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Die Schattenseiten des Crowd-Control

Karl-Theodor zu Guttenberg war der erste Minister, der mit Hilfe des Internets stürzte. Crowd-Control heißt das. Die Menge kontrolliert die Politiker. Und diese Crowd geht auch wenig zimperlich mit Mitglieder in ihrer Mitte um, die sich aus der Menge hervorheben wollen.

Von Michael Watzke | 15.03.2012
    Martin Heidingsfelder sieht aus wie das Klischeebild eines Netz-Junkies. Blasse Haut, gerötete Augen, kariertes Hemd - ohne seinen Laptop ist der 46-jährige Franke nie zu sehen:

    "Ich lebe mit dem Laptop zusammen. Ich lebe im Netz. Ich sage immer: Bei mir geht das Internet intravenös. Das ist morgens das Erste, was ich mache, dass ich über Twitter schaue: Was ist passiert in der Nacht? Und abends ist es das Letzte, was ich mache: Was könnte noch passieren in der Nacht? Ich bin eigentlich Tag und Nacht mit dem Internet verbunden."

    Im World Wide Web mutiert Martin Heidingsfelder zu einer multiplen Persönlichkeit. Der Plagiatejäger und Gründer der Seite "Vroni-plag" versteckt sich hinter sogenannten sock puppets. Das sind erfundene Netzidentitäten. Heidingsfelder tippt mit einem Kugelschreiber auf den Bildschirm:

    "Da sieht man diese gelb markierten Synonyme: Das sind Sockenpuppen von mir. "Stoiberin" oder "Dr.Söder" - dessen Namen hab ich halt mal so verwendet, damit ich da nicht so als Einzeltäter rauskomme."

    Dass die Sockenpuppen nach CSU-Politikern benannt sind, ist kein Zufall. Heidingsfelder ist SPD-Mitglied. Er macht vor allem Jagd auf potenzielle Doktorfälscher aus dem konservativen und liberalen Lager. Sein Internetwiki "Vroni-plag" hat Möchtegerndoktoren wie Silvana Koch-Mehrin, Jorgo Chatzimarkakis oder die Stoiber-Tochter Veronica Saß enttarnt. Heidingsfelders sock puppet bleibt gern inkognito:

    "Intern haben dass die Leute natürlich gewusst. Aber wenn jetzt jemand neu reingekommen ist in den Chat, konnte ich ihn eben über dieses weibliche Pseudonym Stoiberin, über dieses So-tun-als-wär-ich-eine-Frau aus der Reserve locken und die Jungs motivieren, sich mir gegenüber zu beweisen."

    Heidingsfelder lacht wie ein Lausbub, der sich über einen Streich freut. Aber seine Tarnfiguren kamen nicht bei allen Internetaktivisten gut an. Der hauptberufliche IT-Berater hat sich mit einem großen Teil der Netzgemeinde zerstritten.

    Die Administratoren der Seite "Vroni-plag" entzogen ihrem Gründer den privilegierten Status eines "Bürokrators". Begründung: Der Erlanger sei narzisstisch, unkontrollierbar, nicht konsensfähig. Er spiele sich in den Medien stets in den Mittelpunkt. Er selbst ist noch immer Inhaber der Namensrechte von "Vroni-plag" und sieht sich als Opfer einer Treibnetzjagd:

    "Die Leute, die eben meinen, andere Leute ausschließen zu müssen, begehen einen großen Fehler. Gute Teams und erfolgreiche Mannschaften zeichnen sich immer dadurch aus, dass sie selbst extreme Charaktere integrieren können."

    Martin Heidingsfelder ist so ein extremer Charakter. Ein deutscher Web-2.0-Visionär. Er ist anders als die meisten Netzaktivisten. Die sehen sich und ihre Mitstreiter eher als anonyme und amorphe Schwarmintelligenz. Heidingsfelder dagegen glaubt, es brauche auch im Internet prominente Köpfe, Anführer - wie in der Politik.

    Das Internet, sagt er, sei sowohl ein Abbild der Gesellschaft als auch eine Projektion ihrer Zukunft. Diese These bebildert er mit einem Rückgriff auf die Steinzeit:

    "Wie bei den Höhlenmenschen ist es so: Wenn Sie im Internet sind, dann sitzen Sie in Ihrer Höhle zu Hause oder am Arbeitsplatz. Dort sind Sie relativ sicher und können ziemlich weit hinausschauen. Das macht den Erfolg dieses Mediums auch aus. Über diese Sicherheit, die das Zuhausesitzen bietet, entstehen ganz neue Möglichkeiten, draußen etwas zu tun."

    Beispielsweise für die Reinheit wissenschaftlicher Standards zu kämpfen oder politische Demonstrationen zu organisieren. Ob auf dem Tahrir-Platz in Kairo oder vor dem Berliner Schloss Bellevue. Dort versammelte Heidingsfelder via Facebook-Aufruf mehrere hundert Sympathisanten zur Schuhdemo gegen den damaligen Bundespräsidenten Wulff. Der trat kurze Zeit später zurück. Das Netz hatte daran seinen Anteil, glaubt Heidingsfelder. Auch wenn der Einfluss überschätzt werde.

    "Die computergestützte Kommunikation, wie sie in sozialen Netzwerken abläuft, ist natürlich auch limitiert. Irgendwann will der Mensch auch mal Blick-, Haut- und Sichtkontakt. Das Netz kann viele Dinge nicht ersetzen, die der Mensch als soziales Wesen braucht."

    In den letzten Monaten hat sich Martin Heidingsfelder aus der aktiven Mitarbeit in verschiedenen Internetwikis zurückgezogen. Schließlich verdiene er damit kein Geld, sagt er. Stattdessen hat der Franke seine Erfahrungen bei Vroni-plag zu einem, wie er sagt, tragfähigen Businesskonzept ausgebaut:

    "Ich prüfe halt Dissertationen auch gegen Entgelt. Für Personen, die etwas nachgeschaut haben wollen. Bücher von Verlagen, die Mängel aufweisen. Wo die Verlagsinhaber beziehungsweise Autoren mich beauftragen, noch mal genau nachzuschauen. Manche Autoren merken ja auch selber, dass sie Fehler gemacht haben."

    Er habe auch Auftraggeber aus der Politik, behauptet er. Martin Heidingsfelder sieht sich selbst als einsamen Netzdetektiv. Dass seine "Vroniplag"-Seite ohne die Mitarbeit ihres Erfinders nur noch vor sich hindämmert, bereitet ihm mehr Genugtuung als Schmerz. Jedes Wiki hat seinen Lebenszyklus, sagt er. Der von "Vroniplag" sei Vergangenheit. Bald werde es neue Wikis geben. Heidingsfelder blinzelt müde, klappt den Rechner zu und seufzt.