Freitag, 10. Mai 2024

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Die schattige Hauptstraße

"Schattig" heißt die Hauptstraße, die László Mártons Buch den Titel gab, nicht, weil sie von Bäumen gesäumt ist, unter denen sich bei heißem Wetter angenehm wandeln lässt. Schattig heißt sie vielmehr, weil sich auf ihr Schatten zeigen – Menschen, die 1944/45 in Ungarn umgebracht wurden, weil sie Juden waren. Schon der Titel "Die schattige Hauptstraße" besitzt jene Mischung aus Idylle und Grauen, die László Mártons essayistischen Roman auszeichnet. Von den Geflohenen oder Vergasten einer Kleinstadt ist eine Sammlung verblichener Fotos übriggeblieben, und der Erzähler entschließt sich trotz einiger Bedenken, von den Erlebnissen der Porträtierten, darunter zwei Mädchen namens Aranka Róth und Gaby Göcz, zu berichten. Szenen des Alltags folgen locker aufeinander, ohne sich zu einem Handlungsbogen zu fügen. Aranka etwa muss auf der Post immer neue Paketkarten ausfüllen, weil die Beamtin die Adresse für unleserlich hält. Und in der Schule bekommt sie als Jüdin niemals ein "Sehr gut".

Jörg Plath | 16.07.2003
    Mit resigniertem, zugleich aber spöttischem Gesichtsausdruck hört (Lehrer Tuzlay) Gránith zu, der, das Gesicht krebsrot, brüllt, und der nicht nur wählerisch ist, wem er Privatstunden zu geben bereit ist, sondern auch, welcher Religion ein Schüler angehören muss, damit er ihm die Note "sehr gut" gibt, denn für die Note "sehr gut" reicht die Begabung nicht aus, man muss sie auch verdienen, und einmal, im Zusammenhang damit, während die Flächenlehre geübt wird, erlaubt er sich einen Scherz über Form und tiefere Bedeutung des Hakenkreuzes, ein Scherz, der natürlich nur dazu berufen war, sein Wohlwollen auszudrücken, und er grüßt den gerade vorbeigehenden Rabbi sicherlich nur deswegen nicht, weil er gerade derart in seine eigenen Ausführungen vertieft ist, dass er den Rabbi überhaupt nicht bemerkt.

    Jedes Ereignis, jede Begebenheit mündet auf solche Weise im Antisemitismus. Den Eindruck seiner unauffälligen Allgegenwart verstärkt László Mártons Erzähler durch wohlwollende Entschuldigungen. Kein Wunder, dass die Fotosammlung bald vergessen ist. Immer neue Personen treten ins Gasthaus, das Fotoatelier oder den Schlossgarten und machen dann anderen Platz. Rückblenden wechseln mit Vorwegnahmen. Zwischen ihnen liegt Auschwitz.

    Jemand, sein Name ist uninteressant, erzählt 1958, zwei Jahre nach Niederschlagung der Oktoberrevolution, freudestrahlend seiner Frau, dass in der Zeitung steht, Jóska Gáli sei zu Tode verurteilt worden, das heißt, der später als literatrischer Übersetzer bekannt gewordene Jószef Gáli, den sein Freund zuletzt vierzehn Jahre zuvor gesehen hat, beim Verladen in die Waggons. Fragt ihn seine Frau: Warum er sich so sehr darüber freue, dass Jóska Gáli zum Todes verurteilt worden sei? Antwort: Weil das bedeutet, dass er lebt!

    Die schattige Hauptstraße erzählt von einem einzigen Tag, aber in diesem, heißt es, seien "wie im Märchen" "acht oder zehn Jahre" verdichtet. László Márton, der 1959 in Budapest geboren wurde, Kleist, Goethe und Grillparzer ins Ungarische übersetzte und seit 1984 Romane, Dramen und Essays veröffentlicht, wollte keinen herkömmlichen historischen Roman vorlegen. Schon in seiner 1999 auf Deutsch erschienenen "wahren Geschichte des Jacob Wunschwitz" überwuchern Arabesken, Nebenstränge, Überblendungen und Reflexionen die Biografie. In "Die schattige Hauptstraße" leitet Márton dieses kaleidoskopische Erzählen vom Holocaust ab.

    Immer wieder und in zuweilen etwas mühsam zu lesenden Reflexionen fragt der Roman, ob Erzählen nach Auschwitz überhaupt möglich sei, ohne das unfassbare Geschehen fasslich, begreifbar zu machen. Für Márton gerät die Allmacht des Erzählers, der wie der mehrmals zitierte Sandor Petöfi seinen Figuren sowohl Tod und Verderben wie Freude und Liebe zustoßen lassen kann, in Konflikt mit der historischen Wahrheit. Denn diese kennt keine Wahl.

    Während wir die schattige Hauptstraße durchgängig zu machen versuchen, möchten wir durch unsere Arbeit zugleich vermitteln, dass die Geschichten zwar aus dem Nichts, dem sie geweiht waren, zurückzugewinnen sind, dass dies aber einen Preis hat: Denn je mehr Geschichten es gibt, desto deutlicher wird, dass im ganzen nichts geschieht. Und je deutlicher wir das sehen, desto stärker empfinden wir den Zwang, wählen zu müssen, ob wir in die Erinnerung oder in das Vergessen entfliehen (…). Gerade deshalb, weil im ganzen gesehen nichts geschieht, und da das Geschehene von nirgendwo nirgendwohin führt, bedeuten Erinnern wie Vergessen gleichermaßen Flucht, genauer einen Fluchtversuch.

    Flucht nämlich vor dem unausweichlichen Ende, der "Endlösung". Stimmt das? Schließlich vermag die Fiktion niemals die Historie zu ändern. Ist sie deshalb immer ein Fluchtversuch? Sitzt die Geschichte über der Phantasie zu Gericht? Und: Gleichen sich Erinnern und Vergessen wirklich?

    Wohl kaum, wie gerade Die schattige Hauptstraße zeigt. Der Roman ist nämlich dort gelungen, wo László Márton erzählt – souverän und bildreich, intellektuell gewitzt und avanciert: mit einem Erzähler, der den Kleinstädtern Allegorien aus dem nationalen Gedächtnis untermischt und seine Eingriffe kommentiert, wenn er etwa ankündigt, der spielenden Aranka Róth ihre mit Hilfe von Mohn, Erbsen, Reis und Weizen vorgestellten Wolken wegzunehmen – wohl eine Anspielung auf die ministerielle Verordnung, die die Belieferung von Juden mit diesen und anderen Lebensmitteln verbot. In solchen Passagen verlängert László Márton die schattige Hauptstraße durch glückende und erfundene Erinnerung bis in die Gegenwart hinein.