Gudula Geuther: "Fehlstart", Herr Trittin, das ist wohl das Wort, das vonseiten der Opposition am häufigsten zu hören war über dem Amtsbeginn der neuen Regierung. Und gleichzeitig haben die Oppositionsfraktionen scheinbar nichts Besseres zu tun, als aufeinander loszugehen, sich gegenseitig die Fähigkeit abzusprechen, Meinungsführer in der Opposition zu sein. Erleben wir gerade den Fehlstart der Opposition?
Jürgen Trittin: Nein, das gilt für die Grünen nicht. Wir greifen die Regierung an, wir stellen uns dem sportiven Wettbewerb mit den anderen Oppositionsfraktionen, wer schneller und besser ist. Da sind wir ganz selbstbewusst, aber wir sind auch nicht überheblich. Und da, wo man dann gemeinsam etwas machen kann, da machen wir das auch gemeinsam.
Geuther: Die Grünen haben ja kräftig zugelegt bei der Bundestagswahl auf das beste Ergebnis je – und sind doch die kleinste Kraft, die fünfte Kraft im Bundestag. Was heißt denn da diese Meinungsführerschaft in der Opposition, die nicht nur Sie, aber auch Sie als Grüne ja für sich reklamieren? Sie haben eben gesagt schneller, besser – oder heißt es, dass Sie schlicht Ihre eigenen Argumente am überzeugendsten finden?
Trittin: Nein, ich glaube, zur Opposition gehört eben auch, klarzumachen, dass wir es mit einer Regierung zu tun haben, die nicht aus eigener Stärke eine Mehrheit gewonnen haben. CDU und FDP haben ja absolut 300.000 Wähler verloren, das wird oft vergessen. Und das heißt: Sie haben keine gesellschaftliche Mehrheit. Diese gesellschaftliche Mehrheit gegen die Mehrheit der Mandate zu mobilisieren, das ist die eigentliche Herausforderung, die wir auf allen Gebieten, sei es in der Steuerpolitik, sei es in der Sozialpolitik oder sei es in der Energiepolitik, bewegen werden.
Geuther: Das ist das Verhältnis zur Regierung, aber gleichzeitig – wie sich die neue Opposition auch miteinander präsentiert, das konnten wir ja direkt nach der Wahl der Kanzlerin erleben, da kritisierten SPD und Grüne gemeinsam, dass Angela Merkel vor ihrer Regierungserklärung vor dem Parlament ins Ausland fährt. Die Linken hätten sich da möglicherweise auch gerne empört gezeigt, wurden aber nicht gefragt. Sieht so die Oppositionsarbeit aus in den kommenden vier Jahren?
Trittin: Ne, das war andersrum. Wir haben sehr frühzeitig, ich meine, schon vor 14 Tagen, als sich das abzeichnete, habe ich das gesagt, eine Woche später der parlamentarische Geschäftsführer der SPD, dass wir das auf uns zukommen sehen. Wir sagten, das geht nicht. Es geht nicht, dass eine gewählte Bundeskanzlerin, bevor sie sich dem deutschen Volk, dem Deutschen Bundestag präsentiert und erklärt, wohin die Reise gehen soll, sich der Kritik stellt, dass sie dieses auf einem Europäischen Rat – das mag vielleicht noch angehen –, aber dann zunächst und vor allen Dingen in den USA erklärt, wie sie Deutschland regieren wollte. Das haben SPD und Grüne – Grüne als Erste – sehr frühzeitig thematisiert. Von der Linkspartei war nichts zu hören. Und wer da mit der Oppositionsrolle noch nicht so fit ist, weil er seine Führungsfragen nicht geklärt hat und zu diesem Thema einfach geschwiegen hat, warum sollen wir dem Nachhilfeunterricht geben?
Geuther: Und trotzdem haben ja die Grünen auf ihrem Parteitag am vergangenen Wochenende – nach der Wahl ist vor der Wahl – schon mal mutig vorausgeschaut auf 2013 und als Möglichkeit besonders hervorgehoben an Bündnisoptionen Rot-Rot-Grün, falls die Linke bis dahin regierungsfähig sein sollte. Die Linkspartei ist an einer weiteren Regierung beteiligt in Brandenburg, es tut sich auch sonst einiges bei der Partei, unter anderem der halbe Rückzug Oskar Lafontaines. Wie sehen Sie denn die Entwicklungschancen der Linken – hin zur Regierungsfähigkeit im Bund?
Trittin: Ich mache mir dazu nicht so viel Gedanken drüber. Wir müssen jetzt als Erstes die Auseinandersetzung mit Schwarz-Gelb suchen, wir müssen dafür sorgen, dass Schwarz-Gelb in 2013 keine Mehrheit der Mandate mehr hat. Wer dabei helfen will, ist willkommen. Wer sich auf Selbstfindung, ob man nun regieren will oder dem Recht auf Rausch nachgeben als Priorität will, das müssen die selber entscheiden. Ich bin da weder der Pädagoge noch der Prophet über die Entwicklung der Linkspartei. Wir haben sehr wohl zu unterscheiden gewusst. Wir haben, wie Sie wissen, in Thüringen mitverhandelt mit der Perspektive, mit der Linkspartei ein solches Bündnis zu bilden, wir waren dazu übrigens in Hessen auch bereit, das ist nicht an uns gescheitert, sondern an der desolaten Lage der Sozialdemokratie. Wir haben im Saarland die Erfahrung machen müssen, dass die dortige Linkspartei nicht besonders verlässlich ist, jedenfalls nicht so verlässlich, dass unsere dortigen Parteifreunde mit denen regieren wollten. Insofern glaube ich, dass wir das ganz pragmatisch und fallweise entscheiden, denn es gibt keine Ausgrenzung, keine Unvereinbarkeit, sondern das ist politische Konkurrenz – in manchen Fällen, wie zum Beispiel bei der Kohle, auch politische Gegnerschaft.
Geuther: Jetzt sind die beiden Stichwörter schon gefallen – zum einen hauptsächlich gegen Schwarz-Gelb, zum anderen das Saarland. Da arbeiten Grüne, Union und FDP ja nun daran, dass der Dampfer nach Jamaika ablegt. Und ausgeschlossen sind solche Konstellationen auch für die sieben Landtagswahlen in den nächsten beiden Jahren nicht und auch darüber hinaus nicht.
Trittin: Was da ausgeschlossen oder was da eingeschlossen und beschlossen und was dort angestrebt wird, das werden die Landesverbände fallweise entscheiden. Und es wird Landtagswahlen geben, wo explizit eine solche Kombination ausgeschlossen ist, aus inhaltlichen Gründen. Grüne bestimmen ihre Koalitionsaussagen nicht nach Farben, sondern nach der Frage: Gehen in diesem Land eine – zum Beispiel andere Bildungspolitik, gibt es eine klare und nicht nur verbale Priorisierung und Prioritätensetzung für erneuerbare Energien, gibt es eine Absage an Kohlekraftwerke und an Laufzeitverlängerungen? Das sind die Kriterien, und das wird in dem einen oder anderen Fall dann entweder zu präzisen Koalitionsaussagen führen – was man unbedingt möchte, was man prioritär möchte. Und es wird auch Ausschlussentscheidungen geben, wie wir das bei der Bundestagswahl ja auch gemacht haben.
Geuther: Und trotzdem ist die Zusammenarbeit mit Schwarz-Gelb erstens ein Novum und zweitens das auch noch zu einer Zeit, in der man als Opposition zu der Konstellation im Bund steht. Führt das nicht zu Beißhemmungen im Bund?
Trittin: Nein, überhaupt nicht. Ich will Ihnen ein anderes Beispiel geben: In Dresden ist ganz lange Zeit eine Mehrheit im Rat gewesen von CDU, FDP und Linkspartei. Das hat die Linkspartei nicht daran gehindert, CDU und FDP im Bund oder in Sachsen anzugreifen.
Geuther: Das ist aber was anderes als die Landesregierung.
Trittin: Darüber kann man im Fall des Saarlandes trefflich streiten. Ich glaube, als gebürtiger Bremer darf ich das, ohne den Saarländern zu nahe zu treten, sagen.
Geuther: Noch zum Saarland: Das ist kein Modell für den Bund – hat der Parteitag beschlossen. Gleichzeitig steht im Beschluss sinngemäß auch: Alles ist möglich. Das klingt ein bisschen nach dem Asterix-Zitat "Ich bin dafür, dass es an Fleischtagen auch Fisch geben darf – und umgekehrt".
Trittin: Nein, das ist völlig anders. Es ist so, dass die Grünen gesagt haben: Wir entscheiden auf Bundesebene nicht darüber, wie Länder regiert werden. Da wird von den Landesgrünen drüber entschieden. Und wir haben deutlich gesagt: Angesichts der Herausforderung, vor der wir jetzt stehen – einer schwarz-gelben Regierung, die antritt unter Bruch sämtlicher ihrer Wahlversprechen – in einer solchen Konstellation kann es überhaupt nicht so sein, dass diese Sondersituation des Saarlandes, die bedingt ist durch die besonderen Verhältnisse dort, dass dieses ein Modell für irgendetwas ist, schon gar nicht für den Bund. Ich glaube auch nicht, dass das als Modell für Nordrhein-Westfalen angesehen wird.
Geuther: Glauben Sie nicht? Mit welcher Sicherheit glauben Sie das nicht?
Trittin: Das entscheiden die nordrhein-westfälischen Grünen. Sie werden es entscheiden im Frühjahr auf ihrem Parteitag im Februar. Ich habe nur den Landesvorsitzenden Arndt Klocke so gehört, der gesagt hat: "Nein, für NRW ist das kein Modell".
Geuther: Jetzt haben Sie eben dargestellt, dass es auf die Inhalte ankommt und danach entschieden wird, mit wem man koaliert. Das ist ja keine neue Aussage, trotzdem führen diese Fragen immer wieder zu Diskussionen mit großer Verve.
Trittin: Nein, sie haben etwas damit zu tun, dass sie aus einer Rolle – als eigenständige Partei, die leider noch ein Stück davon entfernt ist, absolute Mehrheiten zu haben – immer für die Durchsetzung und Umsetzung der eigenen Inhalte auf zeitlich begrenzte Bündnisse mit politischen Gegnern angewiesen ist. Das sind übrigens Koalitionen, Koalitionen sind Zweckbündnisse zwischen politischen Gegnern, von denen sich jeder für sich einen Vorteil verspricht. So unromantisch muss man das sehen. Und wenn in einer Zeit, in der die Sozialdemokratie in einer historisch nie dagewesenen Krise ist, in der übrigens gleichzeitig auch die CDU nicht so stark, aber in tendenziell gleicher Entwicklung ihren Charakter als Volkspartei zu verlieren droht – inzwischen hat selbst die CSU den Anspruch aufgegeben, wieder absolute Mehrheiten im Lande zu erobern – dass in einer solchen Zeit Diskussionen über die Frage: Wie erreiche ich für meine Inhalte Mehrheiten – eine andere Bedeutung haben als in Zeiten, wo das irgendwie klar war: Entweder gibt es Rot-grün, wie 2002, oder Schwarz-gelb. Das muss doch nicht wirklich verwundern. Das hat aber nichts mit der Eigenständigkeit zu tun.
Geuther: Auch viele Grüne kritisieren, dass Themen verschlafen wurden, unter anderem die Themen, die den Piraten einen Zulauf von immerhin 850.000 Wählern beschert haben. Wie wird sich das auswirken?
Trittin: Sehen Sie, wir haben mit einem dezidiert wirtschaftspolitischen Programm mit 4,6 Millionen Wählerinnen und Wählern so viele Wähler erreicht, wie noch nie zuvor. Und ich glaube, dass wir an dieser Stelle erst mal sehr selbstbewusst sagen müssen: Es war ein Programm, das die richtige Antwort war auf eine Situation, wo vielleicht noch ein Jahr zuvor jeder gesagt hätte: Mitten in der größten Wirtschaftskrise – da werden die Grünen dramatisch verlieren. Das wäre Common Sense gewesen. Das haben wir mit diesem Programm zurückgekämpft mit dem neuen grünen Gesellschaftsvertrag. Das ist eine sehr gute Grundlage, auf der wir aufbauen werden. Und es ist kein programmatisches Problem übrigens im Verhältnis zu den Piraten. Sie wissen, dass fast alles, was die Piraten fordern – daneben haben wir noch ein Wirtschaftsprogramm, ein Frauenprogramm, ein Umweltprogramm et cetera. – fast alles in diesem Programm der Grünen drin steht. Da bedarf es, glaube ich, nicht der Erneuerung. Da haben sie nur bei uns abgeschrieben.
Geuther: Sondern?
Trittin: Ich sage Ihnen, das ist völlig abgedeckt an der Stelle.
Geuther: Das heißt, es bedarf auch keiner Änderung?
Trittin: Nein, jedes Programm bedarf der täglichen und wöchentlichen und monatlichen und jährlichen Überarbeitung und Überprüfung. Ich sage nur, in dem Programm der Piraten steht nichts drin, was nicht auch im Programm der Grünen drin steht. Insofern ist das kein programmatisches Problem.
Geuther: Sie hören das Interview der Woche im Deutschlandfunk mit dem Fraktionsvorsitzenden der Grünen im Bundestag Jürgen Trittin. Zum Start der schwarz-gelben Regierung: Herr Trittin, das Umweltressort, das Sie einmal geführt haben, das leitet jetzt Norbert Röttgen, einstmals in der Pizza-Connection in Bonn jemand, der früh offen war für schwarz-grünen Gedankenaustausch. Ist das ein gutes Signal?
Trittin: Nein. Man soll aufhören, sich die CDU/CSU und die FDP schön zu saufen. Die sind richtig hässlich. Wenn man sich anschaut, wie der Start dieser Koalition ist, da haben ja viele gedacht, jetzt kommt so sozial-liberal CDU und CSU und FDP daher, es ändert sich nicht viel gegenüber der Großen Koalition. Die Wahrheit ist, diese Koalition tritt an mit einem Programm, was beruht auf dem Bruch fast sämtlicher Wahlversprechen. Frau Merkel hat uns im Wahlkampf erklärt, es gäbe mit ihr keine Steuersenkung auf Pump. Die Wahrheit ist, sie planen sie im großen Stil, sie wollen den Pump auch noch verstecken in Schattenhaushalten. Die FDP hat uns erklärt, es gäbe für die Bürger mehr Netto vom Brutto. Die Wahrheit ist, durch die Steigerung der Beiträge für die Arbeitnehmer – und nur für diese Seite – im Bereich der Pflegeversicherung, durch die Einführung einer Kopfpauschale und der Deckelung der Arbeitgeberbeiträge in der Gesundheitsversorgung, durch die Streichung des Mehrwertsteuerprivilegs für öffentliche Unternehmen, also für Unternehmen in Bürgerbesitz, wird es massive Gebührenerhöhungen geben. Das heißt, viele Menschen, gerade diejenigen, die geringe oder keine Steuern bezahlen, werden weniger Netto vom Brutto haben. Und dann stellt sich die FDP hin und sagt, sie sei nicht sozial kalt, sorgt aber dafür, dass ihrer Klientel über den Steuerfreibetrag die Kinder mit über 230 Euro besser gestellt werden. Der Normalverdiener kriegt nur 200 Euro, das Normalverdienerkind 200 Euro Kindergeld, und die 1,7 Millionen Kinder, die in diesem Land von Arbeitslosengeld II leben müssen, die gehen völlig leer aus. Was ist das anderes als soziale Kälte? Und deswegen verstehe ich manche Diskussionen nicht, die immer so tun, als ginge es bei der CDU und bei der CSU und bei der FDP um Leute, die seien eigentlich ganz nett. Nein, das sind sie nicht. Sie machen genau das, was wir ihnen im Wahlkampf vorgehalten haben.
Geuther: Die Grünen selbst sehen in der Sozialpolitik ja bei sich Defizite. Ihre Co-Fraktionsvorsitzende Renate Künast hat gerade erst erklärt, hier müssten Sie Ihr Profil schärfen und Schwarz-Gelb ist ja erst einmal ja auch mit sozialen Wohltaten hervorgetreten wie mit der Erhöhung des Schonvermögens für Hartz IV-Empfänger.
Trittin: Das trifft 11.000 Anträge im Jahr. In diesem Jahr werden 5,5 Millionen Menschen einen Antrag stellen auf Bezug von Arbeitslosengeld II. Davon sind 11.000 von der Frage Schonvermögen betroffen. Ich bin dafür. Es ist eine alte grüne Forderung. Nur eine soziale Wohltat ist es nicht. Es ist schlicht und ergreifend an den Bedürfnissen der Menschen vorbei. Was Not getan hätte, wäre eine klare Anhebung des Regelsatzes, also weg von den 351 Euro, von denen man nicht am gesellschaftlichen Leben teilnehmen kann, und umsetzen dessen, was alle Wohlfahrtsverbände, alle Kirchen heute fordern, nämlich einen Regelsatz von 420 Euro und eine andere und bessere Bemessung gerade des Regelsatzes für Kinder. Das wäre eine soziale Wohltat gewesen. Der Rest ist Symbolik.
Geuther: In der Klimapolitik hat sich die Koalition konkrete Ziele gesetzt. Bis 2020 sollen de Treibhausgasemissionen um 40 Prozent sinken gemessen am Wert von 1990. Nicht zufrieden?
Trittin: Die haben das festgeschrieben, was Rot-Grün 2001 beschlossen hat. Sie haben das festgeschrieben, wozu sich die Bundesrepublik Deutschland im Rahmen der Europäischen Union heute schon verpflichtet hat. Das heißt, sie haben in die Koalitionsvereinbarung das reingeschrieben, wozu ein rechtlicher Zwang besteht. Das ist Anerkennung der Realität, aber umweltpolitisch ambitioniert würde das erst dann werden, wenn man dieses mit konkreten Maßnahmen unterlegt. Und wenn Sie das Klimaschutzprogramm der großen Koalition noch einmal anschauen, dann werden Sie feststellen, dass in diesem Klimaschutzprogramm diese 40 Prozent nur deswegen erreicht – oder man in die Nähe kommt, es verfehlt das, man lag, glaube ich, bei 33 bis 34 Prozent Reduktion, nach eigenen Berechnungen des Umweltministeriums. Aber man erreicht selbst diesen Wert nur, wenn man massiv die erneuerbaren Energien ausbaut. Genau da haben CDU/CSU und FDP einen Riegel vorgeschoben. Die erneuerbaren Energien stehen heute in der Situation, dass sie drohen, in ihrer Entwicklung massiv abgewürgt zu werden, weil die beiden Koalitionspartner sich darauf verpflichtet haben, die Netzblockade durch eine zu hohe Grundlast mit Kohle und Atomstrom zu verlängern und sogar auszubauen durch die Laufzeitverlängerung, durch das Zubauen von neuen Kohlekraftwerken. All dies verstärkt die Tendenz, die wir heute schon haben, dass zum Beispiel Windparks abgeschaltet werden müssen, weil zu viel Grundlaststrom im Netz ist. Teilweise haben wir ja so viel Strom im Netz, dass an der Leipziger Strombörse es einen negativen Strompreis gibt, also man Geld kriegt, wenn man Strom abnimmt.
Geuther: Mit der erwarteten Energiepolitik der Koalition haben Sie ja auch schon grünen Wahlkampf gemacht. Aber gar so forsch, wie manche das erwartet hatten, sind ja die Aussagen im Koalitionsvertrag zum Ausstieg aus dem Atomausstieg nicht, Ausbau erneuerbarer Energien, und zwar was die Forschung betrifft, gerade aus dem Geld, was die Unternehmen durch Laufzeitverlängerung einnehmen, und so weiter. Dass Ihnen das nicht gefällt, ist klar. Aber ist es nicht etwas näher an dem, was Sie wollen, als erwartet?
Trittin: Nein, überhaupt nicht, weil in dem Punkt, dass jetzt RWE und E.ON ihre Forschungsetats, die sie sowieso haben, umdeklarieren als Erforschung in erneuerbare Energien, davon kommt noch nicht eine Kilowattstunde zusätzlichen Stroms ins Netz. Und das Problem bleibt. Das heißt, wir sind in der Situation, dass wir einer bislang boomende Branche mit 280.000 Arbeitsplätzen die Wachstumsmöglichkeiten wegnehmen, weil wir zugunsten von RWE, E.ON und Co, also den vier Energiemonopolisten, das Netz blockieren und damit übrigens ihre Vorherrschaft auf dem Energiemarkt weiter zementieren. Was das für die Strompreise beispielsweise heißt, das kann sich jeder ausmalen. Die werden nicht runter gehen, sondern hoch gehen.
Geuther: Nicht hoch gehen, sondern gleich bleiben soll nach den bisherigen Prognosen die Rente 2010 und zwar das auch nur, weil die Rentengarantie zum ersten Mal greifen soll. Wie bewerten Sie das?
Trittin: Das freut die Rentnerinnen und die Rentner, weil sie keine Verluste erleiden. Richtiger wäre es gewesen, den permanenten Niedergang der Lohnquote aufzuhalten. Und deswegen war es falsch, dass CDU/CSU und FDP in ihrer Koalitionsvereinbarung alles dafür getan haben, dass es in Deutschland keinen Mindestlohn gibt. Das ist die bittere Wahrheit auch und gerade für die Rentnerinnen und Rentner in diesem Lande. Dass, weil es keine Bremsen für die Lohnentwicklung nach unten gibt, in Deutschland anders als in fast allen anderen europäischen Ländern, die Lohnquote sinkt und in dieser Folge sinken dann auch die Renten. Und das versucht man jetzt mit einer Umverteilung zulasten kommender Generationen aufzufangen.
Geuther: Zurück zu Ihren Themen als ehemaligem Umweltminister: Wie groß sind Ihre Hoffnungen für den Klimagipfel in Kopenhagen im Dezember?
Trittin: Ich bin pessimistischer geworden. Wir wissen, dass es große Schwierigkeiten gibt, in den USA einen Gesetzentwurf zum Klimaschutz durch beide Häuser des Kongresses zu bekommen. Wir wissen aber auch, dass es konkrete Erwartungen gibt der Länder, die vom Klimawandel besonders betroffen sind, also gerade Entwicklungsländer – dass sie bei der Bewältigung der Folgen von den Verursachern des Klimawandels, also den Industriestaaten, angemessen unterstützt werden, dass sie Zugang zu moderner Technologie bekommen, dass sie Geld für diese Frage bekommen. Da gab es einen sehr guten Vorschlag der EU-Kommission. Die hat vorgeschlagen, 15 Milliarden jährlich verbindlich zur Verfügung zu stellen. Der Rat hat sich dem nicht angeschlossen. Er hat eine allgemeine Absichtserklärung abgegeben, dass man bis zu 100 Milliarden möglicherweise zur Verfügung stellen könne, aber man hat sich auch nicht präzise und rechtlich verbindlich darauf verständigt, wie dieses Geld dann unter den EU-Mitgliedstaaten aufzuteilen ist. Hier ist mal wieder mit wolkigen Versprechungen gearbeitet worden. Das erhöht mit Sicherheit nicht die Erfolgschancen für Kopenhagen. Denn was die Entwicklungsländer und was viele Schwellenländer erwarten ist eben konkrete und verbindliche Zusagen der Industrieländer. Ein solches Angebot liegt mit dem heutigen Gipfel nicht auf dem Tisch.
Geuther: Aber immerhin sind ja nun Zahlen genannt worden. Die Konkretisierung kann ja noch in Kopenhagen erfolgen.
Trittin: Ich verstehe ehrlich gesagt diese Verhandlungsstrategie nicht. Wir sind ja nicht beim Pokern. Alle Karten liegen offen auf dem Tisch. Wir kennen die Emissionswerte, wir kennen die notwendigen Reduktionsziele. Es gibt nichts, was man vorteilhaft hätte, indem man ein konkretes Angebot verschweigt. Außer, dass man auf Zeit spielt. Wenn man an einem schnellen Ergebnis in Kopenhagen interessiert ist, dann legt man die Dinge, die sowieso offenkundig sind, auf den Tisch und sagt: Okay, davon zahlen wir Europäer dies oder das. Und das war der Vorschlag der Kommission, hochvernünftig: Jährlicher Betrag von 15 Milliarden nach dem üblichen EU-Schlüssel aufgeteilt. Das wäre ein Angebot gewesen, was Entwicklungsländer bewegt hätte. Das wäre dann auch Bewegung und Druck auf die Schwellenländer, auf Länder wie Indien gewesen. Diese Chance hat – übrigens unter aktiver Beteiligung von Frau Merkel – die Europäische Union versäumt. Erneut erweist sich Frau Merkel als Bremserin und nicht als Antreiberin im Klimaschutz.
Geuther: Bleiben wir in Europa, Herr Trittin. In der Kommission ist zwar noch nicht klar, für welches Ressort Deutschland den Kommissar stellt, aber doch wer das sein soll.
Trittin: Ich hätte da einen Vorschlag.
Geuther: Nämlich?
Trittin: Herr Oettinger könnte ja ein neuer Kommissar für Sprachenvielfalt werden, denn bekanntermaßen hat der einer Landesregierung angehört, die für sich geworben haben mit dem Spruch: "Wir können alles außer Hochdeutsch".
Geuther: Es ist möglich, dass es auch um einen anderen Themenbereich gehen wird. Aber genau das ist noch offen. Die Person steht fest, Günter Oettinger. Ist das die richtige Reihenfolge?
Trittin: Ich finde, bei allem Respekt, dass die Union zu Recht sagt, sie könnte auch mal wieder einen Kommissar stellen. Das ist nicht mein Problem. Mit der Personalie, man entsorgt einen im eigenen Lande gescheiterten Ministerpräsidenten, der von der eigenen Partei nicht mehr gewollt ist, nach Europa, und der offenbart gleich in der ersten Pressemitteilung seine absolute Unkenntnis der europäischen Verhältnisse. Die Forderung, dass Europa zum Beispiel nicht sich bei den Umweltkompetenzen zu viel aneignen sollte, zeugt nur davon, dass Herr Oettinger weder den Vertrag von Lissabon noch den Vertrag von Nizza noch den Vorgängervertrag von Amsterdam noch den Vorvorgängervertrag von Maastricht kennt, übrigens alles Verträge, denen das Land Baden-Württemberg im Bundesrat zugestimmt hat. Seitdem ist geregelt, dass es eine umfassende Kompetenz Europas in der Umweltpolitik gibt. Und seitdem ist nationale Umweltpolitik in vielen Bereichen nur ausführende Umweltpolitik Europas. Und in all diesen Fragen spielt das Europaparlament, Gott sei Dank, eine mitentscheidende Rolle. Und ich glaube, dass das insofern als eine Kampfansage gesehen werden muss, Herr Oettinger, nämlich eine Kampfansage an das, was Europa ganz viel Akzeptanz verschafft hat, nämlich eine engagierte Umwelt- und Verbraucherpolitik. Dem sich entgegen zu stellen, das scheint der Kampfauftrag von Herrn Oettinger zu sein. Das ist nicht nur antiökologisch, das ist auch antieuropäisch.
Geuther: Sehen Sie die wesentliche Aufgabe der Grünen in den kommenden Jahren in Europa?
Trittin: Die Grünen sind die einzige Partei, die mit einer europäische Partei für das Europaparlament getagt hat. Wir sind die Partei, die konsequent auf mehr Europa setzt. Die Versprechen, dass das alles ginge, indem man sich klein-klein auf den Nationalstaat zurückzieht – oder gar nur nach Bayern, wie es die CSU fordert –, diese Versprechen werden, egal, von welcher Seite sie erhoben werden, nicht tragfähig sein.
Geuther: Herr Trittin, danke für das Gespräch.
Trittin: Danke Ihnen.
Jürgen Trittin: Nein, das gilt für die Grünen nicht. Wir greifen die Regierung an, wir stellen uns dem sportiven Wettbewerb mit den anderen Oppositionsfraktionen, wer schneller und besser ist. Da sind wir ganz selbstbewusst, aber wir sind auch nicht überheblich. Und da, wo man dann gemeinsam etwas machen kann, da machen wir das auch gemeinsam.
Geuther: Die Grünen haben ja kräftig zugelegt bei der Bundestagswahl auf das beste Ergebnis je – und sind doch die kleinste Kraft, die fünfte Kraft im Bundestag. Was heißt denn da diese Meinungsführerschaft in der Opposition, die nicht nur Sie, aber auch Sie als Grüne ja für sich reklamieren? Sie haben eben gesagt schneller, besser – oder heißt es, dass Sie schlicht Ihre eigenen Argumente am überzeugendsten finden?
Trittin: Nein, ich glaube, zur Opposition gehört eben auch, klarzumachen, dass wir es mit einer Regierung zu tun haben, die nicht aus eigener Stärke eine Mehrheit gewonnen haben. CDU und FDP haben ja absolut 300.000 Wähler verloren, das wird oft vergessen. Und das heißt: Sie haben keine gesellschaftliche Mehrheit. Diese gesellschaftliche Mehrheit gegen die Mehrheit der Mandate zu mobilisieren, das ist die eigentliche Herausforderung, die wir auf allen Gebieten, sei es in der Steuerpolitik, sei es in der Sozialpolitik oder sei es in der Energiepolitik, bewegen werden.
Geuther: Das ist das Verhältnis zur Regierung, aber gleichzeitig – wie sich die neue Opposition auch miteinander präsentiert, das konnten wir ja direkt nach der Wahl der Kanzlerin erleben, da kritisierten SPD und Grüne gemeinsam, dass Angela Merkel vor ihrer Regierungserklärung vor dem Parlament ins Ausland fährt. Die Linken hätten sich da möglicherweise auch gerne empört gezeigt, wurden aber nicht gefragt. Sieht so die Oppositionsarbeit aus in den kommenden vier Jahren?
Trittin: Ne, das war andersrum. Wir haben sehr frühzeitig, ich meine, schon vor 14 Tagen, als sich das abzeichnete, habe ich das gesagt, eine Woche später der parlamentarische Geschäftsführer der SPD, dass wir das auf uns zukommen sehen. Wir sagten, das geht nicht. Es geht nicht, dass eine gewählte Bundeskanzlerin, bevor sie sich dem deutschen Volk, dem Deutschen Bundestag präsentiert und erklärt, wohin die Reise gehen soll, sich der Kritik stellt, dass sie dieses auf einem Europäischen Rat – das mag vielleicht noch angehen –, aber dann zunächst und vor allen Dingen in den USA erklärt, wie sie Deutschland regieren wollte. Das haben SPD und Grüne – Grüne als Erste – sehr frühzeitig thematisiert. Von der Linkspartei war nichts zu hören. Und wer da mit der Oppositionsrolle noch nicht so fit ist, weil er seine Führungsfragen nicht geklärt hat und zu diesem Thema einfach geschwiegen hat, warum sollen wir dem Nachhilfeunterricht geben?
Geuther: Und trotzdem haben ja die Grünen auf ihrem Parteitag am vergangenen Wochenende – nach der Wahl ist vor der Wahl – schon mal mutig vorausgeschaut auf 2013 und als Möglichkeit besonders hervorgehoben an Bündnisoptionen Rot-Rot-Grün, falls die Linke bis dahin regierungsfähig sein sollte. Die Linkspartei ist an einer weiteren Regierung beteiligt in Brandenburg, es tut sich auch sonst einiges bei der Partei, unter anderem der halbe Rückzug Oskar Lafontaines. Wie sehen Sie denn die Entwicklungschancen der Linken – hin zur Regierungsfähigkeit im Bund?
Trittin: Ich mache mir dazu nicht so viel Gedanken drüber. Wir müssen jetzt als Erstes die Auseinandersetzung mit Schwarz-Gelb suchen, wir müssen dafür sorgen, dass Schwarz-Gelb in 2013 keine Mehrheit der Mandate mehr hat. Wer dabei helfen will, ist willkommen. Wer sich auf Selbstfindung, ob man nun regieren will oder dem Recht auf Rausch nachgeben als Priorität will, das müssen die selber entscheiden. Ich bin da weder der Pädagoge noch der Prophet über die Entwicklung der Linkspartei. Wir haben sehr wohl zu unterscheiden gewusst. Wir haben, wie Sie wissen, in Thüringen mitverhandelt mit der Perspektive, mit der Linkspartei ein solches Bündnis zu bilden, wir waren dazu übrigens in Hessen auch bereit, das ist nicht an uns gescheitert, sondern an der desolaten Lage der Sozialdemokratie. Wir haben im Saarland die Erfahrung machen müssen, dass die dortige Linkspartei nicht besonders verlässlich ist, jedenfalls nicht so verlässlich, dass unsere dortigen Parteifreunde mit denen regieren wollten. Insofern glaube ich, dass wir das ganz pragmatisch und fallweise entscheiden, denn es gibt keine Ausgrenzung, keine Unvereinbarkeit, sondern das ist politische Konkurrenz – in manchen Fällen, wie zum Beispiel bei der Kohle, auch politische Gegnerschaft.
Geuther: Jetzt sind die beiden Stichwörter schon gefallen – zum einen hauptsächlich gegen Schwarz-Gelb, zum anderen das Saarland. Da arbeiten Grüne, Union und FDP ja nun daran, dass der Dampfer nach Jamaika ablegt. Und ausgeschlossen sind solche Konstellationen auch für die sieben Landtagswahlen in den nächsten beiden Jahren nicht und auch darüber hinaus nicht.
Trittin: Was da ausgeschlossen oder was da eingeschlossen und beschlossen und was dort angestrebt wird, das werden die Landesverbände fallweise entscheiden. Und es wird Landtagswahlen geben, wo explizit eine solche Kombination ausgeschlossen ist, aus inhaltlichen Gründen. Grüne bestimmen ihre Koalitionsaussagen nicht nach Farben, sondern nach der Frage: Gehen in diesem Land eine – zum Beispiel andere Bildungspolitik, gibt es eine klare und nicht nur verbale Priorisierung und Prioritätensetzung für erneuerbare Energien, gibt es eine Absage an Kohlekraftwerke und an Laufzeitverlängerungen? Das sind die Kriterien, und das wird in dem einen oder anderen Fall dann entweder zu präzisen Koalitionsaussagen führen – was man unbedingt möchte, was man prioritär möchte. Und es wird auch Ausschlussentscheidungen geben, wie wir das bei der Bundestagswahl ja auch gemacht haben.
Geuther: Und trotzdem ist die Zusammenarbeit mit Schwarz-Gelb erstens ein Novum und zweitens das auch noch zu einer Zeit, in der man als Opposition zu der Konstellation im Bund steht. Führt das nicht zu Beißhemmungen im Bund?
Trittin: Nein, überhaupt nicht. Ich will Ihnen ein anderes Beispiel geben: In Dresden ist ganz lange Zeit eine Mehrheit im Rat gewesen von CDU, FDP und Linkspartei. Das hat die Linkspartei nicht daran gehindert, CDU und FDP im Bund oder in Sachsen anzugreifen.
Geuther: Das ist aber was anderes als die Landesregierung.
Trittin: Darüber kann man im Fall des Saarlandes trefflich streiten. Ich glaube, als gebürtiger Bremer darf ich das, ohne den Saarländern zu nahe zu treten, sagen.
Geuther: Noch zum Saarland: Das ist kein Modell für den Bund – hat der Parteitag beschlossen. Gleichzeitig steht im Beschluss sinngemäß auch: Alles ist möglich. Das klingt ein bisschen nach dem Asterix-Zitat "Ich bin dafür, dass es an Fleischtagen auch Fisch geben darf – und umgekehrt".
Trittin: Nein, das ist völlig anders. Es ist so, dass die Grünen gesagt haben: Wir entscheiden auf Bundesebene nicht darüber, wie Länder regiert werden. Da wird von den Landesgrünen drüber entschieden. Und wir haben deutlich gesagt: Angesichts der Herausforderung, vor der wir jetzt stehen – einer schwarz-gelben Regierung, die antritt unter Bruch sämtlicher ihrer Wahlversprechen – in einer solchen Konstellation kann es überhaupt nicht so sein, dass diese Sondersituation des Saarlandes, die bedingt ist durch die besonderen Verhältnisse dort, dass dieses ein Modell für irgendetwas ist, schon gar nicht für den Bund. Ich glaube auch nicht, dass das als Modell für Nordrhein-Westfalen angesehen wird.
Geuther: Glauben Sie nicht? Mit welcher Sicherheit glauben Sie das nicht?
Trittin: Das entscheiden die nordrhein-westfälischen Grünen. Sie werden es entscheiden im Frühjahr auf ihrem Parteitag im Februar. Ich habe nur den Landesvorsitzenden Arndt Klocke so gehört, der gesagt hat: "Nein, für NRW ist das kein Modell".
Geuther: Jetzt haben Sie eben dargestellt, dass es auf die Inhalte ankommt und danach entschieden wird, mit wem man koaliert. Das ist ja keine neue Aussage, trotzdem führen diese Fragen immer wieder zu Diskussionen mit großer Verve.
Trittin: Nein, sie haben etwas damit zu tun, dass sie aus einer Rolle – als eigenständige Partei, die leider noch ein Stück davon entfernt ist, absolute Mehrheiten zu haben – immer für die Durchsetzung und Umsetzung der eigenen Inhalte auf zeitlich begrenzte Bündnisse mit politischen Gegnern angewiesen ist. Das sind übrigens Koalitionen, Koalitionen sind Zweckbündnisse zwischen politischen Gegnern, von denen sich jeder für sich einen Vorteil verspricht. So unromantisch muss man das sehen. Und wenn in einer Zeit, in der die Sozialdemokratie in einer historisch nie dagewesenen Krise ist, in der übrigens gleichzeitig auch die CDU nicht so stark, aber in tendenziell gleicher Entwicklung ihren Charakter als Volkspartei zu verlieren droht – inzwischen hat selbst die CSU den Anspruch aufgegeben, wieder absolute Mehrheiten im Lande zu erobern – dass in einer solchen Zeit Diskussionen über die Frage: Wie erreiche ich für meine Inhalte Mehrheiten – eine andere Bedeutung haben als in Zeiten, wo das irgendwie klar war: Entweder gibt es Rot-grün, wie 2002, oder Schwarz-gelb. Das muss doch nicht wirklich verwundern. Das hat aber nichts mit der Eigenständigkeit zu tun.
Geuther: Auch viele Grüne kritisieren, dass Themen verschlafen wurden, unter anderem die Themen, die den Piraten einen Zulauf von immerhin 850.000 Wählern beschert haben. Wie wird sich das auswirken?
Trittin: Sehen Sie, wir haben mit einem dezidiert wirtschaftspolitischen Programm mit 4,6 Millionen Wählerinnen und Wählern so viele Wähler erreicht, wie noch nie zuvor. Und ich glaube, dass wir an dieser Stelle erst mal sehr selbstbewusst sagen müssen: Es war ein Programm, das die richtige Antwort war auf eine Situation, wo vielleicht noch ein Jahr zuvor jeder gesagt hätte: Mitten in der größten Wirtschaftskrise – da werden die Grünen dramatisch verlieren. Das wäre Common Sense gewesen. Das haben wir mit diesem Programm zurückgekämpft mit dem neuen grünen Gesellschaftsvertrag. Das ist eine sehr gute Grundlage, auf der wir aufbauen werden. Und es ist kein programmatisches Problem übrigens im Verhältnis zu den Piraten. Sie wissen, dass fast alles, was die Piraten fordern – daneben haben wir noch ein Wirtschaftsprogramm, ein Frauenprogramm, ein Umweltprogramm et cetera. – fast alles in diesem Programm der Grünen drin steht. Da bedarf es, glaube ich, nicht der Erneuerung. Da haben sie nur bei uns abgeschrieben.
Geuther: Sondern?
Trittin: Ich sage Ihnen, das ist völlig abgedeckt an der Stelle.
Geuther: Das heißt, es bedarf auch keiner Änderung?
Trittin: Nein, jedes Programm bedarf der täglichen und wöchentlichen und monatlichen und jährlichen Überarbeitung und Überprüfung. Ich sage nur, in dem Programm der Piraten steht nichts drin, was nicht auch im Programm der Grünen drin steht. Insofern ist das kein programmatisches Problem.
Geuther: Sie hören das Interview der Woche im Deutschlandfunk mit dem Fraktionsvorsitzenden der Grünen im Bundestag Jürgen Trittin. Zum Start der schwarz-gelben Regierung: Herr Trittin, das Umweltressort, das Sie einmal geführt haben, das leitet jetzt Norbert Röttgen, einstmals in der Pizza-Connection in Bonn jemand, der früh offen war für schwarz-grünen Gedankenaustausch. Ist das ein gutes Signal?
Trittin: Nein. Man soll aufhören, sich die CDU/CSU und die FDP schön zu saufen. Die sind richtig hässlich. Wenn man sich anschaut, wie der Start dieser Koalition ist, da haben ja viele gedacht, jetzt kommt so sozial-liberal CDU und CSU und FDP daher, es ändert sich nicht viel gegenüber der Großen Koalition. Die Wahrheit ist, diese Koalition tritt an mit einem Programm, was beruht auf dem Bruch fast sämtlicher Wahlversprechen. Frau Merkel hat uns im Wahlkampf erklärt, es gäbe mit ihr keine Steuersenkung auf Pump. Die Wahrheit ist, sie planen sie im großen Stil, sie wollen den Pump auch noch verstecken in Schattenhaushalten. Die FDP hat uns erklärt, es gäbe für die Bürger mehr Netto vom Brutto. Die Wahrheit ist, durch die Steigerung der Beiträge für die Arbeitnehmer – und nur für diese Seite – im Bereich der Pflegeversicherung, durch die Einführung einer Kopfpauschale und der Deckelung der Arbeitgeberbeiträge in der Gesundheitsversorgung, durch die Streichung des Mehrwertsteuerprivilegs für öffentliche Unternehmen, also für Unternehmen in Bürgerbesitz, wird es massive Gebührenerhöhungen geben. Das heißt, viele Menschen, gerade diejenigen, die geringe oder keine Steuern bezahlen, werden weniger Netto vom Brutto haben. Und dann stellt sich die FDP hin und sagt, sie sei nicht sozial kalt, sorgt aber dafür, dass ihrer Klientel über den Steuerfreibetrag die Kinder mit über 230 Euro besser gestellt werden. Der Normalverdiener kriegt nur 200 Euro, das Normalverdienerkind 200 Euro Kindergeld, und die 1,7 Millionen Kinder, die in diesem Land von Arbeitslosengeld II leben müssen, die gehen völlig leer aus. Was ist das anderes als soziale Kälte? Und deswegen verstehe ich manche Diskussionen nicht, die immer so tun, als ginge es bei der CDU und bei der CSU und bei der FDP um Leute, die seien eigentlich ganz nett. Nein, das sind sie nicht. Sie machen genau das, was wir ihnen im Wahlkampf vorgehalten haben.
Geuther: Die Grünen selbst sehen in der Sozialpolitik ja bei sich Defizite. Ihre Co-Fraktionsvorsitzende Renate Künast hat gerade erst erklärt, hier müssten Sie Ihr Profil schärfen und Schwarz-Gelb ist ja erst einmal ja auch mit sozialen Wohltaten hervorgetreten wie mit der Erhöhung des Schonvermögens für Hartz IV-Empfänger.
Trittin: Das trifft 11.000 Anträge im Jahr. In diesem Jahr werden 5,5 Millionen Menschen einen Antrag stellen auf Bezug von Arbeitslosengeld II. Davon sind 11.000 von der Frage Schonvermögen betroffen. Ich bin dafür. Es ist eine alte grüne Forderung. Nur eine soziale Wohltat ist es nicht. Es ist schlicht und ergreifend an den Bedürfnissen der Menschen vorbei. Was Not getan hätte, wäre eine klare Anhebung des Regelsatzes, also weg von den 351 Euro, von denen man nicht am gesellschaftlichen Leben teilnehmen kann, und umsetzen dessen, was alle Wohlfahrtsverbände, alle Kirchen heute fordern, nämlich einen Regelsatz von 420 Euro und eine andere und bessere Bemessung gerade des Regelsatzes für Kinder. Das wäre eine soziale Wohltat gewesen. Der Rest ist Symbolik.
Geuther: In der Klimapolitik hat sich die Koalition konkrete Ziele gesetzt. Bis 2020 sollen de Treibhausgasemissionen um 40 Prozent sinken gemessen am Wert von 1990. Nicht zufrieden?
Trittin: Die haben das festgeschrieben, was Rot-Grün 2001 beschlossen hat. Sie haben das festgeschrieben, wozu sich die Bundesrepublik Deutschland im Rahmen der Europäischen Union heute schon verpflichtet hat. Das heißt, sie haben in die Koalitionsvereinbarung das reingeschrieben, wozu ein rechtlicher Zwang besteht. Das ist Anerkennung der Realität, aber umweltpolitisch ambitioniert würde das erst dann werden, wenn man dieses mit konkreten Maßnahmen unterlegt. Und wenn Sie das Klimaschutzprogramm der großen Koalition noch einmal anschauen, dann werden Sie feststellen, dass in diesem Klimaschutzprogramm diese 40 Prozent nur deswegen erreicht – oder man in die Nähe kommt, es verfehlt das, man lag, glaube ich, bei 33 bis 34 Prozent Reduktion, nach eigenen Berechnungen des Umweltministeriums. Aber man erreicht selbst diesen Wert nur, wenn man massiv die erneuerbaren Energien ausbaut. Genau da haben CDU/CSU und FDP einen Riegel vorgeschoben. Die erneuerbaren Energien stehen heute in der Situation, dass sie drohen, in ihrer Entwicklung massiv abgewürgt zu werden, weil die beiden Koalitionspartner sich darauf verpflichtet haben, die Netzblockade durch eine zu hohe Grundlast mit Kohle und Atomstrom zu verlängern und sogar auszubauen durch die Laufzeitverlängerung, durch das Zubauen von neuen Kohlekraftwerken. All dies verstärkt die Tendenz, die wir heute schon haben, dass zum Beispiel Windparks abgeschaltet werden müssen, weil zu viel Grundlaststrom im Netz ist. Teilweise haben wir ja so viel Strom im Netz, dass an der Leipziger Strombörse es einen negativen Strompreis gibt, also man Geld kriegt, wenn man Strom abnimmt.
Geuther: Mit der erwarteten Energiepolitik der Koalition haben Sie ja auch schon grünen Wahlkampf gemacht. Aber gar so forsch, wie manche das erwartet hatten, sind ja die Aussagen im Koalitionsvertrag zum Ausstieg aus dem Atomausstieg nicht, Ausbau erneuerbarer Energien, und zwar was die Forschung betrifft, gerade aus dem Geld, was die Unternehmen durch Laufzeitverlängerung einnehmen, und so weiter. Dass Ihnen das nicht gefällt, ist klar. Aber ist es nicht etwas näher an dem, was Sie wollen, als erwartet?
Trittin: Nein, überhaupt nicht, weil in dem Punkt, dass jetzt RWE und E.ON ihre Forschungsetats, die sie sowieso haben, umdeklarieren als Erforschung in erneuerbare Energien, davon kommt noch nicht eine Kilowattstunde zusätzlichen Stroms ins Netz. Und das Problem bleibt. Das heißt, wir sind in der Situation, dass wir einer bislang boomende Branche mit 280.000 Arbeitsplätzen die Wachstumsmöglichkeiten wegnehmen, weil wir zugunsten von RWE, E.ON und Co, also den vier Energiemonopolisten, das Netz blockieren und damit übrigens ihre Vorherrschaft auf dem Energiemarkt weiter zementieren. Was das für die Strompreise beispielsweise heißt, das kann sich jeder ausmalen. Die werden nicht runter gehen, sondern hoch gehen.
Geuther: Nicht hoch gehen, sondern gleich bleiben soll nach den bisherigen Prognosen die Rente 2010 und zwar das auch nur, weil die Rentengarantie zum ersten Mal greifen soll. Wie bewerten Sie das?
Trittin: Das freut die Rentnerinnen und die Rentner, weil sie keine Verluste erleiden. Richtiger wäre es gewesen, den permanenten Niedergang der Lohnquote aufzuhalten. Und deswegen war es falsch, dass CDU/CSU und FDP in ihrer Koalitionsvereinbarung alles dafür getan haben, dass es in Deutschland keinen Mindestlohn gibt. Das ist die bittere Wahrheit auch und gerade für die Rentnerinnen und Rentner in diesem Lande. Dass, weil es keine Bremsen für die Lohnentwicklung nach unten gibt, in Deutschland anders als in fast allen anderen europäischen Ländern, die Lohnquote sinkt und in dieser Folge sinken dann auch die Renten. Und das versucht man jetzt mit einer Umverteilung zulasten kommender Generationen aufzufangen.
Geuther: Zurück zu Ihren Themen als ehemaligem Umweltminister: Wie groß sind Ihre Hoffnungen für den Klimagipfel in Kopenhagen im Dezember?
Trittin: Ich bin pessimistischer geworden. Wir wissen, dass es große Schwierigkeiten gibt, in den USA einen Gesetzentwurf zum Klimaschutz durch beide Häuser des Kongresses zu bekommen. Wir wissen aber auch, dass es konkrete Erwartungen gibt der Länder, die vom Klimawandel besonders betroffen sind, also gerade Entwicklungsländer – dass sie bei der Bewältigung der Folgen von den Verursachern des Klimawandels, also den Industriestaaten, angemessen unterstützt werden, dass sie Zugang zu moderner Technologie bekommen, dass sie Geld für diese Frage bekommen. Da gab es einen sehr guten Vorschlag der EU-Kommission. Die hat vorgeschlagen, 15 Milliarden jährlich verbindlich zur Verfügung zu stellen. Der Rat hat sich dem nicht angeschlossen. Er hat eine allgemeine Absichtserklärung abgegeben, dass man bis zu 100 Milliarden möglicherweise zur Verfügung stellen könne, aber man hat sich auch nicht präzise und rechtlich verbindlich darauf verständigt, wie dieses Geld dann unter den EU-Mitgliedstaaten aufzuteilen ist. Hier ist mal wieder mit wolkigen Versprechungen gearbeitet worden. Das erhöht mit Sicherheit nicht die Erfolgschancen für Kopenhagen. Denn was die Entwicklungsländer und was viele Schwellenländer erwarten ist eben konkrete und verbindliche Zusagen der Industrieländer. Ein solches Angebot liegt mit dem heutigen Gipfel nicht auf dem Tisch.
Geuther: Aber immerhin sind ja nun Zahlen genannt worden. Die Konkretisierung kann ja noch in Kopenhagen erfolgen.
Trittin: Ich verstehe ehrlich gesagt diese Verhandlungsstrategie nicht. Wir sind ja nicht beim Pokern. Alle Karten liegen offen auf dem Tisch. Wir kennen die Emissionswerte, wir kennen die notwendigen Reduktionsziele. Es gibt nichts, was man vorteilhaft hätte, indem man ein konkretes Angebot verschweigt. Außer, dass man auf Zeit spielt. Wenn man an einem schnellen Ergebnis in Kopenhagen interessiert ist, dann legt man die Dinge, die sowieso offenkundig sind, auf den Tisch und sagt: Okay, davon zahlen wir Europäer dies oder das. Und das war der Vorschlag der Kommission, hochvernünftig: Jährlicher Betrag von 15 Milliarden nach dem üblichen EU-Schlüssel aufgeteilt. Das wäre ein Angebot gewesen, was Entwicklungsländer bewegt hätte. Das wäre dann auch Bewegung und Druck auf die Schwellenländer, auf Länder wie Indien gewesen. Diese Chance hat – übrigens unter aktiver Beteiligung von Frau Merkel – die Europäische Union versäumt. Erneut erweist sich Frau Merkel als Bremserin und nicht als Antreiberin im Klimaschutz.
Geuther: Bleiben wir in Europa, Herr Trittin. In der Kommission ist zwar noch nicht klar, für welches Ressort Deutschland den Kommissar stellt, aber doch wer das sein soll.
Trittin: Ich hätte da einen Vorschlag.
Geuther: Nämlich?
Trittin: Herr Oettinger könnte ja ein neuer Kommissar für Sprachenvielfalt werden, denn bekanntermaßen hat der einer Landesregierung angehört, die für sich geworben haben mit dem Spruch: "Wir können alles außer Hochdeutsch".
Geuther: Es ist möglich, dass es auch um einen anderen Themenbereich gehen wird. Aber genau das ist noch offen. Die Person steht fest, Günter Oettinger. Ist das die richtige Reihenfolge?
Trittin: Ich finde, bei allem Respekt, dass die Union zu Recht sagt, sie könnte auch mal wieder einen Kommissar stellen. Das ist nicht mein Problem. Mit der Personalie, man entsorgt einen im eigenen Lande gescheiterten Ministerpräsidenten, der von der eigenen Partei nicht mehr gewollt ist, nach Europa, und der offenbart gleich in der ersten Pressemitteilung seine absolute Unkenntnis der europäischen Verhältnisse. Die Forderung, dass Europa zum Beispiel nicht sich bei den Umweltkompetenzen zu viel aneignen sollte, zeugt nur davon, dass Herr Oettinger weder den Vertrag von Lissabon noch den Vertrag von Nizza noch den Vorgängervertrag von Amsterdam noch den Vorvorgängervertrag von Maastricht kennt, übrigens alles Verträge, denen das Land Baden-Württemberg im Bundesrat zugestimmt hat. Seitdem ist geregelt, dass es eine umfassende Kompetenz Europas in der Umweltpolitik gibt. Und seitdem ist nationale Umweltpolitik in vielen Bereichen nur ausführende Umweltpolitik Europas. Und in all diesen Fragen spielt das Europaparlament, Gott sei Dank, eine mitentscheidende Rolle. Und ich glaube, dass das insofern als eine Kampfansage gesehen werden muss, Herr Oettinger, nämlich eine Kampfansage an das, was Europa ganz viel Akzeptanz verschafft hat, nämlich eine engagierte Umwelt- und Verbraucherpolitik. Dem sich entgegen zu stellen, das scheint der Kampfauftrag von Herrn Oettinger zu sein. Das ist nicht nur antiökologisch, das ist auch antieuropäisch.
Geuther: Sehen Sie die wesentliche Aufgabe der Grünen in den kommenden Jahren in Europa?
Trittin: Die Grünen sind die einzige Partei, die mit einer europäische Partei für das Europaparlament getagt hat. Wir sind die Partei, die konsequent auf mehr Europa setzt. Die Versprechen, dass das alles ginge, indem man sich klein-klein auf den Nationalstaat zurückzieht – oder gar nur nach Bayern, wie es die CSU fordert –, diese Versprechen werden, egal, von welcher Seite sie erhoben werden, nicht tragfähig sein.
Geuther: Herr Trittin, danke für das Gespräch.
Trittin: Danke Ihnen.