zu hocken oder zum Arzt zu gehen, kümmert er sich lieber um seine Landsleute. Said lebt seit vier Jahren in Griechenland. Seitdem kämpft er auch mit den Behörden um seinen Aufenthalt.

    "Ich bin hier geblieben, weil ich dachte, ich kann hier leben. Etwas aufbauen. Ich war zwölf, als ich aus Afghanistan weggegangen bin, ich sehnte mich nach einem besseren Leben. Inzwischen bin ich müde, manchmal will ich nicht mehr. Seit zehn Jahren bin ich unterwegs und hier ist es nicht gut, aber zurückzugehen wäre wohl viel schlimmer."

    An die 900 Afghanen leben momentan in diesen Hütten - nur Männer, vom zwölfjährigen Jungen bis zum 30 bis 35-jährigen Erwachsenen. Sie haben alle eine lange Reise hinter sich, so wie der 20jährige Server, ein schlanker, hochgewachsener junger Mann, mit kurzgeschnittenen Haaren, die er sich sorgsam aus dem Gesicht gekämmt hat. Auch er ist um Würde bemüht. Server verließ sein Land vor fünf Jahren, seit 20 Monaten ist er in Griechenland:

    "Ich musste aus Afghanistan weg, weil dort mein Leben in Gefahr war. Mit meiner Familie sind wir nach Pakistan gegangen. Von dort bin ich in den Iran weitergeflohen. Aber die Iraner sind noch extremistischer. Und so bin ich weitergezogen. Und dann kam ich hierher. Heute zweifele ich daran, dass das die richtige Entscheidung war. Wenn ich mich in Afghanistan frei bewegen könnte, würde ich zurückgehen."

    Server schaffte die Flucht mit einem Boot von der türkischen Küste auf die Insel Samos, Einzelheiten will er nicht erzählen. Von Samos ging es nach Athen und von dort nach Patras. Hier fühlt er sich wie ein Gefangener und führt das Leben eines Illegalen: immer auf der Hut, immer auf der Flucht. Und tatsächlich lauert überall die Polizei, erzählt er. Wer nach draußen geht und sich nicht ausweisen kann, wird verhaftet. Ende Januar machte die Polizei Jagd auf die illegalen Einwanderer und versuchte, das Camp zu räumen. Es kam zu heftigen Protesten - die Afghanen gingen in ihrer Verzweiflung auf die Straße, unterstützt von örtlichen Menschenrechtsgruppen.

    "Die meisten Männer sind hier, weil sie keine Papiere haben. Wenn sie gefasst werden, kommen sie für drei oder vier Monate ins Gefängnis und müssen dann noch eine Strafe von 100 Euro bezahlen."

    Allerdings wird kaum einer abgeschoben - wohin denn auch? Vielmehr erhalten die Flüchtlinge die Auflage, sich selbst um ihre Ausreise zu kümmern. Die meisten bleiben weiterhin illegal im Land. Flüchtlingspolitik auf griechisch. Server schüttelt den Kopf.

    Es zehrt an ihm, keinerlei Perspektive zu haben. Nachts schleichen die Männer vom Camp auf das Hafengelände, klettern über die Abgrenzung und versuchen, sich an die Lastwagen zu hängen, um auf die Fähren zu gelangen. Meistens werden sie entdeckt und weggejagt, manchmal verhaftet. Nur die wenigsten schaffen es hinüber, meistens die, die Geld haben. Bis zu den Polizeirazzien ging auch Server jeden Tag an den Hafen, aber er hatte Pech, sagt er. Jetzt schaut er vom Grundstück aus auf das Meer - als würde er irgendwo am Horizont den Ort suchen, der ihm ein besseres Leben verspricht:

    "Ich möchte dieses Meer überqueren, ich will auf die andere Seite, in ein anderes Land der europäischen Union. In Griechenland gibt es keine Zukunft für mich. Ich habe hier absolut keine Chance auf ein besseres Morgen. Deswegen muss ich weg."

    Die Europäische Union rüstet zwar an ihren Außengrenzen immer weiter auf und versucht, die Armutsflüchtlinge mit millionenschwerem Aufwand abzuwehren - doch allein mit Patrouillenbooten, Nachtsichtgeräten und Bewegungsmeldern ist der illegalen Migration nicht beizukommen. Die Not sucht sich immer neue Wege. Und das bleibt der Öffentlichkeit meistens verborgen.

    "Die Wahrheit mag bitter sein, aber sie muss ans Licht", überschrieben im Herbst letzten Jahres die Menschenrechtsorganisation Pro Asyl, der Europäische Flüchtlingsrat ECRE und eine Gruppe von griechischen Anwälten ihren Bericht über die Situation an der griechischen Grenze zur Türkei: Darin erhoben sie schwere Vorwürfe gegen die griechische Küstenwache und sprachen von systematischen Menschenrechtsverletzungen: Bootsflüchtlinge würden regelmäßig abgefangen, eingeschüchtert und zur Umkehr gezwungen, mehr noch: Geschlagen und misshandelt, ins Meer geworfen oder auf unbewohnten Inseln ausgesetzt. Der Bericht stützte sich auf Aussagen von über 100 Augenzeugen und Betroffenen. Die Athener Regierung kündigte eine Untersuchung an. Das Ergebnis liegt noch immer nicht vor.

    "Wir benutzten so ein kleines Boot zum Aufpumpen. Wir fuhren etwa gegen zwei Uhr nachts los. Nach sechs Stunden auf dem Meer erreichten wir endlich die griechische Küste. Etwa 300 Meter vor der Insel Lesbos wurden wir von der Küstenwache entdeckt. Es war ein schnelles, weißes Boot. Sie umkreisten uns mit großer Geschwindigkeit. Die Polizisten warfen uns eine Leine zu und wir wurden an Bord geholt. Wir waren müde, völlig erschöpft und wollten nur noch schlafen. Wir legten uns auf den Boden. Die Polizisten schrieen: "Nicht schlafen, sitzen!" Sie haben uns getreten. Ein anderes Schiff wurde gerufen. Sie gingen ruppig mit uns um, als sie uns auf dieses Schiff brachten. Wir flehten sie an: Wir sind Menschen, bitte helft uns.

    Das Schiff fuhr zurück. Sie warfen unser Boot knapp zwei Kilometer vor der türkischen Küste ins Wasser. Danach wurden wir mit Gewalt auf das Boot zurückgetrieben. Sie machten vorher ein kleines Loch und gaben uns nur ein Paddel. Verzweifelt paddelten wir, um das Ufer zu erreichen. Doch wir waren so erschöpft. Nach knapp einer Stunde gaben wir auf. Wir dachten: Jetzt müssen wir sterben. Das Wasser war ganz ruhig. Nach einiger Zeit schliefen wir ein. Dann kam ein großes Schiff und rettete uns."

    Allein im Mai wurden 57 boat-people vor Samos aufgegriffen, 95 vor Farmakonissi, 26 vor Patmos und 300 vor Leros. Die Überfahrt ist nicht nur wegen der Wellen und wegen des Windes gefährlich - die Boote drohen immer wieder auch zwischen die Fronten der beiden Erzrivalen Griechenland und Türkei zu geraten: zwischen dem türkischen Festland und den griechischen Ägäis-Inseln gibt es praktisch keine internationalen Gewässer - die Hoheitsgebiete beider Länder stoßen in den schmalen Meerengen unmittelbar aneinander; so müssen die türkischen und griechischen Patrouillenboote aufpassen, dass sie nicht auf die andere Seite geraten und auf diese Weise Zwischenfälle provozieren. Trotzdem versuchen sie, die Flüchtlingsboote auf die andere Seite abzudrängen.

    An der Landgrenze zwischen der Türkei und Griechenland ist es genauso gefährlich - dort sind immer noch ganze Abschnitte vermint. Die Minenfelder sind zwar markiert, aber in der Dunkelheit schwer auszumachen. Nach Angaben der Vereinten Nationen hat es dort in den letzten zehn Jahren 100 Tote gegeben - doch das schreckt offenbar niemanden ab: Allein im letzten Jahr wurden an dieser Grenze am Fluss Evros17.000 Flüchtlinge aufgegriffen.

    Flucht über Minenfelder: Die Landgrenze zwischen der Türkei und Griechenland bei Evros

    Wenn Skarlatos Kyralanis auf seine Felder geht, kann er besonders gut das türkische Programm im Autoradio empfangen. Dilofos, sein Dorf, liegt 500 Meter Luftlinie von der türkischen Grenze entfernt, seine Äcker reichen bis direkt an den Grenzfluss Evros heran. Auf der einen Seite des Ufers gehen die türkischen Bauern ihrer Arbeit nach, auf der anderen die griechischen, morgens rufen sie sich Grüße zu, "kalimera" auf der einen und "merhaba" auf der anderen Seite. Der Fluss ist hier nicht mal einhundert Meter breit und eigentlich ganz leicht zu überqueren - es ist scheinbar nur ein ganz kleiner Schritt in die Europäische Union:

    "Manchmal kommen sie mit einem Plastikboot rüber. Manchmal schwimmt einer mit einem Seil vor, macht es fest und zieht die anderen an das Ufer. Das geschieht meistens nachts. Morgens finde ich immer wieder liegengelassene Boote oder Ruder. Es kommt auch vor, dass sie um Hilfe bitten. Ich habe sie auch schon zur Polizei oder zum Militär gebracht, wenn sie danach gefragt haben. Das ist das Mindeste, was ich tun kann."

    Skarlatos Kyralanis ist Anfang fünfzig, das Gesicht rosig von der Arbeit im Freien, das helle Haar lichtet sich allmählich. Mit seinem 30jährigen Sohn bewirtschaftet er 2000 Ar Land. Weizen, Baumwolle, Linsen, Raps, Tomaten, Zuckerrohr. Damit ist er nicht nur von einer Ernte abhängig. Skarlatos Kyralanis ist Bauer mit Leib und Seele, und wenn es sein muss, arbeitet er rund um die Uhr:

    "Einmal bin ich nachts aufs Feld gegangen, um zu wässern und weil ich nachschauen wollte, ob alles in Ordnung ist. Auf einmal sah ich im Scheinwerferlicht meines Autos eine schwarze Gestalt. Ich bin so erschrocken - so eine Angst habe ich noch nie in meinem Leben gehabt. Ein schwarzer Mann sprang auf und verschwand. Ich ging zur Polizei, aber sie konnte ihn nicht finden. Am nächsten Tag holten die Fischer eine Leiche aus dem Fluss. Ich weiß nicht, ob es wirklich dieser Mann war, aber er sah ihm sehr ähnlich."

    Der Fluss ist eben doch nicht so leicht zu überwinden, sagt Kyralanis. Manche Flüchtlinge können nicht schwimmen, manche sind krank, oder sehr geschwächt, andere laufen in die Minenfelder, die die NATO-Partner Griechenland und Türkei auf beiden Seiten dieser Grenze errichtet haben. Die Minenfelder sind zwar umzäunt und Totenkopfschilder warnen vor Zutritt. Trotzdem gibt es Flüchtlinge, die den Maschendraht zerschneiden und hinein gehen, Kyralanis hat es einmal selbst beobachtet: Ihm stockte der Atem, als er das sah, und er hatte schreckliche Angst, dass die Männer auf eine Mine treten könnten. Doch wie durch ein Wunder blieben sie unversehrt. Anschließend benachrichtigte er das Militär.

    Kyralanis muss den Knopf seines Autoradios nur ein kleines Stück weiterdrehen und schon hört er bulgarischen Rundfunk. Bulgarien liegt nur sieben Kilometer entfernt und wird immer mehr zum neuen Fluchtpunkt seit das Land Mitglied der EU ist. Illegale Einwanderung gab es an dieser Grenze schon immer, aber jetzt nimmt sie zu, glaubt Skarlatos Kyralanis:

    "Im Herbst und im Winter kommen viel mehr Menschen als zu den anderen Jahreszeiten. Vielleicht arbeiten sie ja den Sommer hindurch, um Geld für die Passage zu verdienen. Die müssen ja dafür sehr viel bezahlen. Ein Grieche nimmt 2000 Dollar, um sie von hier bis nach Athen zu befördern. Da kann man sich ja vorstellen, was die Türken nehmen, um sie von der irakischen Grenze bis nach Evros zu bringen. Das ist doch eine Riesenstrecke! Wenn sie im Winter kommen, ist es kalt und es regnet. Das Wasser im Fluss steigt an. Aber wahrscheinlich denken sie, sie können zu dieser Zeit unbemerkt rüberkommen. Von uns ist im Winter keiner draußen, es ist dann hier menschenleer."

    Wahrscheinlich verdient sich der eine oder andere etwas hinzu, indem er den Flüchtlingen weiterhilft, vermutet Kyralanis. Ihm fällt auf, dass die Flüchtlinge zielstrebig immer dieselben Orte ansteuern, fast alle hätten Mobiltelefone dabei und folgten den telefonischen Anweisungen. Doch kaum ein Schlepper würde gefasst. Die Flüchtlinge dagegen, die vom Grenzschutz aufgegriffen würden, kämen auf Polizeistationen unter, und dort sollen die Verhältnisse schwierig sein, es gebe kaum Platz und die Polizisten hätten Angst vor eingeschleppten Krankheiten. In der Nachbargemeinde gebe es ein nagelneues Aufnahmezentrum, aber ob das für alle Neuankömmlinge reiche?

    Kyralanis ist zu Hause angekommen - das Haus, in dem er mit seiner Frau wohnt, ist groß, zu groß für sei beide. Der ältere Sohn betreibt in Orestiada, der nächstgelegenen Kreisstadt, ein Restaurant. Dort hat auch der Jüngere, der mit dem Vater arbeitet, ein kleines Appartement. Im Dorf leben nur noch 300 meist ältere Menschen. Doch beschaulich ist es hier nicht:

    "Das Leben hier ist schwer, unser Einkommen schwankt jedes Jahr, mal geht die Ernte gut, mal nicht. Wir sind von der Außenwelt regelrecht abgeschnitten. Wir Männer sind ja wenigstens den ganzen Tag auf den Feldern beschäftigt und lenken uns dadurch ab. Aber die Frauen! Sie leiden. Sie sind Tag und Nacht nur zu Hause. Ich falle abends müde ins Bett und schlafe, während meine Frau wach liegt und horcht, ob jemand ans Fenster klopft. Manchmal haben wir schon Angst - zum Beispiel wenn wir hören, dass in der vergangenen Nacht schon wieder 20 Menschen über den Fluss gekommen sind. Hier gibt es selten gute Nachrichten. Keine Geburt, keine Taufe, keine Hochzeit. Nur Minenfelder und Messen für die Toten."

    Dabei hat Kyralanis Verständnis für die, die kommen - sie kämen aus nackter Not, sagt er. Skarlatos Kyralanis weiß selbst, wie es ist, wenn man geht und alles zurücklässt. Er hat sein Glück in Deutschland versucht, wie viele aus seinem Dorf, die hier keine Arbeit mehr gefunden haben. Aber Kyralanis hat es nicht lange in Deutschland ausgehalten, er musste wieder auf seine Felder zurück. Aber für die Flüchtlinge gebe es keinen Rückweg mehr:

    "Wir können die Menschen nicht aufhalten. Ich glaube, sie würden nicht kommen, wenn es ihnen zu Hause gut ginge."

    Das EU-Mitglied Griechenland sieht sich wegen seiner Flüchtlings- und Asylpolitik immer schärferer Kritik ausgesetzt: Die EU-Kommission geht vor dem Europäischen Gerichtshof gegen die griechische Asylpolitik vor. Und das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen forderte die europäischen Staaten auf, keine Flüchtlinge mehr nach Griechenland abzuschieben - denn nirgendwo sonst in Europa ist die Anerkennungsquote so niedrig wie in Griechenland: sie liegt bei 0,6 Prozent.

    Doch nur wenige Staaten halten sich an das Verdikt. Die anderen berufen sich auf das Abkommen von Dublin, das die Abschiebung von Asylbewerbern regelt - und zwar immer in das Land, in dem die erste Einreise registriert wurde. Das benachteiligt die Mitgliedstaaten an den Außengrenzen der EU, klagt Griechenland - sie hätten die Lasten alleine zu tragen. Das Dublin-Abkommen müsse überarbeitet werden: Athen mahnt europäische Solidarität an. Und schafft an den Außengrenzen weiter Fakten.

    "Wir waren etwa 25 bis 27 Personen, als wir den Fluss Evros überquerten. Wir liefen auf griechischem Boden, als wir von Uniformierten entdeckt wurden. Sie forderten uns auf, stehen zu bleiben, und sie schossen in die Luft. Wir wurden gestoßen, sogar meine kleine Tochter. Neun aus unserer Gruppe wurden verhaftet, die anderen entkamen. Wir wurden in ein Gefängnis gebracht, dort verbrachten wir zwei Nächte.

    Die Haftbedingungen waren schrecklich. Mein Kind leidet an Herzproblemen. Wir waren der Gnade der Polizisten ausgeliefert. Die palästinensischen Mitgefangenen wurden geschlagen. Am Dienstag, dem 20. März 2007, nahm die Polizei uns gegen vier Uhr morgens alle mit. Sie fuhren uns mit einem Lastwagen weg. Wir wurden zum Fluss gebracht. Dort waren ungefähr 150 Flüchtlinge aus dem Irak, Somalia, Eritrea, Algerien, Iran und so weiter. Die Polizisten zwangen uns - immer in Gruppen von 20 bis 30 Personen - in ein Boot zu steigen. Wir wurden zum anderen Ufer des Evros gebracht - auf die türkische Seite. Ein griechischer Mann machte den Transport. Er fuhr hin und wieder zurück. Ich wurde mit meiner kleinen Tochter in der Nähe der türkischen Seite ins Wasser gestoßen, und das Boot fuhr weg."

    1989 wurde Griechenland praktisch über Nacht zum Einwanderungsland - erst kollabierte der Ostblock, dann implodierte Jugoslawien. Damals kamen auch die Albaner - bis heute die größte Gruppe unter den eineinhalb Millionen Ausländern. 600.000 Köpfe zählt die Gemeinschaft der Albaner in Griechenland. Viele versuchen, das neue Einwanderungsgesetz für sich zu nutzen - es gibt ihnen die Möglichkeit, eine Aufenthaltserlaubnis zu bekommen, allerdings nur, wenn sie einen festen Job nachweisen können und eine gewisse Gebühr entrichten. Viele arbeiten unter Bedingungen, unter denen andere nicht arbeiten würden - zum Beispiel in Drama, einer Kleinstadt im Norden.

    Heimweh im Herzen und Schwielen an den Händen: Albaner im Norden Griechenlands

    Die Schneidemaschine ist mehrere Meter hoch und bewegt sich auf Schienen hin- und her. Die Arbeiter legen Stahlstäbe für den Zuschnitt in den Lauf; anschließend bündeln sie die Stäbe und befördern sie auf einen bereitstehenden Lastwagen. Fremde werden in der Anlage nicht gern gesehen, zu groß ist die Angst vor Unfällen. Dabei haben die Arbeiter selbst weder Helm noch Handschuhe an:

    "Du kannst keine Handschuhe tragen bei dieser Arbeit. Vergangenes Jahr bin ich mit den Fingern hier hängen geblieben. Hätte ich Handschuhe getragen, dann wäre mir die Hand abgetrennt worden. Wenn der Handschuh in der Maschine hängen bleibt, bekommst du die Hand nicht mehr heraus. Der Helm? Na ja, der hängt da in der Ecke herum, er ist unpraktisch, du musst ja den Kopf ständig senken, hochheben. Aber bisher ist ja nichts passiert."

    Prepari Bekio ist circa 1,65 Meter groß, schlank und drahtig. Seine Haut ist gebräunt, sein Gesicht voller tiefer Falten - die Spuren der harten Arbeit im Freien. Er ist erst 36, sieht aber zehn Jahre älter aus. Prepari ist der einzige Ausländer im Betrieb. Er verdient 40 Euro am Tag, um die 800 im Monat. Ein Tagelöhner, wie es sie viele in Griechenland gibt, Einheimische wie Zugewanderte. Wenn das Wetter schlecht ist, gibt es kein Geld. Prepari findet das in Ordnung, der Chef würde ja an solchen Tagen auch nichts verdienen, meint er. Mit ihm kommt er gut klar, jeder kann sich auf den anderen verlassen. Vor allem: Prepari ist sozialversichert und kann damit die nötigen Arbeitstage vorweisen, ohne die er seine jährliche Aufenthaltsgenehmigung nicht bekäme:

    "Man braucht viele Papiere und ein Tag reicht nicht aus, um alles zu regeln, ich muss mir dann immer frei nehmen. Für die Aufenthaltserlaubnis muss ich auf jeden Fall 150 sozialversicherungspflichtige Arbeitstage pro Jahr nachweisen, und ich muss 150 Euro für ein Jahr bezahlen, und dann noch 150 Euro für meine Frau."

    Ein paar Stunden später sitzt Prepari frisch geduscht mit seiner Familie im Wohnzimmer seiner Wohnung. Vier Zimmer, 110 Quadratmeter, zweiter Stock Altbau ohne Aufzug in der Innenstadt von Drama. Während die Griechen in die grünen Randlagen der Stadt ziehen, wo sie sich geräumige Einfamilienhäuser mit Garten und Garage zulegen, kommen immer mehr Migranten in die engen Gassen des Zentrums. Albaner, Ukrainer, Griechen aus der ehemaligen Sowjetunion. Um die Ecke wohnen auch die Verwandten von Prepari, ein Bruder, diverse Cousins und Cousinen mit ihren Ehepartnern und Kindern. Die Wohnungen hier sind bezahlbar und die Bekios zufrieden mit dem, was sie erreicht haben:

    "In Albanien gab es keine Arbeit, kein Geld. Für die Arbeit, die ich hier mache, hätte ich in Albanien zwei bis drei Euro am Tag verdient. Hätte ich meinen Vater anbetteln sollen: gib mir Geld, damit ich Zigaretten kaufen kann, oder um mit einem Freund einen Kaffee zu trinken? Mein Vater hat bis 1990 Arbeit gehabt. Jetzt ist er 62. Eine Rente hat er nicht. Wenn ich ihm kein Geld schicken würde, könnte er sich nicht mal einen Kaffee leisten."

    Geld schickt Prepari auch anderen Angehörigen, erst letztes Jahr hat er die Hochzeit einer seiner Schwestern ausgerichtet. Um das alles stemmen zu können, arbeitet er auch schwarz, als Maler, Fliesenleger, Elektriker, Gärtner. Seit zehn Jahren ist Prepari in Griechenland. Er kam, wie alle Albaner damals, illegal über die Grenzen. Natürlich war es gefährlich, erzählt er. Auf dem Weg über das Gebirge begegnete er Bären und Wegelagerern. Und Grenzpolizisten. Zwei Mal wurde er von der griechischen Polizei aufgegriffen und abgeschoben. Beim dritten Mal schaffte er es bis nach Drama, wo er Verwandte hatte. Die verschafften ihm Jobs, erst bei einem Schafhirten, dann am Bau. Prepari hat an der neuen Autobahn, die von Komotini im Osten bis Thessaloniki im Westen führt, geteert und Steine geschleppt. Er fand einen Chef, der bereit war, ihn zu versichern, bekam so eine Aufenthaltserlaubnis und konnte Feride, seine Frau nachholen.

    Feride setzt sich mit dem Neugeborenen dazu, der kleine Alexander ist in Griechenland geboren, so wie das mittlere Kind, die achtjährige Christina. Rückblickend sieht alles so einfach aus, sagt sie, aber als Prepari nach Griechenland kam, hatte er noch nicht mal Geld, um sie anzurufen.

    "Neun Monate lang hatte ich nichts von ihm gehört. Von wem hätte ich auch etwas erfahren sollen, von den Brieftauben? Ich war so in Sorge. Am Anfang war es hier sehr schwer für mich. Ich konnte die Sprache nicht, ich fühlte mich, als wäre ich stumm. Die Menschen auf der Straße fragten mich, wie spät es ist und ich konnte ihnen nur meine Armanduhr hinhalten."

    Doch jetzt sprechen alle griechisch, auch die 34jährige Feride, und zwar so gut, dass die Verständigung problemlos klappt. Ab und zu putzt sie in griechischen Haushalten, doch mit dem Baby hat sie inzwischen nur noch wenig Zeit dafür. Prepari und Feride wollten eigentlich nicht für immer in Griechenland bleiben. Aber mittlerweile haben sie sich ganz auf ihre neue Heimat eingestellt und tun alles, damit ihre Kinder sich nicht mehr als Fremde fühlen müssen.

    Antigoni kommt nach Hause, sie ist die Älteste. Auch sie hat einen griechischen Vornamen. Das sei ein reiner Zufall und keinesfalls ein Zeichen von Anpassung, sagt ihr Vater. Die Zwölfjährige kommt vom Englischunterricht, obwohl sie eine der Besten in ihrer Klasse ist, nimmt sie noch Privatstunden. Die Kinder sollen es einmal besser haben als sie, betont Prepari und zeigt stolz Antigonis Schulzeugnisse. Er setzt auf Fleiß und Ehrlichkeit, das sei Voraussetzung, um voranzukommen, und um Misstrauen und Vorurteile abzubauen:

    "Wir sind gekommen, weil wir Arbeit gesucht haben. Wir wollten ein Haus bauen und dann zurückkehren. Aber so wie es sich entwickelt, sehe ich keine Rückkehr. Das Haus in Albanien ist fast fertig. Aber werden wir da jemals wohnen? Vielleicht ein, zweimal im Jahr, wenn wir dort zu Besuch sind. Vielleicht später mal, wenn wir in Rente sind. Aber die Kinder, die werden garantiert nicht mehr zurückgehen, die haben ihre Zukunft hier."

    "Als ich auf das Schiff der Küstenwache gebracht wurde, haben sie uns gleich geschlagen. Ich dachte doch: Wir sind jetzt frei, in Griechenland, in Europa, Menschenrechte und so. Aber es lief nicht so gut. Die Beamten haben die Leute verprügelt. Dann haben sie gemerkt, dass ich Englisch spreche, und dann war ich dran. Zuerst haben sie mich gepackt und verhauen. Sie haben mich gefragt: "Woher kommst Du?". Ich habe gesagt: "Aus Palästina". "Und wo seid ihr abgefahren?" "In Libyen", habe ich gesagt. Mit was für einem Schiff - erinnerst Du Dich an die Farbe, an den Namen?". "Ich hab gesagt: Ich weiß nicht mehr, welche Farbe, welcher Name". "Okay", haben die von der Küstenwache gesagt, "du lügst". Dann haben sie mich geschlagen, einen Eimer geholt und meinen Kopf ins Wasser getaucht. "Na, kannst Du Dich jetzt erinnern`?", fragten sie. "Nein, ich erinnere mich nicht". Sie haben mich zum Heck des Schiffes gebracht, damit keiner meiner Freunde mich dort sehen könnte. Sie haben meinen Kopf immer wieder untergetaucht, und gefragt: "Erinnerst Du Dich immer noch nicht?". Ich habe gesagt: "Bitte tut mit nicht weh, ich will nur Freiheit, ich wünsche mir eine gute Zukunft, bitte helft mir dabei!""

    Die Flüchtlingsorganisation Pro Asyl und der Europäische Flüchtlingsrat ECRE, die im vergangenen Jahr 100 Betroffene interviewten, berichten von mehr oder weniger gleich lautenden Klagen über Schikanen und Misshandlungen durch die griechische Küstenwache. Sie fordern eine lückenlose Aufklärung der Vorgänge auf dem Mittelmeer. Sie fordern, dass Flüchtlingsboote nicht mehr zurückgeschickt werden. Sie fordern freien Zugang zu fairen Asylverfahren, ein Verbot der obligatorischen Inhaftierung, menschenwürdige Unterbringung und einen besseren Schutz von Minderjährigen.

    Hinter all diesen Missständen stecken Verstöße gegen die Genfer Flüchtlingskonvention. Und sie offenbaren politische Defizite: So wenig, wie es in der EU eine aufeinander abgestimmte, gemeinsame Migrationspolitik gibt, so wenig gibt es in Griechenland ein schlüssiges Konzept für die Asyl-, Flüchtlings- und Zuwanderungspolitik - auch die griechische Regierung steht dem Phänomen der Migration ratlos gegenüber.

    Das gilt auch für die Integrationspolitik - nur langsam wächst die Erkenntnis, dass Griechenland zu einem Einwanderungsland geworden ist. Und nur zögerlich beginnt die Debatte darüber, wie darauf zu reagieren ist - schlüssige Antworten stehen noch aus: So bleibt es bei der Verwaltung des Mangels. Staatlich geförderte Sprachkurse zum Beispiel gibt es noch immer nicht. Nur engagierte Eigeninitiativen.

    Sprachkurs im do-it-yourself-Verfahren: Eine Privatinitiative versucht dem staatlichen Mangel zu begegnen

    Die Zigarette in der linken, den Stift in der rechten Hand - so steht Amalia vor ihren Schülern. Eine kleine, pummelige Frau Anfang fünfzig, mit kurzgeschnittenen grauen Haaren und einer runden, blauen Brille. Auf dem Flipchart schreibt sie griechische Verben auf und erklärt den Unterschied zwischen "ich wasche" und "ich wasche mich", zwischen "ich wasche" und "ich spüle" und "ich mache sauber".

    Vor ihr sitzen im Halbkreis an den Bistrotischen zehn Männer, vom 18- bis zum Fünfzigjährigen. Allesamt Flüchtlinge, die auf ihre Asylentscheidung warten, oder Arbeitsmigranten, die schon ihre Papiere haben. Dazwischen zwei spanische Studentinnen, die für ein halbes Jahr nach Athen gekommen sind. Amalia unterrichtet nicht mit einem Lehrbuch. Sie stellt das Material nach den Bedürfnissen der Schüler und ihren eigenen Vorlieben zusammen: sie sucht Gedichte und Lieder aus, die zu den Themenfeldern passen, die sie bearbeitet:

    "Ich gehe davon aus, dass es Menschen sind, die wenig Kontakt zur griechischen Sprache haben, wenn sie nicht sogar Analphabeten sind. Für solche Menschen muss ich einen anderen Zugang suchen. Wir beginnen mit den Vokabeln, die für die tägliche Kommunikation wichtig sind.. Zum Beispiel für den Bereich Arbeit, das Thema ist ja lebensnotwendig für sie. Mein Wunsch ist, ihnen ein anderes Fenster zu Griechenland zu öffnen"

    Der Kurs findet jeden Freitag Nachmittag im "Steki ton metanaston" statt, dem "Treffpunkt der Migranten" im Athener Stadtteil Exarchia, dem Stadtteil der Alternativen, Intellektuellen und Anarchisten. Es ist ein kleines Haus, in einer engen Gasse; der Treffpunkt wird von verschiedenen Hilfsgruppen organisiert und bietet Sprach- und Computerkurse, Diskussions- und Kulturabende an. Der Unterricht von Amalia findet im Café statt. Die Wände sind ockerfarben, die Fenster rotbraun gestrichen, das Nebenzimmer in grün gehalten. So bunt, wie die Menschen, die hier ehrenamtlich arbeiten, so bunt wie die Migranten, die aus aller Herren Länder kommen.

    Nach der Grammatik wird der Text lauthals vorgelesen und dann wird gemeinsam gesungen - ein auf griechisch übersetztes Gedicht von Federico Garcia Lorca. Alle machen mit, der 20jährige Kurde aus Syrien genauso wie der 30jährgie Iraner oder der fünfzigjährige Ägypter - und die Studentinnen aus Spanien geben sich ebenfalls große Mühe. Amalia ist es wichtig, dass auch ein paar EU-Bürger im Kurs sitzen, davon profitieren alle, ist sie überzeugt. Deswegen holte sie sich auch Unterstützung von Beniat. Der 26jährige Baske ist Musiklehrer. Er bringt seine Gitarre mit und begleitet die Männer beim Gesang, während Amalia in der Ecke steht und ihre nächste Zigarette raucht. Beniat lebt seit zwei Jahren in Athen. Der Grund war eine Griechin gewesen, in die er sich in Spanien verliebt hatte. Die Liebe zerbrach, noch bevor Benat umgezogen war, aber er kam trotzdem. Als EU-Bürger musste er sich ja nicht den Kopf zerbrechen über ein Visum, eine Aufenthaltsgenehmigung oder eine Arbeitserlaubnis:

    "Meine Reise war ja so einfach. Ich stieg ins Flugzeug und das wars. Viele von den Jungs hier sind zu Fuß über die Berge gekommen, sind durch das Meer geschwommen oder mussten rudern. Alles unter Lebensgefahr. Natürlich profitiere ich auch als Musiklehrer vom Unterricht, ich lerne viele griechische Lieder kennen und ein paar Brocken kurdisch oder bulgarisch. Aber das ist nicht alles. Als Migrant fühle ich mich verpflichtet zu helfen. Als Bürger dieser Welt tragen wir alle Verantwortung."

    Mit fast mütterlichem Blick schaut Amalia auf ihre Truppe. Die burschikose Frau in Jeans, Lederweste und Turnschuhen ist bei den Männern hoch angesehen. Sie hat ihnen schon griechische Tänze beigebracht und geht mit ihnen ins Theater. Wer seine Frau zu Hause lässt und alleine kommt, wird von ihr freundlich, aber bestimmt aufgefordert, den Kurs zu verlassen. Als bekennende Feministin will sie das nicht dulden. Sie zündet sich eine neue Zigarette an.

    Von Beruf ist Amalia Spanischlehrerin, mit Kursen verdient sie sich den Lebensunterhalt. Sie hat lange in Spanien gelebt und sich immer in linken Kreisen engagiert - beispielsweise eine Schule für die Indios in Chiapas unterstützt. Doch irgendwann sagte sie sich: es kann nicht sein, dass ich der Welt helfe, aber wenn die Welt vor meiner Haustür steht, tue ich nichts. Seitdem gibt sie ehrenamtlich Griechischunterricht. Praktizierende Solidarität nennt sie das:

    "Also, wer keinen Spaß daran hat, sollte lieber zu Hause bleiben. Ich liebe das, was ich tue. Ich liebe die Jungs. Ich verstehe immer besser ihre Probleme, ich bin Teil ihrer Welt, so wie sie inzwischen auch Teil unserer Welt geworden sind. "

    "Sie haben eine Plastiktüte genommen und mir über dem Kopf gestülpt. Damit haben sie mir die Luft abgeschnitten. Ich konnte nicht mehr atmen. Dreimal haben die das gemacht. Ich habe gesagt: "Bitte macht das nicht". "Sag uns die Wahrheit und wir lassen Dich laufen.". Dann haben sie eine Pistole genommen. "Siehst Du diese Pistole?", haben sie gefragt. "Ja, ich sehe sie!". "Willst Du, dass ich Dich umbringe? Also, wenn Du nicht die Wahrheit sagst…". Dann haben sie die Pistole an meinen Schädel gehalten und abgefeuert, direkt über meinem Kopf. Alle meine Freunde dachten, ich wäre tot. Ich bin nicht wütend wegen dieser Sache. Aber ich will den Polizisten sagen: Bitte macht so etwas nicht mit anderen Leuten. Die kommen hierher, um in Frieden zu leben. Die sind aus ihrem Land geflohen wegen des Krieges!"

    Abschotten, abschrecken, abschieben - in Zukunft will sich Europa nicht darauf beschränken, gegen die illegale Migration vorzugehen. Bereits seit 1999, seit dem Gipfeltreffen von Tampere, zeichnen sich die Grundzüge einer gemeinsamen europäischen Migrations- und Zuwanderungspolitik ab. Der Festung Europa sollen wieder Türen eingebaut, die Möglichkeiten legaler Einwanderung verbessert und erweitert werden. Die Blue Card ist da nur ein Beispiel, Saisonarbeit ein anderes. Die EU will Migration künftig steuern - weil die Erkenntnis wächst, dass die Europäische Union Zuwanderung braucht.

    Die jüngsten Vorschläge zielen auf einen europäischen Pakt für Immigration und Asyl ab - das Zuwanderungs- und Asylrecht soll harmonisiert werden, es soll eine engere Zusammenarbeit mit den Herkunftsländern geben, Entwicklungspolitik und Migrationspolitik sollen künftig Hand in Hand gehen. Schließlich ist die Rede von einem europäischen Integrationsvertrag, der nach dem Prinzip des Forderns und Förderns Kenntnisse von Sprache, Kultur und Lebensstilen vermitteln soll.

    Am Ende wird sich aber der alltägliche Umgang miteinander nicht staatlich regeln lassen - Toleranz und Offenheit gegenüber Fremden kann man nicht verordnen. Migration ist keine Bedrohung, sondern eine Bereicherung - diese Botschaft versucht eine Theatergruppe in Athen zu vermitteln. "Einer von zehn" heißt ihr Stück, weil jeder zehnte in Griechenland ein Ausländer ist. "Einer von zehn" wurde zum Renner der diesjährigen Theatersaison.

    Einer von zehn - ein Theaterstück über den Alltag von Migranten in einer fremden Umgebung

    Das Theater Neos Kosmos in Athen. Drei junge Männer - ein Albaner, ein Georgier und ein Bulgare - stehen auf der Bühne; sie denken über ihre Vergangenheit in der Heimat nach und erzählen über ihr Leben in Griechenland. Von ihren Landsmännern Mareglen, Kostia und Ivan, die sich nun Marios, Konstantinos und Jannis nennen - sie haben sich griechische Namen gegeben, weil sie dazugehören und akzeptiert werden wollen. Die Sehnsucht nach Akzeptanz zieht sich wie ein roter Faden durch das Theaterstück "Einer von zehn". Es ist eine Sehnsucht, die alle Migranten kennen, sagt der Bulgare Kris, einer der drei Schauspieler:

    "Es geht hier um all jene, die gezwungen sind, ihren Namen zu ändern, nur damit sie nicht als Ausländer wahrgenommen werden. Doch wer das macht, löscht seine Vergangenheit aus. Und ich glaube nicht, dass ein Mensch glücklich sein kann, wenn er seine Vergangenheit aus seinem Leben streicht. Es gibt auch Chefs, die das verlangen. Das erzählen wir im Stück auch. Mir selbst ist das ebenfalls passiert. Christos sollte ich heißen, obwohl mein Name Krastin ist. Ich hab mich geweigert. Ich nenne mich jetzt Kris, ich meinen Namen einfach gekürzt."

    Kris steht im Unterhemd auf der Bühne, den durchtrainierten Körper so angestrahlt, dass die muskulösen Oberarme gut zur Geltung kommen. Er erzählt wie es ist, als Ausländer vom griechischen Arbeitgeber ausgebeutet zu werden oder gezwungen zu sein, sich für ein paar Euro zu prostituieren, weil man Geld braucht, um die Beamten bei der Ausländerbehörde zu bestechen. Auch er sei anfangs auf der Straße von Männern angemacht worden, erzählt Kris und er fragt sich bis heute, ob er als Grieche auch so unverblümt angesprochen worden wäre. Als Pizzaboy wiederum musste er sich sagen lassen, dass er doch als Bulgare bitte nett und höflich sein solle, damit er keinen Ärger bekomme - und mit der Polizei war auch nicht immer zu spaßen:

    "Anfangs, als ich nach Griechenland kam, wurde ich ständig kontrolliert. Einmal lief ich auf der Straße, vor mir zwei Pakistani, hinter mir zwei Chinesen, ich, der Europäer in der Mitte, ich der Weiße, um jetzt mal meine Ressentiments loszuwerden. Die Polizisten greifen mich heraus. Hey Jungs, sagte ich dann, wieso denn ich, der Weiße? Seht ihr die anderen nicht? Ich musste zur Überprüfung mit auf die Wache, aber als sie sahen, dass ich auf die Schauspielschule ging und etwas Seriöses mache, waren sie dann sehr nett, wir tranken sogar Kaffee zusammen.Gegenüber von meiner Schauspielschule ist die Ausländerbehörde, und da stehen die Menschen Schlange. Von den Beamten werden sie wie Tiere behandelt, angeschnauzt und geschubst, "geh hier weg", "was willst du hier?" Und dann verlangen die einen Haufen Geld für ihre Aufenthaltsgenehmigung."

    Kris Radanof ist 34 Jahre alt. Aufgewachsen ist er in der Stadt Russe, an der bulgarisch-rumänischen Grenze. Er hat eine Ausbildung als Kerntechniker absolviert, aber auch als Bodyguard und Türsteher gearbeitet - deswegen auch der athletische Körper. Als er arbeitslos wurde, folgte er seiner Mutter nach Athen, die bereits dort lebte und einen Job als Kosmetikerin hatte; das war vor sieben Jahren. In Griechenland beschloss Kris, seinen Jugendtraum zu verwirklichen und Schauspieler zu werden. Dafür hat er hart gearbeitet, doch wer im Sozialismus aufgewachsen ist, weiß, was Disziplin ist, scherzt er und die blauen Augen blitzen. Kris nahm Schauspielunterricht und feiert bereits erste Erfolge in Kino und Fernsehen: ausgerechnet in der Rolle des Ausländers macht er Karriere:

    "Auf der Leinwand finde ich es normal, den Ausländer zu spielen. Meine Physiognomie ist die eines Ausländers, und im Kino und Fernsehen kommt es hauptsächlich auf das Bild an. Aber ich will an meiner Aussprache so lange feilen, bis man gar nichts mehr merkt, damit ich im Theater auch andere Rollen spielen kann. Doch allen, die mir sagen, stört es dich nicht, schon wieder der Ausländer zu sein, kann ich nur entgegnen: der griechische Schauspieler muss sich zurückgesetzt fühlen, denn er spielt nur Griechen. Ich dagegen war schon Russe, Bulgare, Mazedonier und musste mich in jede Mentalität einarbeiten. Wer hat denn nun mehr Glück?"

    Als er dann das Angebot kam, gemeinsam mit dem Georgier David Maltese und dem Albaner Enke Fesolari im Stück "Einer von zehn" mitzuspielen, hat Kris keine Sekunde gezögert. Die Idee hatte der Regisseur Laertis Vassiliou, der aus der griechischen Minderheit in Albanien stammt. Es sind authentische Geschichten, die auf die Bühne gebracht werden, die Erfahrungen der vier Künstler und die ihrer Freunde und Bekannten. Sich selbst darzustellen, hat Kris Überwindung gekostet, denn es war mehr als eine Rolle:

    "Das Stück ist eine Ohrfeige, die wir den Griechen mit einem Lächeln verabreichen. Das Allerschlimmste haben wir sogar gestrichen. Der Regisseur wollte die Griechen nicht an den Pranger stellen. Aber natürlich wollten wir ihnen ihre Bigotterie vor Augen führen, wenn sie sagen: "Ich, ich bin doch kein Rassist, aber, es wäre doch besser wenn ihr Ausländer nach Hause ginget.""

    Der Erfolg des Stücks hat ihn überrascht. Die Gruppe musste zusätzliche Auftritte einplanen und wurde auch von Amnesty International engagiert. Darauf ist das Ensemble stolz. Doch am meisten ist Kris die Aufführung in Erinnerung geblieben, die sie für eine Schulklasse gegeben haben:

    "Das waren Schüler, die ihren Abschluss nachholten und man hatte uns erzählt, sie beschuldigen Ausländer dafür, dass sie selbst keine Arbeit haben. Wir waren gespannt und innerlich auf Tomaten statt Applaus eingestellt. Stattdessen haben sie mit uns gelacht und geweint. Nach der Aufführung sagte eine junge Frau: bis gestern war ich stolz darauf, eine Rassistin zu sein, doch nun muss ich mich dafür entschuldigen. Wir waren sprachlos."