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Die Situation

Wenn gegenwärtig Autoren, die mehr oder weniger am Beginn ihrer Laufbahn stehen, oder die zumindest noch nicht das sind, was man "durchgesetzt" nennt; wenn solche Autoren ihre eigene Situation literarisch reflektieren, zeichnet sich häufig folgendes Muster ab: Sie sind locker, auffallend wendig; selbstbewußt betreiben sie ihre Bild-, Musik-, Text- und Theorieproduktion; sie stehen im Einklang mit sich und ihrer Zeit, noch wenn sie provozieren: Kommunikation ist für sie ein Spiel mit dem Reiz der Unverbindlichkeit. Man hantiert kunstvoll mit allerhand Medien, und die eigene Identität wird als ein event, oder als eine mehr oder minder dekorative Komposition verstanden. All das, was man zunächst ja einfach konstatieren kann, ist leider oft grundiert von einem Gestus der Jugendlichkeit, der, besonders wenn die Autoren oder Autorinnen um die vierzig sind, teilweise geradezu gespenstisch anmutet.

Sabine Peters |
    Peter Weiss war knapp vierzig, als er in Stockholm 1956 den Roman "die Situation" schrieb. Auch dies war ein Versuch, die eigene Lage zu bestimmen; in der Literaturlandschaft von heute wirkt das Buch allerdings wie ein Fremdkörper. Das hat nicht nur mit den veränderten Zeitläuften zu tun, sondern auch mit Weiss´ eigener Biografie. 1935 emigrierte seine Familie nach England, von dort aus zog sie in die CSSR, schließlich nach Schweden. Der Vater war ein jüdischer Textilfabrikant, der trotz der Härten des Exils seine bürgerliche Existenz weiterführen konnte; aus dem Sohn wurde aber bürgerlichen Maßstäben zufolge zunächst einmal nichts. Im provinziellen, selbstgenügsamen Schweden jener Jahre konnte Peter Weiss nur mäßigen Erfolg mit seiner Arbeit haben: Er malte, collagierte, drehte Dokumentar- und Experimentalfilme, und er schrieb. Zu seinem literarischen Frühwerk gehörten etwa die Prosatexte "Von Insel zu Insel" "Die Besiegten" oder "Das Duell". Weiss selbst setzte aber hinsichtlich seiner Biografie später Akzente, er bezeichnete die Jahre bis 1960 einmal als seine Künstlerjahre, denen erst danach die des Schreibens folgten. Dabei entstand aber doch auch der Mikroroman "Der Schatten des Körpers des Kutschers", mit dem er später bekannt wurde, bereits 1952. Und 1956 also "die Situation": Ein Roman, der erst jetzt aus dem Nachlaß auftauchte, der aus dem Schwedischen übersetzt und soeben erstmals veröffentlicht wurde. Wenn man sich anhand von Peter Weiss´ Lebenslauf das Nebeneinander so vieler künstlerischer Ansätze in den vierziger und fünfziger Jahren vor Augen führt, scheint es, daß er speziell in diesen Jahren von schweren Zweifeln hinsichtlich der Wahl seiner Ausdrucksmittel besetzt war. An ein spielerisches, lockeres Ausprobieren von Möglichkeiten denkt man da nicht. Es ging ja auch nicht allein um die Entscheidung, sich als Maler oder als Schriftsteller zu definieren, es ging auch um die Frage, ob er schwedisch oder deutsch schreiben sollte. Mag sein, daß er als Exilant dem Deutschen anfangs mißtrauisch gegenüberstand, daß die Vertreibung aus Deutschland auch eine Vertreibung aus der Sprache war. Außerdem hat die Tatsache, daß Suhrkamp den später so berühmten "Schatten"-Text zunächst abgelehnte, sicherlich nicht dazu beigetragen, sich als deutschsprachigen Autor zu verstehen. Weiss schrieb in einem Versuch des Rückblicks in seinem Notizbuch von 1978:

    "Im Exil versuchte ich, die Sprache zu wechseln, mich auszudrücken in der Sprache, die mich umgab. Später verstand ich, daß dies bedeutete: Die Identität zu wechseln. Der Versuch, die schwedische Sprache als Ausdrucksmittel zu benutzen, mißglückte. Was ich zustandebrachte, war nur Sekundäres, es waren Übersetzungen aus tieferen, originalen Schichten. Ich mußte zurückkehren zu den Grundlagen meiner Person, und diese waren definiert worden in der Sprache, die ich während der Kindheit und Jugend lernte."

    Wenn man "Die Situation" liest, hat man allerdings den Eindruck, Peter Weiss geht zu weit, wenn er diese im Grunde sehr "schwedische" Arbeit - er lebte immerhin seit 1939 im Land - wenn er diese Arbeit als nur "sekundär" abwertet. Warum? Hier finden sich zahlreiche Motive, die den Autor auch später umtrieben - und es ist auch schon der für ihn so typische mäandrierende, dann wieder springende Schreibfluß deutlich und schön erkennbar. Daß das Buch so bewegt wirkt, hat nicht nur mit der Bilderfülle zu tun, sondern auch mit dem dauernden Perspektivwechsel, der sicherlich durch die Filmarbeit beeinflußt ist: Weiss wechselt teilweise mitten im Satz zwischen Innen- und Außensicht; eben noch hat ein "Ich" gesprochen, da taucht es schon wieder als "er" oder "sie" auf, wird beobachtet und kommentiert von einer anderen Figur.

    "Die Situation" ist in erster Linie ein Künstlerroman, und zwar ein Künstlerroman von der Art, wie sie heute vielleicht gar nicht mehr geschrieben werden können, ein fulminanter, imponierender Text, radikal ernst in einer verzweifelten Identitäts- und Sinnsuche.

    Das Buch umfaßt drei Teile, Nacht, Tag, und wieder Nacht; es spielt in Stockholm 1956, also zur Zeit der Niederschlagung des ungarischen Aufstands. Peter Weiss beschreibt eine locker zusammenhängende Gruppe von Künstlern und von ihnen nahestehenden Leuten. Da ist der Maler Leo, dessen Bilder so sind, wie wir sie von Weiss selbst kennen; die Kritik wirft Leo vor, er male wie die alten Meister, und er selbst fragt sich, ob er in Bildern seinen "Wahnsinn" ausleben solle; bei anderen akzeptiert er das Besinnungslose, er selbst aber findet sich eher puritanisch und zieht die Beherrschung vor. Zu seiner Tochter Christin hat er eine zärtliche Beziehung, aber seine Frau Agata erstickt ihn mit ihrer furchtbaren Fürsorglichkeit; Leo bricht auf seine Art aus und landet mit der Schriftstellerin Fanny in seinem Atelier auf dem Sofa. Fanny, Schriftstellerin, lebt hauptsächlich in Paris und besucht in Stockholm ihren Vater Viktor. Sie findet, Schweden sei eine enge, provinzielle Gegend, in der jeder Künstler in seinem eigenen Turm sitze. Schreiben heißt für sie, sich zum Mann machen, und sie ekelt sich vor der weiblichen Welt, die sie als "vegetativ" empfindet. Gleichzeitig fühlt sie, es fehle ihr etwas Elementares. Ihr Konflikt läuft darauf hinaus, ob sie die - sichere - Rolle des distanzierten Beobachtes einnehmen oder sich selbst vielfältigen Erfahrungen aussetzen und hingeben will. Und so setzt sich der Reigen von Figuren fort, über den resignierten ehemaligen Chefredakteur Viktor, die Schauspielerin Thel, den versoffenen Ingenieur Knut, der das absolute Buch schreiben will, mit dem er in die Weltliteratur einzugehen gedenkt, bis hin zu Paul, der Dramen schreibt und von Schuldgefühlen in vielerlei Form geschüttelt wird. Weiss läßt die Figuren sich begegnen, miteinander diskutieren, und es geht dabei vor allem um die großen Fragen der modernen Kunst: Um das Schwanken zwischen Engagement und der Flucht in Innenwelten, in Traumwelten, ins Dunkle und Magische. Die Künstler und Intellektuellen, die hier reden, leben vergleichsweise isoliert von den weltpolitischen Ereignissen, und sie kritisieren den eigenen Zustand des Abgewandtseins, der ihnen zu viel Zeit für ihren Seelenkummer, für ihre Lebensangst lasse.

    "Wo steht ihr, was bezweckt ihr?... Entweder habt ihr keine wirklichen Lebenserfahrungen in euch oder ihr wagt euch nicht an sie heran... Ihr sucht Anerkennung, Erfolg, ... Ihr glaubt, daß alles im Sande verläuft. Ihr habt eure Lebensumstände allzusehr akzeptiert, in eurer Arbeit geht ihr ständig wie die Katze um den heißen Brei. Ich weiß, sagte Paul, ... Ich merke es in meinen Schreibversuchen, ich fühle ein komprimiertes Material in mir, aber ich komme nicht heran. Seit Jahren strenge ich mich an, mich zu ihm durchzubohren. Man arbeitet wie in einer dunklen Grube. Man sieht nichts. Und es ist nur Schlacke, die man heraufbefördert... Vielleicht ist es das, daß ich so übersättigt bin von Kunst. Ich fühle mich manchmal wie ein überreifer Europäer, angefüllt mit fertigen Formen, mit Kathedralen, Orgelkonzerten, Gemäldegalerien; ich bin ein einziger großer wurmzerfressener Schrank mit randvollen Schubladen. Ich möchte mich all dieser Kenntnisse, all dieses Kulturguts entledigen und anfangen, zu stammeln, zu lallen wie ein Säugling. Ich kann alles, ich kann Dramen schreiben, Dekors zeichnen, Musik und Choreographie komponieren, eine Filmkamera bedienen, Stimmen nachahmen, Kurse leiten, Vorlesungen abhalten, mich in sozialen, pädagogischen, psychologischen Zusammenhängen äußern, und während ich das tue, habe ich das Gefühl, daß ich etwas leiste, ich gebe mein Äußerstes, aber das ist es nicht, das ist es nicht! Das ist es nicht; sein Ausruf läutete in Thels Ohren. Es klang wie eine Sturmglocke. ... Mit den Fingerspitzen berührte sie seine Hand, die er sofort zurückzog. Diese Furcht vor Berührungen, diese Schwierigkeit, aus sich selbst herauszukommen, körperlich zu sein. Warum ist er so blind? Dieses Grübeln, diese Angestrengtheit. ...Sie sah müde aus. ... Vier Menschen um einen Tisch, um eine große rote Lampe. Vier Paar Hände, weißleuchtend im Lampenschein, mit rötlichen Flecken um die Knöchel, mit den blauen Schatten der Adern, mit glänzendem Flaum um die Handgelenke. Hände in Bewegung um Teekanne, Tassen und Aschenbecher. ... Vier Paar Arme, die sich vom Tisch zu den Körpern hinaufbiegen, vier Paar Schultern, die ihre Köpfe auf der Säule des Halses tragen. Gesichter, die sich hin und her wenden, Blicke, die das Bild der anderen aufnehmen. Münder, die sprechen, und Ohren, die Worte auffangen... vier Organismen, in den Stühlen lehnend, am Leben gehalten durch das Blutpumpwerk.

    Eine solche, für den Roman typische Passage zeigt Verschiedenes: Sie zeigt den Versuch, mithilfe der Sprache Bilder aufscheinen zu lassen; einmal sind es Bilder von Körpern, ein andermal können es Panoramen von Menschen und ihrem Treiben in der Großstadt sein. Auf inhaltlicher Ebene führt die Passage vor, was als Haltung den gesamten Roman durchzieht: Hier reden nicht selbstbewußte Wissende - sondern hier wird buchstäblich gerungen. Die Künstler in diesem Roman suchen das Wahre, sie suchen das richtige Leben, sie wollen letztlich nichts Geringeres, als die Rettung der Welt durch Kunst. Peter Weiss verhält sich seinen Figuren gegenüber beinahe ungeschützt, seltsam undistanziert. Er läßt sie zweifeln und toben, er läßt sie sogar bis ins tief Selbstmitleidige, Wehleidige gehen und bespöttelt sie nicht etwa, sondern er läßt sie sich selbst korrigieren, er nimmt sie ernst. Nichts leichter, von heute aus gesehen, als locker zu spotten, wenn diese besessenen Schreiber und Künstler das ganz hohe C anpeilen, wenn sie pathetisch werden und quasi alles Leid der Welt auf ihre Schultern nehmen. Weiss spottet nicht; er war allerdings auch in seinen späteren Arbeiten kaum einer, der sich durch Spott, Witz, Humor auszeichnete - aber muß man solche Qualitäten eigentlich jedem Autor durch die Bank weg abverlangen? Solch eine Forderung an Weiss zu richten, würde den Blick auf das verstellen, was hier gewagt wird: Die Rede aus dem Inneren von einigen ganz und gar nicht abgeklärten Künstlerseelen. Die Figuren sind verwirrt und desorientiert, sie haben höchste ethische und ästhetische Ansprüche und leben dabei - und damit - völlig isoliert, sie sind selbstquälerische Romantiker, die jeden Moment ihres Daseins in ganzem Ernst "aus Leibeskräften" leben. Man könnte den Roman, seiner Stimmung zufolge, auch überschreiben mit dem Titel "Wer, wenn nicht wir? Wann, wenn nicht jetzt?" Dabei ist "die Situation" bei weitem noch nicht das Buch eines politisch entschiedenen Autors, die Figuren sind nicht einmal sonderlich interessiert an den politischen Ereignisen. Viktor, der älteste der Gruppe, erinnert sich gern an seine Zeit, die er mit Hermann Hesse verbrachte. Man war "Steppenwolf", sprach über die todgeweihte bürgerliche Gesellschaft und das eigene Verfangensein in ihr, man hatte Angst um das europäische Schicksal - aber diese eher abstrakte Angst konnte völlig vergesen werden, wenn die Freunde eine Spur des unmittelbar Lebendigen wahrnahmen, und sei es eine Eidechse im Gras. Viktor kommt zu dem bescheidenen Schluß: Er selbst war früher ein Phantast, der den Lauf des gewöhnlichen Lebens nicht akzeptierte. Auch aus den schrecklichsten Erfahrungen sei nicht gelernt worden, immer schon sei das Leid in Kriegen und anderen Gewaltausschreitungen vergessen worden, die Toten begraben, - eine Veränderung dieses Musters werde es nicht geben. Man mag der Holzschnittartigkeit eines solchen Urteils zustimmen oder nicht - nur, der gesamte Roman "die Situation" gibt sich ja nicht zufrieden mit dieser Haltung, sie bleibt eine Beunruhigung für den Gesamttext, und mehrfach wird angedeutet: Viktor schüttelt mit seiner Haltung etwas von sich ab; im abgeklärten Zustand des "das war schon immer so, das wird so bleiben" läßt es sich ja nicht unbequem leben. Peter Weiss´ Hauptwerk, die so weit ausgefächerte, differenzierte "Ästhetik des Widerstands" ist gegen Viktors Haltung konsequent angeschrieben. - Aber gut, man muß nicht das Spätwerk gegen das Frühwerk aufrechnen, man muß auch nicht mit aller Gewalt den ganzen "späten" Weiss im "frühen" auffinden. Vielleicht kann man immerhin soviel festhalten: Der vierzigjährige Peter Weiss war weniger politisch als moralisch rigoros.

    Meint ihr, daß dieses Chaos von Invasionen und Völkermorden, das jetzt wieder beginnt, der natürliche Zustand ist? Es passiert in unserer Welt, und wir müssen dazu Stellung nehmen, sagte Paul ... Du kannst ja doch nichts gegen den Krieg tun, sagte der Figurant; Fanny sah den Redner an ... Ich für mein Teil denke, daß es ebenso heldenhaft ist, schöne Bilder und Gedichte zu schaffen, wie sich als Partisan zu schlagen ... Es gibt so viele verschiedene Wahrheiten, sagte Thel ... warum soll ich an Auseinandersetzungen um politische Ideen teilnehmen, die ich nicht verstehe, an blutigen Kriegen und Gewaltverbrechen? Dieser ganze Heroismus, diese Politik sind mir fremd, ich müßte heucheln, wenn ich mich mit ihnen identifizieren wollte, ... ich sehe in ihnen nur den Ausdruck einer furchtbaren Krankheit ... Aber soll nicht die Krankheit behandelt werden, fragte Jean, soll sie nicht sehr genau geschildert und analysiert werden, so daß man vielleicht einmal ein Mittel dagegen findet?

    Man sieht, es bleibt eine Unruhe; der Roman "die Situation" wird durchaus nicht fertig mit den Fragen, die er aufwirft - und das war die Voraussetzung für die Entstehung des übrigen Werks von Peter Weiss, unabhängig davon, ob die Fragen ihn zum "Abschied von den Eltern", zum "Fluchtpunkt" oder eben schließlich zur "Ästhetik des Widerstands" führten. Was an dem jetzt aufgetauchten Buch ärgerlich bis peinlich wirkt, ist das Geschlechterverhältnis und die gelinde gesagt verstörte Sexualität, die da beschrieben wird. Nun könnte man ja sagen, er bildet hier nur Realität ab, aber es überwiegt der Eindruck, als habe Peter Weiss mit aller Gewalt den von Theweleit sogenannten "bösen Buben" herauskehren müssen. Man findet hier z.b. eine sonderbare Mischung aus Abhängigkeit von Müttern, Angst vor ihnen und latentem Haß ihnen gegenüber. Paul schwängert eine Gelegenheitsgeliebte und grollt ihr, weil sie jetzt das Leben auf ihrer Seite habe, und er wütet gegen den "weichen Terror der Mütterlichkeit". Für Leo bedeutet "Frau" etwas, was sich immer an "Grabes Kante" bewegt; er bearbeitet die leeren faltigen Brüste seiner Frau und überlegt während seiner Manipulationen, ob sie Blasenkatharr oder ihre Menstruation hat. Knut kennt keine Frauen, sondern nur Fotzen, und in deren Haaren findet er manchmal Krümel. Paul zerfleischt sich, weil er das Nebeneinander von hohen Gedanken über das Kunstschaffen und das niedrige, vom Trieb beherrschte Dasein nicht erträgt, und dann fällt ihm auch noch eine Margot ein, die leider "nicht ganz neu", "nicht ganz frisch" sei. Hannas Schwangerschaft löscht ihr Denkvermögen gänzlich aus, jetzt lebt sie von Tag zu Tag wie eine Pflanze. Und Fanny weiß, Kunst ist für Männer eine Waffe, bei den Frauen dagegen ist Kunst Bestandteil ihres organischen Lebens, sie ruhen in ihr. Ach ja. Vielleicht ist es respektlos, das alles etwas unerwachsen zu finden. Der Rezensentin fällt dazu nur halb süffisant, halb bedauernd ein: Peter Weiss steht in dieser Hinsicht ja nicht allein, vergleichbare Aussagen finden sich auch bei Bert Brecht oder Heiner Müller.

    Man kann Vieles gegen "die Situation" einwenden, nicht zuletzt die Tatsache, daß das Buch rettungslos überfrachtet ist - und trotzdem verdient der Roman Achtung und Beachtung: Es ist ein anderes, überhaupt nicht mehr gewohntes Bild vom Künstler als ringendem jungem Mann, das hier bei einem immerhin Vierzigjährigen zum Ausdruck kommt. In jeder der Figuren, die Peter Weiss auftreten läßt, steckt Autobiografisches und eben auch Jugendliches, Ungestümes, halb Ausgegorenes - der späte Peter Weiss hat sich in seinem literarischen Werk keine Ungereimtheiten, keine Peinlichkeiten, keine Fehler mehr durchgehen lassen. Das bedeutet aber, positiv gewendet: Für den Roman "die Situation" spricht genau die Position, aus der das Buch geschrieben wurde: Unsicherheit. Eine Unsicherheit, die möglicherweise weniger durch das Exil bestimmt war, sondern die wahrscheinlich ganz existentiell war. Jurek Becker hat vor Jahren in seiner Vorlesung "Warnung vor dem Schriftsteller" kritisiert, ein großer Teil der neueren Literatur sei unverbindlich, die Autoren wollten es mit niemandem verderben, seien zu wenig besessen, und die Bücher würden einander immer ähnlicher, nicht zuletzt, weil das Hauptanliegen der Autoren offenbar der Erfolg sei. Für Peter Weiss war das sicherlich nicht die alles dominierende Kategorie; und in der "Situation" haben die Figuren ganz andere Anliegen als Erfolg und Ruhm, sie lehnen das Frisierte und Geglättete kategorisch ab und sind daraus auch ganz anders gefährdet. Fanny schreibt in einem Brief an einen Freund:

    Ich sehe Manuskriptberge neben mir, ich weiß nicht mehr, worüber ich geschrieben habe; schreiben, das ist eine Hadeswanderung.... Es ist ein dünnes, dünnes Spinnweben, das beim geringsten Windhauch aus der Außenwelt zerfällt. Unerhört zerbrechliches Gewebe, Schicht für Schicht. Auf seltsamen Wegen holt man die Aussagen herauf. .....Ich sitze an meinem wackligen abgenutzten Tisch, der einmal eine Hobelbank gewesen ist, ich sitze gegen den Deckenbalken gelehnt, die gesprungene Scheibe der Fensterluke reflektiert die kleine Lampe und mein verschwommenes Gesicht. Ich habe versucht, die Bewegungen einiger Menschen zu registrieren, habe versucht, ein Bild ihrer Lage zu geben. Ich habe keine Perspektive gefunden, die zu einer Lösung führen kann, ich habe nicht einmal einen Überblick erreicht. Ich habe nichts verstehen und deuten können, was nicht seine Entsprechung in mir selbst hat. ... Aber trotzdem sind nun einige Figuren vorhanden mit merkwürdigem Anspruch auf ein eigenes Dasein. Was soll aus ihnen werden? ... Ich will das Unmittelbare und Unverfälschte, aber ich bin noch weit entfernt von diesem Vertrauen in meine eigene Stimme.

    Das ist natürlich nicht nur als Fannys Brief, sondern auch als Selbstaussage von Peter Weiss über sein Buch "die Situation" lesbar - und angesichts der Selbstzufriedenheit vieler zeitgenössischer Autoren, die offenbar keine Schwierigkeiten haben, ihrer Stimme zu trauen, wirken die Selbstzweifel von Peter Weiss geradezu wohltuend. Die Lektüre dieses frühen Romans läßt einen etwas rätselnd zurück: Sicherlich vermittelt sie kein völlig verändertes Bild von Peter Weiss´s Gesamtwerk. Aber wenn man sich durch dieses angespannte, sperrige Buch gearbeitet hat, fragt man sich einmal mehr, was man sich von zeitgenössischen Autoren wünschen soll. Warum eigentlich nicht das, was Peter Weiss trotz diverser Ungeschicklichkeiten gelungen ist: Eine glaubwürdige, und eine noch in ihren Widersprüchen um Verbindlichkeit bemühte Diskussion künstlerischer Identität.