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"Die Politik ist auf das Niveau von Big Brother herabgesunken"

Der einzige Vorteil, den der Journalist und Schriftsteller Henryk M. Broder in den momentanen Diskussionen entdecken kann: die Gesellschaft ist reifer als die Politik. Die Wähler hätten sich von der Politik weg emanzipiert, das sei ein gutes Zeichen. Dabei tragen die Wähler keine Schuld. Das Grundproblem laut Broder: "Der Wähler wollte Reformen. Es darf sich bloß nichts ändern." Und in diese Situation hätten sich die Deutschen selbst manövriert.

Moderation: Rainer Bertold Schossig |
    Henryk M. Broder: Ich finde, dass die Protagonisten die Bäume immer höher hinaufklettern. Das fing ja eigentlich damit an mit diesen gefingerten Misstrauensvoten, von denen alle wussten, dass gefingert war. Auch die CDU wusste es, nur jeder hat sich davon seinen Vorteil versprochen.

    Dieses gefingerte Ding, das als einziger Werner Schulz protestierte, wurde dann vom Bundespräsidenten abgesegnet und hinterher auch noch mal vom Bundesverfassungsgericht für koscher erklärt. Also es fing mit einer Lüge an, mit einer Trickserei an, und so geht es weiter. Vier, fünf Tage nach der Wahl hat der Kanzler offenbar die Wahlergebnisse noch nicht mitbekommen: die CDU hat 450.000 Stimmen mehr als die SPD, das mag manchen nicht passen. CDU und FDP haben 1,2 Millionen Stimmen mehr als Grüne und Rote zusammen - das ist eindeutig.

    Erinnern Sie sich an die Aufregung in Deutschland, als Bush mit 300 Floridastimmen die Wahl gewonnen hat, hier sind die Verhältnisse vollkommen eindeutig.

    Rainer Bertold Schossig: Aber was ist zu den Plänen der SPD zu sagen, Herr Broder, die ja durch einen gewissen Geschäftsordnungstrick nun sagt, die SPD ist die stärkste Fraktion, weil ja CDU und CSU zwei verschiedene Fraktionen eigentlich sein müssten.

    Broder: Die SPD hat sich glaube ich von diesem Plan inzwischen verabschiedet, aber es war schlimm genug, dass er überhaupt auf den Tisch gekommen war. Gernot Erler hat das ja allen Ernstes angekündigt, dann wurde es zurückgenommen. Das ist ein Teil dieser ganzen Tricksereiaufführung: es wird mit doppeltem Boden gespielt, nach 50, 60 Jahren fällt es der SPD ein, dass es eine Fraktionsgemeinschaft gibt und man versucht mit einem Trick, sich an die Spitze zu stellen.

    Man kann natürlich sagen, schlechte Verlierer müssen immer einen Grund finden, sich doch an die Spitze zu stellen. Mich erinnert das übrigens sehr an das Gehabe der Palästinenser, die noch jede Niederlage in einen Sieg verwandelt haben, also diese ganz deutsche Politik kriegt was unglaublich Orientalisches, was basarhaftes.

    Schossig: Aber das ist doch wunderbar, Herr Broder, dass wir plötzlich hier nicht nur italienische, sondern jamaikanische Verhältnisse anscheinend haben oder sogar israelische, wo man jeweils eine Phase mal den Präsidenten und auf der nächsten in zwei Jahren den anderen. Das könnte man sich auch vorstellen, dass beide Kanzler werden.

    Broder: Ja, das muss man sich überhaupt erstmal vorstellen für ein Land wie die Bundesrepublik, das immer stolz war auf seine stabilen politischen Verhältnisse und sich jetzt an Jamaika und an Israel orientiert. Israel ist daran gewöhnt, da hat es seit 40 Jahren nur so funktioniert, aber nicht in der Bundesrepublik. Nein, ich finde, man kann diese Idee der so genannten in Israel ist das Rotatio - Rotation, man kann diese Idee ja weitertreiben: wieso können sich eigentlich Merkel und Schröder nicht monatlich abwechseln oder vielleicht wöchentlich oder an geraden und ungeraden Tagen, das wäre doch optimal.

    Diese ganze Politik in Deutschland ist wirklich auf das Niveau von Big Brother herabgesunken. Man kann es übrigens gut finden, es gibt einiges, was dafür spricht. Ich glaube, dass sich die deutsche Gesellschaft inzwischen von der Politik weg emanzipiert hat, das ist ein gutes Zeichen. Wenn es, sagen wir ein Jahr lang, einer Regierung in Deutschland nicht geben würde, würde es keiner merken; es würde alles so weiterlaufen wie bis jetzt.

    Schossig: Joschka Fischer sagt ja, er liebe sein Land und warum jammern die Deutschen eigentlich so, wir haben doch jetzt ganz schöne politische Offenheit und das ist auch nicht schlecht.

    Broder: Ja, Joschka Fischer hat gestern in der taz gesagt, er findet das Wahlergebnis wunderbar, man hat es ihm aber nicht so richtig angesehen, die Begeisterung in der Wahlnacht. Er zieht sich jetzt zurück, ich finde die Entscheidung ist wunderbar, leider ein paar Jahre zu spät. Es ist die Weisheit des Fuchses, dem die Trauben zu hoch hängen, das drückt Joschka Fischer jetzt aus. Ich verstehe nur eines nicht: warum bleibt er im Bundestag? Er verspricht ja, in die Hinterbänke zu gehen, was ja ganz positiv ist...

    Schossig: Von da wird er irgendwann wieder auftauchen wie Strauß damals.

    Broder: Wahrscheinlich wird er sich vom Volk in einer triumphalen Welle wieder nach vorne spülen lassen, aber es ist nicht mehr ernstzunehmen und wie gesagt, der einzige politische Vorteil der ganzen Geschichte ist: die Gesellschaft ist reifer als die Politik. Ich glaube, der Wähler wollte das haben, um sich halt über die Ratlosigkeit der Politiker jetzt amüsieren zu können.

    Schossig: Herr Broder, welche Schuld trägt eigentlich der Souverän, der Wähler an diesem ganzen Patt, das ja doch abgründiger ist, als der Lähmungszustand vor der Vertrauens- beziehungsweise Misstrauensfrage Schröders?

    Broder: Ja, auf Amerikanisch würde man sagen: "it's going from bad to worse", es wird immer schlimmer. Es war irgendwie nicht so ganz schlecht vorneweg und jetzt hat man es, im Wienerischen würde man sagen, verschlimmbessert. Es ist eindeutig verschlimmbessert worden.

    Der Wähler trägt keine Schuld. Der Wähler oder der Souverän hat sich so entscheiden, wie er sich entscheiden wollte. Ich glaube, das Grundproblem ist, dass der Wähler Reformen wollte. Es darf sich bloß nichts ändern. Und in dieser Situation hat er sich selbst manövriert.

    Übrigens ein altes deutsches Phänomen, Tucholsky hat schon in den 20er Jahren eine wunderbare Satire geschrieben über ein älteren, leicht besoffenen Herrn, der durch Berlin geht und dann diesen wunderbaren Satz sagt: "Ick wähl die SPD weil ick bin für die Revolution und mit die Partei kann ich sicher sein, dass sie nicht kommt." Genau das ist jetzt passiert.

    Schossig: Wie schmerzhaft sind eigentlich die neoliberalen Reformpläne, die Schwarz-Gelb ja angedroht hat? Manche sagen ja, die Deutschen hätten sich da nicht so recht rangetraut und selbst diesen moderaten Weg des Wandels jetzt ausgeschlagen mit diesem Ergebnis.

    Broder: Ich weiß nicht, wie schmerzhaft sie im einzelnen Falle sind, es gibt sicher Leute, die darunter leiden, aber verglichen mit den Reformen, die in anderen Staaten angestrebt und durchgeführt worden sind, waren das alles Luxusmaßnahmen an der Oberfläche und trotzdem hat es gereicht, um die Deutschen in die tiefe Verzweiflung zu stürzen.

    Das Problem ist, dass sich in Deutschland der Gedanke noch nicht herumgesprochen hat, dass es so etwas wie Eigenverantwortung gibt und ich glaube, dass die Deutschen 1990 zu meiner großen Überraschung, ich habe es selbst nicht gemerkt, in eine tiefe Krise gestürzt worden sind: sie waren plötzlich selbstständig. Also 1990 mit zwei, drei Jahren Verspätung bis dann das Zwei-plus-Zwei-Abkommen gegriffen hat und Deutschland in die Souveränität entlassen wurde.

    Und für sich selber zu sorgen ist in Deutschland wirklich ein Zustand, den man sich gar nicht vorstellen kann. Deswegen die permanente Unzufriedenheit im Osten: je besser es den Leuten geht, umso unzufriedener werden sie. Sie wollen nicht nur eine dichte soziale Hängematte haben, sie wollen auch jemanden haben, der sie den ganzen Tag in dieser Hängematte schaukelt.

    Schossig: Das klingt aber jetzt so als müssten sich die Politiker doch ein neues Volk wählen, Herr Broder.

    Broder: Das wäre keine schlechte Lösung, dieser alte Witz von Brecht, auf den Sie gerade anspielen oder die Politik müsste konsequent eine Politik treiben, die einfach richtig und vernünftig ist ohne sich um das Volk zu kümmern. Was ich so irre finde: ich habe ja gestern wieder Tagesschau und alle Nachrichtensendungen gesehen hier in meinem holländischen Exil und es geht ja weiter, es gibt immer noch Umfragen, wie würden Sie wählen, wenn Sie diesen Sonntag wählen könnten.

    Das heißt, die sind immer noch im Wahlkampf, die haben immer noch nicht mitbekommen, dass letzten Sonntag bereits gewählt worden ist und jetzt ist die Frage: führt Merkel mit einem Prozent vor Schröder oder führt Schröder mit einem Dreiviertelprozent vor Merkel?

    Die Würfel sind gefallen, jetzt muss der Rubikon überquert werden, aber nein, es wird immer noch so getan als seien noch Optionen offen. Das ist Infantilität. Ich weiß nicht, ob die Regierung sich ein neues Volk wählen sollte, aber auf alle Fälle wenn das Volk sich entscheiden würde, endlich seine Pubertät zu verlassen, wäre das vielleicht schon vielleicht ganz nützlich.

    Schossig: Aber macht es Sie vielleicht nicht doch ein bisschen optimistisch, dass der Souverän jetzt ganz anders entschieden hat, als die Meinungsforscher prophezeit hatten? Also das ist doch schön, dass sie da plötzlich ganz anders entschieden haben, also nicht Demoskopie sondern wirklich Demokratie.

    Broder: Ja, das ist richtig, das ist wirklich der einzige Trost bei der ganzen Geschichte, dass die so genannten Experten alle versagt haben. Nur sie haben versagt, aber sie ziehen keine Konsequenzen daraus. Sie sitzen da immer noch, die Herren Emnid, Allensbach und alle anderen, sitzen da vor ihren ausgeweideten Hühnern, lesen aus den Eingeweiden und bestellen sich hinterher den Kaffee um aus dem Kaffeesatz die nächste Stufe herauslesen zu können. Die haben nichts dazugelernt.

    Das Volk ist sozusagen der Souverän, aber der Souverän wider Willen, es ist zu den Wahlen gerufen worden ohne dass es wirklich Wahlen wollte. Und das ist kein gesunder Zustand, man kann doch die Leute nicht beliebig manipulieren. Man kann nicht eines morgens aufwachen und sagen, wir machen jetzt Wahlen, genauso wie die jetzt aufwachen und sagen, wir wollen die Geschäftsordnung des Bundestages ändern. Es gibt Spielregeln und wenn sich Politiker an die Spielregeln nicht halten, dürfen sie sich nicht wundern, wenn sie vom Volk vielleicht nicht mehr allzu ernst genommen werden.