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Die Qual der Wahl

60 Prozent ihrer Studierenden dürfen sich die Universitäten in Deutschland seit dem Wintersemester 2005/2006 selbst aussuchen. In diesen Tagen laufen erneut die hochschuleigenen Auswahlverfahren für das kommende Sommersemester. Zum Beispiel in Baden-Württemberg.

Von Solveig Grahl |
    Biologie-Vorlegung an der Universität Stuttgart-Hohenheim. Verhaltenslehre steht auf dem Programm, und Sara Potratz macht sich Notizen. Die 21-Jährige studiert im ersten Semester in Hohenheim Biologie fürs Lehramt. 160 Bewerber gab es im vergangenen Sommer für dieses Fach - auf gerade mal 22 Studienplätze. Sara Potratz hat es geschafft, dank ihrer Abi-Note und einem erfolgreichen Auswahlgespräch:

    " Es waren direkt bezogene Fragen. Also wenn zum Beispiel ein kleiner Junge im Unterricht die ganze Zeit stört, wie man damit umgehen würde, was man dann machen würde. Wenn man einen schlechten Tag hat, dann kann man das durch ein Auswahlgespräch wahrscheinlich alles versauen. Aber andererseits merkt man durch so ein Auswahlgespräch auch, wie man sich für die Materie begeistert, was man nicht nur aus den Noten herauslesen kann. "

    Ein Abitursdurchschnitt von 1,3 sagt eben noch nicht so viel darüber aus, ob jemand auch für den Beruf des Lehrers geeignet ist. In den Auswahlgesprächen in Hohenheim, die im vergangenen Sommer zum ersten Mal stattfanden, spielt Biologie-Fachwissen deshalb auch keine Rolle. Vielmehr geht es um Kompetenzen, die für den späteren Beruf des Lehrers wichtig sind: Belastbarkeit, Kommunikationsfähigkeit - und natürlich die Freude an der Arbeit mit Teenagern, sagt Professor Martin Blum, Studiendekan für die Naturwissenschaften an der Uni Hohenheim und Mitglied der Auswahlkommission:

    " Das wissen alle aus eigener Erfahrung, dass es an allen Schulen Lehrer gibt, die nicht glücklich sind in ihrem Beruf, was dann dazu führt, dass die Schüler auch nicht glücklich sind. Und wenn es möglich ist, diesen Zustand zumindest langfristig zu verbessern, dann sind wir bereit, alles dafür zu tun. "

    Der Aufwand allerdings ist gewaltig. Vier Tage lang führten die Professoren Gespräche mit knapp 70 Bewerbern - für gerade mal 22 Studienplätze:

    " Jetzt machen Sie das mal für ein Fach wie bei uns die großen Wirtschaftswissenschaften, wo sie über 300 Studierende haben. Da müssen Sie 1000 interviewen, das ist schlicht und ergreifend nicht machbar. Die ZVS, die wenig geliebte - eigentlich hat sie doch einen ganz guten Job gemacht. "

    Das sehen offenbar viele Hochschulen so. In rund 80 Prozent der Studiengänge werden die Bewerber nach wie vor nach der Abitursnote ausgewählt. Das ergab eine Studie des Hochschul-Informations-Systems. 2005 befragte das Institut alle deutschen Universitäten und Fachhochschulen zu ihren aktuellen Auswahlverfahren und den Planungen für die nähere Zukunft. In gerade mal acht Prozent der Studiengänge gab es Auswahlgespräche.

    Dazu gehört auch die wirtschaftswissenschaftliche Fakultät der Universität Tübingen. Alle, die in der kleinen Stadt am Neckar Wirtschaftswissenschaften studieren möchten, müssen ein Auswahlgespräch durchlaufen. In den Interviews geht es um die Persönlichkeit des Bewerbers, seine Motivation für das Studienfach, seine Ziele, sagt Professor Joachim Grammig, Studiendekan der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät:

    " Ich muss nicht abprüfen, ob die fachlich, mathematisch gutes Wissen haben. Das kann ich sehen, wenn ich in deren Abiturzeugnis gucke. Was für mich besonders interessant ist, ist eine gewisse Persönlichkeitsstruktur, die zu uns passt, zu diesen Studiengängen passt, die eine Menge Motivation und Kontextfähigkeit verlangen. Ein Hobby, das jemand hat, ein Buch, das gelesen wurde. Da frage ich, was hat ihnen da besonders gefallen, was haben Sie gelernt? Sie glauben nicht, welch interessante Lebensläufe in diesen Bewerbungen enthalten sind. "

    Den hohen Zeitaufwand scheut der Wirtschaftwissenschaftler nicht. Für ihn liegen die Vorteile solch persönlicher Auswahlverfahren auf der Hand: Die Studierenden fühlten sich schnell mit der Hochschule verbunden, Studienabbrecher gebe es kaum:

    " Der Motivationsgrad dieser Studierenden ist einfach unglaublich hoch. Man kann das ganz knallhart festmachen an den Noten, die am Ende geschrieben werden. Die Noten sind um ein Vielfaches besser als die, die ich bekommen habe ohne dieses Auswahlverfahren. "

    Auch Julia Wangler hat das Auswahlverfahren an der Uni Tübingen erfolgreich durchlaufen, als eine der ersten Bewerberinnen. Heute studiert sie im siebten Semester Internationale BWL. Dass die Hochschulen sich ihre Studierenden im persönlichen Gespräch selbst aussuchen, ist für die 22jährige der richtige Weg:

    " Das ist für uns als zukünftige Studenten ein ganz wichtiger Punkt in der Entscheidungsfindung: Was möchte ich eigentlich studieren? Nicht zu sagen, ich habe gehört, BWL ist toll, sondern sich da auch wieder zu finden. Das heißt, man setzt sich im Vorfeld damit auseinander und kann sich dann auch einigermaßen sicher sein, dass das wirklich das ist, was man möchte. "