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Die Rechtsschreibreform - eine Chronik

Der deutsche Sprachraum ist von jeher ein Flickenteppich - und die unüberhörbare Vielfalt der gesprochenen Sprache schlägt sich selbstverständlich im geschriebenen Wort nieder. Die Tendenz zur Vereinheitlichung der Orthographie geht im neunzehnten Jahrhundert einher mit dem politischen Streben nach Einheit und der individuellen Suche nach kultureller Identität in der größer, offener werdenden Welt. Mit der rasanten Entwicklung von Wirtschaft und Technik, Wissenschaft und Industrie wächst das Bedürfnis nach Normierung - auch von Sprache und Schrift. Doch schon die erste orthographische Konferenz in Berlin anno 1876 scheitert, eine gemeinsame verbindliche Systematik lässt sich nicht finden. Der Lehrer Konrad Duden lässt sich nicht entmutigenden: anhand der offiziellen preußischen Schulorthographie entwickelt er 1880 sein erstes umfassendes "Orthographisches Wörterbuch der Deutschen Sprache".

Von Jacqueline Boysen |
    Die Festlegungen rufen Kritiker und Neuerer auf den Plan, doch Dudens Verdienst ist es, ein Fundament gelegt zu haben. 1901 beschließt eine zweite orthographische Konferenz ein erstes konsensfähiges Regelwerk - Grundlage bleibt "der Duden". Die boomende Branche der Buch- und Zeitungsverlage nimmt das Wörterverzeichnis an, auch Schulen und Universitäten unterwerfen sich nach und nach den Regeln. Die Vereinheitlichte Orthographie scheint in die Wilhelminische Zeit zu passen, ist Ausdruck der Disziplinierung von Schülern und Staatsbürgern.

    Zugleich wird die Kommunikation für Nutzer und Träger der Schriftsprache erheblich leichter. Die Redaktion des Duden berücksichtigt ihrerseits Sprachentwicklung, Einflüsse von außen wie auch den Wandel des Sprachgebrauchs: So gleichen die Dudenausgaben einander nicht, die Sprache wehrt sich gegen Erstarrung.
    Radikale Neuerungswünsche indes haben keine Chance: der 1924 gegründete "bund für vereinfachte rechtschreibung", der für einen durchgängige Kleinschreibung plädiert, wird als nicht konsensfähig abgeschmettert. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft schreibt sich in den siebziger Jahren die Kleinschreibung der Substantive dann wieder auf ihre Fahnen.

    Schwieriger ist zunächst der Umgang mit Vorschlägen des Bildungsverbands der Deutschen Buchdrucker, die Fremdwörter eindeutschen, Dehnungszeichen ausmerzen oder auch PH und V durch F ersetzen wollen. Sie fordern die gemäßigte Kleinschreibung am Satzanfang und bei Namen und treten kurz gesagt für Vereinfachungen ein, wie sie uns in der Debatte heute wieder begegnen.
    Die Vereinfachungswünsche der gleichgeschalteten Deutschen Akademie im Nationalsozialismus spiegeln ihrerseits Zeitgeschichte wieder: so dominiert im Dritten Reich der Einfluss des gesprochenen Wortes, das zu Propagandazwecken aus den Volksempfängern dröhnt. Der Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung Bernhard Rust lässt eine Reform erarbeiten, die Fremdwörter konsequent eindeutscht und die vermehrte Groß- und Getrenntschreibung empfiehlt, etwa so, wie wir sie in der Reform fünfzig Jahre später erleben.

    Die 50er Jahre manifestieren auch in der Sprachgeschichte die Teilung der Kulturnation: Der aus Leipzig stammende Duden wird von den westdeutschen Kultusministern zum verbindlichen Schulregelwerk erklärt, die DDR schließt sich dem an, mit der Enteignung des Bibliographischen Instituts in Leipzig und seiner Umwandlung in einen volkseigenen Betrieb aber beginnt für die Rechtschreibung eine deutsch-deutsche Parallelgeschichte: Duden Mannheim und Duden Leipzig bestimmen, was Regel ist, allein in Österreich, auf neutralem Boden, werden gemeinsame Konferenzen über Neuerungen in der Rechtschreibung abgehalten.
    Im folgenden wandeln sich die Schreibungen laut Duden gemächlich, während politische und akademische Gremien weniger beschaulich über Formalia streiten. Schließlich lassen die Kultusminister am Ende der achtziger Jahre einen radikalen Reformvorschlag erarbeiten, der unter einem ungünstigen Stern steht: so werden die Nutzer der Sprache nicht gefragt, sondern schreien erst auf, als Beispielsätze wie: "Der Keiser sitzt im bot und angelt al" ins Auge stechen. Die Schreibgemeinde von Öffentlichkeit, Wissenschaft und Schriftstellern protestiert.

    Der Vorschlag fällt durch, der Reformwille der Kultusminister aber ist nicht vom Tisch. Duden und Sprache entwickeln sich dessen ungeachtet ohnehin immer weiter.
    Nach der Wende beschleunigt sich die Vereinheitlichungsbewegung auch in der Orthographie - auf ministerieller Ebene, weniger bei Verlagen, Autoren oder gar Bürgern. Die Vorschläge der neuen Reform kommen zunächst nicht gesammelt ans Licht der Öffentlichkeit, dafür aber wird das Verfahren verbindlich festgelegt: Die Rechtschreibreform wird 1996 in zehn Bundesländern eingeführt und schließlich von den KMK und ihren Amtskollegen in der Schweiz und Österreich zum 1. August 1998 für wirksam erklärt - ungeachtet der Proteste, die sich zugleich artikulieren und in Schleswig Holstein zu einer Volksabstimmung führen, aber keine Veränderung bringen.

    Während die Schulen an die neue Rechtschreibung gebunden sind, entwickeln die Verlage eigene Regeln, übernehmen die Vorgaben zum ss und sz, passen sich aber zum Beispiel in der Eindeutschung nicht an - das Ziel der Vereinheitlichung ist somit gescheitert, spätestens seitdem die großen Zeitungsverlage ein Jahr vor der geplanten, verbindlichen Einführung der neuen Rechtschreibung die Rückkehr zur alten Schreibung beschlossen haben. Die Kultusminister berufen unterdessen neue Gremien, - aber auch sie können sich gegen die Macht des Faktischen im lebenden Organismus Sprache nicht verwehren.