Veza Canetti ist 1963 im Alter von 66 Jahren gestorben. Mustert man ihr seither erschienenes Werk: 1991 das aus Motiven eines Kapitels der "Gelben Straße" entwickelte Theaterstück "Der Oger" und 1992 ein Band mit Erzählungen unter dem Titel "Geduld bringt Rosen", so wird man solche Konkurrenz-Überlegungen für abwegig erklären müssen. Doch blieb Canetti heikel im Umgang mit dem literarischen Werk seiner Frau: die enge Arbeitsbeziehung zum Entdecker der Schriftstellerin Veza Canetti, Helmut Göbel, brach er ziemlich abrupt ab, und nicht ohne Grund dürfte ein letztes umfangreiches Manuskript Veza Canettis, der Roman "Die Schildkröten", erst nach Elias Canettis Tod erschienen sein.
Dieser Roman, in dessen Titel sich allegorisch die von den Nazis Verfolgten abbilden, wurde 1939 im Londoner Exil der Canettis in nur wenigen Monaten geschrieben. Er erzählt eine Geschichte aus Wien nach dem Einmarsch Hitlers in Österreich bis wenige Tage nach dem Pogrom vom 9. November. In ihr bildet sich sehr vermittelt das Geschick der Canettis in den letzten Monaten vor ihrer Flucht aus Wien am 19. November ab, die sie über Paris nach London führte. Dort wollte ein englischer Verlag die Übersetzung des Romans veröffentlichen, was der Ausbruch des Krieges dann verhindert hat.
Erzählt werden eigentlich zwei Geschichten: die eine handelt von der Verdrängung des jüdischen Ehepaars Andreas und Eva Kain aus ihrem Haus, in das der nationalsozialistische Funktionär Pilz mit seiner Frau einzieht; sie warten auf ein Ausreisevisum, denn Andreas gilt als besonders gefährdet; die andere erzählt vom komplizierten Verhältnis eben dieses Andreas Kain zu seinem sehr von ihm verschiedenen älteren Bruder Werner und vom Verhältnis beider zu einer Welt, die dabei ist zusammenzubrechen.
Andreas, im Buch nur immer "Kain" genannt, ist Schriftsteller und baut als Moralist "auf den Menschen". Werner ist Geologe, Andreas sagt von ihm, er habe "auf etwas Konsistentes gebaut", das "nicht zu verlieren" sei, auf die handfeste Erde, auf Stein, während der Mensch gefährdet sei und gefährlich, hinfällig seine Seele, hinfällig seine Form. Auf Werners Vorwurf: "Statt dich deiner Selbsterkenntnis zu beugen, wäre es nicht besser du revoltierst und schwingst dich auf? Warum gibst du die Menschen verloren? Ändere sie, du hast das Zepter in der Hand, den Bleistift!" – auf diesen Vorwurf entgegnet Andreas: "Aber das ist das Unglück! Der Denker hat nur das Zepter und nicht die Macht. Der Mächtige aber gelangt zu keinem Gedanken. Die Tempel brennen, Werner. Alles, was in diesem Land geschieht, wird sich wie die Pest ausbreiten. (...) Der Maler mit dem Pinsel, der Dichter mit der Feder, der Redner auf der Tribüne, alle haben die Schrecken des Krieges gezeigt und der Mensch hat begriffen. Ihn schaudert vor dem Gedanken des Krieges. Aber der Gewalttätige tritt auf. Er stört die Erde auf, er wird immer auftreten und immer stören, denn immer wird es Gewalttäter geben."
Das war damals weitsichtig und klingt auch heute immer noch aktuell. Solche Dialoge der so unterschiedlichen Brüder sind eine Essenz dieses Romans, der nicht so sehr von konkreten Beschreibungen der historischen Situation im Wien des Jahres 1939 lebt als von einer Spannung, die zwischen Optimismus und Hoffnung einerseits und Pessimismus und Realitätssinn andererseits hergestellt wird. Vor allem die als groß und blond besonders markierte Jüdin Hilde, die mit Andreas und Eva Kain befreundet ist, erscheint als geradezu verzweifelt optimistische Figur, wenn sie die Freunde mit einem "Aeroplan" retten will, das sie mit dem Geld ihres reichen Vaters vom Nazi Pilz zu erhalten trachtet.
Vor allem diese ersten Kapitel des Romans, in denen der Nazi wie eine zwar kleinbürgerlich geschmacklose, aber doch zum ernsthaften menschlichen Miteinander scheinbar fähige und letztlich immer noch positive Figur dargestellt wird, sind die schwächsten. Veza Canetti vermeidet jegliche Negativität in der Darstellung ihres Personals, Haß, Zynismus, Satire sind ihr fremd. Dabei ist, was sie über das mörderische Potential dieser Zeit schon weiß und sagt, überaus hellsichtig: So wird es kommen und so ist es gekommen. Im zweiten Teil des Romans macht sie das kommende Schicksal der Juden auf ergreifende Weise anschaulich in den Erlebnissen des Juden Felberbaum, in dessen kleiner Wohnung die von daheim verdrängten Kains inzwischen hausen: Beispielhaft für alle anderen erfährt er Verfolgung und Erniedrigung, Verhaftung, Abtransport und Mord. Zerschunden liegt er schließlich in einem Krankenhaus, wo ihn Eva und Hilde besuchen und das Schicksalsdrama der beiden Brüder berichten.
Die Häscher nämlich haben, als sie Andreas verhaften wollten, statt seiner den Bruder Werner ergriffen. Im Konzentrationslager Buchenwald wurde er, der Geologe, in die Steinbrüche geschickt und ist bald an Schwäche gestorben. Andreas, genannt Kain, hat, ohne eigene Schuld, den Tod des Bruders verursacht. Er und Eva entkommen den Nazis: "Kain fuhr über die Brücke von Kehl und sah zurück. Blickte die rote Erde der Heimat an, als gäbe es nirgends sonst eine aufgelockerte, braune, warme Erde, er suchte die Berge, die Adern in den Felsen der Heimat, sie glühen wie durch ein inneres Feuer erhitzt in der Abendsonne."
Mit solcher Überhöhung endet das Buch. Sie ist dem gesamten Roman eigen und hat damit zu tun, daß die Kunstanstrengung, anders als im Roman "Die gelbe Straße", noch sehr spürbar ist – so als schwebe über der wirklichen Wirklichkeit eine virtuelle Wirklichkeit, in der sich die historische Realität, nur etwas matter, gleichsam reliefartig, abbilde. Diese Prosa, obgleich erkennbar autobiographisch getönt, bleibt deshalb distanziert, sie wirkt manchmal lakonisch, und die Dialoge sind häufig reflexiv überlastet. Deshalb vermag den Leser nur die Geschichte des Juden Felberbaum darin ganz zu ergreifen. In ihr zeigt sich die große, weil einfache Kunst der Menschendarstellung Veza Canettis, die aus der "Gelben Straße" einen bedeutenden Roman machte.
Dieser Roman, in dessen Titel sich allegorisch die von den Nazis Verfolgten abbilden, wurde 1939 im Londoner Exil der Canettis in nur wenigen Monaten geschrieben. Er erzählt eine Geschichte aus Wien nach dem Einmarsch Hitlers in Österreich bis wenige Tage nach dem Pogrom vom 9. November. In ihr bildet sich sehr vermittelt das Geschick der Canettis in den letzten Monaten vor ihrer Flucht aus Wien am 19. November ab, die sie über Paris nach London führte. Dort wollte ein englischer Verlag die Übersetzung des Romans veröffentlichen, was der Ausbruch des Krieges dann verhindert hat.
Erzählt werden eigentlich zwei Geschichten: die eine handelt von der Verdrängung des jüdischen Ehepaars Andreas und Eva Kain aus ihrem Haus, in das der nationalsozialistische Funktionär Pilz mit seiner Frau einzieht; sie warten auf ein Ausreisevisum, denn Andreas gilt als besonders gefährdet; die andere erzählt vom komplizierten Verhältnis eben dieses Andreas Kain zu seinem sehr von ihm verschiedenen älteren Bruder Werner und vom Verhältnis beider zu einer Welt, die dabei ist zusammenzubrechen.
Andreas, im Buch nur immer "Kain" genannt, ist Schriftsteller und baut als Moralist "auf den Menschen". Werner ist Geologe, Andreas sagt von ihm, er habe "auf etwas Konsistentes gebaut", das "nicht zu verlieren" sei, auf die handfeste Erde, auf Stein, während der Mensch gefährdet sei und gefährlich, hinfällig seine Seele, hinfällig seine Form. Auf Werners Vorwurf: "Statt dich deiner Selbsterkenntnis zu beugen, wäre es nicht besser du revoltierst und schwingst dich auf? Warum gibst du die Menschen verloren? Ändere sie, du hast das Zepter in der Hand, den Bleistift!" – auf diesen Vorwurf entgegnet Andreas: "Aber das ist das Unglück! Der Denker hat nur das Zepter und nicht die Macht. Der Mächtige aber gelangt zu keinem Gedanken. Die Tempel brennen, Werner. Alles, was in diesem Land geschieht, wird sich wie die Pest ausbreiten. (...) Der Maler mit dem Pinsel, der Dichter mit der Feder, der Redner auf der Tribüne, alle haben die Schrecken des Krieges gezeigt und der Mensch hat begriffen. Ihn schaudert vor dem Gedanken des Krieges. Aber der Gewalttätige tritt auf. Er stört die Erde auf, er wird immer auftreten und immer stören, denn immer wird es Gewalttäter geben."
Das war damals weitsichtig und klingt auch heute immer noch aktuell. Solche Dialoge der so unterschiedlichen Brüder sind eine Essenz dieses Romans, der nicht so sehr von konkreten Beschreibungen der historischen Situation im Wien des Jahres 1939 lebt als von einer Spannung, die zwischen Optimismus und Hoffnung einerseits und Pessimismus und Realitätssinn andererseits hergestellt wird. Vor allem die als groß und blond besonders markierte Jüdin Hilde, die mit Andreas und Eva Kain befreundet ist, erscheint als geradezu verzweifelt optimistische Figur, wenn sie die Freunde mit einem "Aeroplan" retten will, das sie mit dem Geld ihres reichen Vaters vom Nazi Pilz zu erhalten trachtet.
Vor allem diese ersten Kapitel des Romans, in denen der Nazi wie eine zwar kleinbürgerlich geschmacklose, aber doch zum ernsthaften menschlichen Miteinander scheinbar fähige und letztlich immer noch positive Figur dargestellt wird, sind die schwächsten. Veza Canetti vermeidet jegliche Negativität in der Darstellung ihres Personals, Haß, Zynismus, Satire sind ihr fremd. Dabei ist, was sie über das mörderische Potential dieser Zeit schon weiß und sagt, überaus hellsichtig: So wird es kommen und so ist es gekommen. Im zweiten Teil des Romans macht sie das kommende Schicksal der Juden auf ergreifende Weise anschaulich in den Erlebnissen des Juden Felberbaum, in dessen kleiner Wohnung die von daheim verdrängten Kains inzwischen hausen: Beispielhaft für alle anderen erfährt er Verfolgung und Erniedrigung, Verhaftung, Abtransport und Mord. Zerschunden liegt er schließlich in einem Krankenhaus, wo ihn Eva und Hilde besuchen und das Schicksalsdrama der beiden Brüder berichten.
Die Häscher nämlich haben, als sie Andreas verhaften wollten, statt seiner den Bruder Werner ergriffen. Im Konzentrationslager Buchenwald wurde er, der Geologe, in die Steinbrüche geschickt und ist bald an Schwäche gestorben. Andreas, genannt Kain, hat, ohne eigene Schuld, den Tod des Bruders verursacht. Er und Eva entkommen den Nazis: "Kain fuhr über die Brücke von Kehl und sah zurück. Blickte die rote Erde der Heimat an, als gäbe es nirgends sonst eine aufgelockerte, braune, warme Erde, er suchte die Berge, die Adern in den Felsen der Heimat, sie glühen wie durch ein inneres Feuer erhitzt in der Abendsonne."
Mit solcher Überhöhung endet das Buch. Sie ist dem gesamten Roman eigen und hat damit zu tun, daß die Kunstanstrengung, anders als im Roman "Die gelbe Straße", noch sehr spürbar ist – so als schwebe über der wirklichen Wirklichkeit eine virtuelle Wirklichkeit, in der sich die historische Realität, nur etwas matter, gleichsam reliefartig, abbilde. Diese Prosa, obgleich erkennbar autobiographisch getönt, bleibt deshalb distanziert, sie wirkt manchmal lakonisch, und die Dialoge sind häufig reflexiv überlastet. Deshalb vermag den Leser nur die Geschichte des Juden Felberbaum darin ganz zu ergreifen. In ihr zeigt sich die große, weil einfache Kunst der Menschendarstellung Veza Canettis, die aus der "Gelben Straße" einen bedeutenden Roman machte.