Mittwoch, 17. April 2024

Archiv


Die Selbsterkenntnis der Ameisen

Egal ob Ameise oder Elefant - nicht nur Menschen, sondern auch Tiere verfügen über ein eigenes Selbstbewusstsein. Diese These vertritt der Bochumer Philosoph Gottfried Vosgerau.

Von Mirko Smiljanic | 13.08.2009
    Es gibt Regionen auf der Erde, in denen nur Spezialisten überleben. Die Salzton-Ebenen der Sahara zählen dazu, lebensfeindliche Gebiete, die vor allem eines erfordern: die Fähigkeit zur traumwandlerisch sicheren Navigation. Genau darüber verfügt die Wüstenameise. Egal wo sie ich befindet, sie verläuft sich nie und findet von jedem Punkt aus zurück ins Nest.

    Wie sie das macht, ist bis ins Detail immer noch nicht geklärt. Eines aber ist für Gottfried Vosgerau vom Institut für Philosophie der Ruhr-Universität Bochum klar: Wüstenameisen verfügen für diese Fähigkeit, auf jeden Fall über ein wie auch immer geartetes "inneres Bild" von sich selbst im Raum. Damit aber können sie einen bestimmten Aspekt ihrer selbst - nämlich die Position im Raum - wahrnehmen. Oder anders ausgedrückt: Die Wüstenwinzlinge verfügen zumindest in diesem Punkt über ein Selbstbewusstsein. Das Hungergefühl - sagt Gottfried Vosgerau - ist ein weiteres Beispiel. Wer Hunger hat, der weiß, dies ist "mein" Hunger.

    "Wir können uns da nicht irren. Das ist ein typischer selbstbewusster Zustand, wobei der natürlich auf einer sehr niedrigen Stufe ist. Auf höheren Stufen können wir dann Selbstbewusstsein, zum Beispiel über unsere eigenen mentalen Zustände, über unsere eigenen Gedanken, erlangen","

    ... die allerdings auch trügerisch sein können, was folgende hübsche Anekdote über den Physiker und Philosophen Ernst Mach verdeutlicht.

    ""Ernst Mach ist eines Tages in einen Bus gestiegen und sah, wie auf der anderen Seite gleichzeitig ein Mann einstieg, der ziemlich schäbig aussah, und er dachte sich, was für ein heruntergekommener Schulmeister. Kurz darauf erkannte er, dass er sich selbst im Spiegel gesehen hatte. Hier sehen wir: Im ersten Moment dachte er tatsächlich über sich selbst nach, wusste es aber nicht. Hier hatte er noch keinen selbstbewussten Gedanken. Erst als er erkannte, dass er sich selbst gesehen hatte, konnte er den selbstbewussten Gedanken fassen: Ich sehe aus wie ein heruntergekommener Schulmeister."

    Mit Ernst Machs Episode befinden wir uns am oberen Ende der Selbstbewusstseinsskala, die für Gottfried Vosgerau aber sehr viel niedriger beginnt. Seine Grundidee ist: Selbstbewusstsein ist eine Fähigkeit, die sich stufenweise entwickelt.

    "Das führt dazu, dass wir auch eine Entwicklungsperspektive einnehmen können, nicht nur über die Evolution hinweg, sondern auch innerhalb des Individuums. Aber das bedeutet ganz klar, dass sehr viele Tiere Vorformen oder Grundformen von Selbstbewusstsein schon haben können."

    Differenzierter sieht die Situation bei der nächsthöheren Stufe des Bewusstseins aus. Einige Tiere, asiatische Elefanten etwa oder Elstern, erkennen sich zum Beispiel selbst im Spiegel. Lebewesen mit dieser Fähigkeit haben eine einfache Vorstellung davon, wie Dritte sie von außen sehen. Im Vergleich zum Hungergefühl, das sich ausschließlich innerhalb des Körpers manifestiert, ist dies eine höhere Form des Bewusstseins. Aber selbst bei Kindern lassen sich unterschiedliche Stufen des Selbstbewusstseins nachweisen. Mit einem Test klären Psychologen etwa, ab wann Kinder in der Lage sind, anderen falsche Gedanken zuzuschreiben.

    "Die Mutter versteckt ein Stück Schokolade in dem grünen Schrank und Peter sieht das. Die Mutter geht dann raus und man tut die Schokolade von dem grünen Schrank in den roten Schranken, und die Mutter kommt zurück. Und man fragt dann Peter: Wo wird die Mutter nach der Schokolade gucken? Kinder, typischerweise etwa unter vier Jahren, antworten, in dem roten Schrank, wo sie auch tatsächlich liegt. Das heißt, sie können noch nicht den Unterschied machen zwischen ihren eigenen Gedanken und den Gedanken der Mutter. Und typischerweise so um die vier Jahre herum entwickelt sich die Fähigkeit, dass sie korrekt antworten: Sie wird in dem grünen Schrank suchen."

    Gottfried Vosgerau entwickelt ein naturalistisch-biologisches Konzept des Selbstbewusstseins. Wichtig ist ihm dabei eine enge Zusammenarbeit mit Psychiatern, die Patienten mit gestörten Bewusstseinsvorgängen behandeln. Zu den prominentesten Beispielen zählen Menschen, die an einer Schizophrenie leiden. Ihr markantestes Symptom sind Ich-Störungen.

    "Bei den Ich-Störungen können betroffene Patienten etwa nicht mehr genau sagen, ob ein bestimmter Gedanke, der bildlich gesprochen in ihrem Kopf ist, tatsächlich noch ihr eigener Gedanke ist, oder ob der nicht vielmehr von anderen Personen gesendet worden ist","

    ... erläutert Kai Vogeley, der als Psychiater an der Universitätsklinik Köln arbeitet. Die Auseinandersetzung mit Schizophrenen hat für ihn zwei wichtige Erkenntnisse gebracht. Im Rahmen seiner Untersuchungen des Gehirns mit bildgebenden Verfahren konnte er zunächst einmal nachweisen, dass das "Selbstbewusstsein" und "soziale Fähigkeiten" eng miteinander verknüpft sind.

    ""Wenn wir zum Beispiel unsere neurowissenschaftlichen Untersuchungen durchführen, können wir sehr gut zeigen, dass die Regionen, die bei selbstbezüglichen Prozessen rekrutiert werden im Gehirn, auch maßgeblich dafür verantwortlich sind, wie wir uns über andere Menschen Gedanken machen, also als maßgeblich auch für sozial-kognitive Prozesse zuständig sind."

    Daraus folgt für den Kölner Psychiater eine zweite Erkenntnis: Die Fähigkeit des angemessenen sozialen Umgangs ist ebenso trainierbar wie die Fähigkeit, sich seiner selbst bewusst zu sein.

    "Also man kann sich zum Beispiel trainieren, auf seine eigenen Körperprozesse zu achten, oder auf seine geistigen Prozesse, wie das zum Beispiel Menschen tun, die Meditation betreiben oder autogenes Training. Also das sind Dinge, die sehr breit therapeutisch angewandt werden und viele Menschen auch unternehmen. In einem solchen Rahmen kann man diese Leistungen sicherlich auch trainieren."

    Für den Bochumer Philosophen Gottfried Vosgerau ist das Selbstbewusstsein eine kognitive Fähigkeit - nicht mehr, nicht weniger. In gewisser Weise entmystifiziert er damit viele bisherige Vorstellungen, denn nun lässt sich sehr viel leichter klären, ...

    " ... wie sich eine solche komplexe Fähigkeit entwickeln kann auf der Grundlage von ganz einfachen Mechanismen, die wir zum Beispiel bei Ameisen finden. Und der direkte Selbstbezug, der unmittelbare Selbstbezug, den wir finden auch in den höchsten Stufen. Den, so ist mein Vorschlag, können wir zurückverfolgen bis in ganz einfache Orientierungsmechanismen der Ameise. Das ist gar nicht so hochstufig, wie es in der klassischen Sicht immer gesehen wird, sondern das ist eigentlich der einfache Teil."