Vordergründig geht es hier um den Auf- und Abstieg einer jüdischen Familiendynastie. Aber dahinter steht ein anderes Thema, das der Autor zwar immer wieder anstößt, aber sich einen Reim darauf zu machen, das überlässt er dem Leser. Es geht um die Frage, was ihr immenser Besitz für die Mitglieder der Familie Ephrussi bedeutet haben mag. Sollte er schützen oder exponieren? Offenbar erlaubte er den Menschen, sich Freiheiten herauszunehmen, machte aber auch steif und gravitätisch. "Sicherheit ist nirgendwo", zitiert der Autor einen angeheirateten Verwandten der Familie, den Schriftsteller Arthur Schnitzler. Ihr Besitz hat den Ephrussi aber womöglich genau dieses Gefühl vermittelt – jetzt kann uns nichts mehr passieren.
"Ich weiß natürlich, dass meine Verwandten Juden und dass sie atemberaubend reich waren."
heißt es in Edmund de Waals Chronik "Der Hase mit den Bernsteinaugen."
"Aber ich möchte keine sepiagetönte Familiensaga schreiben, keine elegische mitteleuropäische Verlustgeschichte."
Also entscheidet er sich für einen sachlichen Stil und inhaltlich schreibt er erstmal über die Zeit der großen Gewinne.
Die Ephrussi – im 19. Jahrhundert die weltweit größten Weizenhändler und die zweitmächtigste Bankiersdynastie nach den Rothschilds - machen sich zu dieser Zeit auf vom russischen Odessa in die westlichen Metropolen. Sie beziehen luxuriöse Häuser und Geschäftssitze in Paris und Wien. Edmund de Waal über seine Eindrücke, als er erstmals das Palais Ephrussi in der Wiener Ringstraße besichtigt:
"(Es ist) eher eine Festung oder ein Wachturm als ein Haus. (…) Mit seinem grauen Glasdach wirkt es wie eine Vitrine, der man nicht entkommen kann. Innen überall Marmor: massenhaft Marmor. Das sagt noch nicht genug. Alles ist Marmor. Boden, Wände, Treppen, Treppenhäuser, die Säulen am Geländer, die Decke über der Treppe, die Friese an der Decke über der Treppe. Alles hier glänzt, fällt mir auf. Vieles ist golden, aggressiv golden, aggressiv beziehungslos. Was hatte Ignaz denn vor? Wollte er seine Kritiker mundtot machen?"
Baron Ignaz von Ephrussi, von Kaiser Franz Joseph in den Adelsstand erhoben, war Ende des 19. Jahrhunderts einer der reichsten Bankiers von Wien. Und die Beschreibung des von ihm gebauten Ringstraßenpalais‘ ist eine der ganz wenigen Stellen, wo der Autor die Rolle des Bewunderers seiner Vorfahren ein wenig ablegt. Aber es dauert nicht lange und wir lesen wieder hübsch ausformulierte Inventarlisten der von ihnen erworbenen Luxus- und Einrichtungsgegenstände. Es gibt ein Kapitel über Vitrinen, eines über Politur. Artig zählt de Waal auf, was der kunstsinnige Charles in Paris alles kauft: ein Gemälde von Manet, von Morisot, von Moreau. Wer war zu Gast? Proust, Degas und Renoir. Renoir malte Charles Ephrussi als hagere, steife Respektsperson im schwarzen Rock, den Kopf beinahe verschluckt von einem gigantischen Zylinder. De Waal sieht seinen Urgroßonkel mit ganz anderen Augen:
"Er ist ein leidenschaftlicher Gelehrter. Er ist gut angezogen – jemand, da bin ich mir sicher, der niemals Sachen in seinen Jackettaschen getragen und damit den Sitz der Kleider beeinträchtigt hätte - und er ist ein guter Kunsthistoriker. Welch großartige und seltene Dreieinigkeit von Attributen, denke ich mit einem Anflug von Neid."
Charles war der Drittgeborene. Er musste nicht arbeiten, das erledigten seine beiden Brüder. Mit Charles Ephrussi beginnt nun auch die Geschichte des Hasen mit den Bernsteinaugen. 1870 kaufte der Sammler fast dreihundert Netsuke, handschmeichlergroße japanische Miniatur-Schnitzereien, darunter auch die kleine elfenbeinerne Hasen-Figur. Heute spielen Edmund de Waals drei Kinder mit diesen – wie er sie nennt – "witzigen kleinen Sachen".
"Das ich diese Netsuke besitze, dass ich sie alle geerbt habe, bedeutet, man hat mir eine Verantwortung für sie und für die Menschen, die sie besaßen, übertragen."
Aus der Verantwortung resultiert für den 49-Jährigen die Pflicht, sorgfältig zu recherchieren. Das heißt, eng an den Fakten entlang zu arbeiten. Dort, wo die Quellenlage lückenhaft ist, hilft er ihr nicht durch Fiktion auf, wie das heute Gang und Gäbe ist, sondern füllt die Leerstellen mit weiteren Fakten. Das mag dem Leser manchmal schwere Stunden bereiten. Aber er wird immer wieder belohnt: An manchen Stellen gelingt es de Waal, durch die Auswahl genau der richtigen Details, mit wenigen Sätzen die Atmosphäre einer Stadt, eines Raums, einer Zeit zu treffen. Manchmal allerdings scheint er in einem Meer von Verweisen die Orientierung zu verlieren. Einen Umstand, den er uns aber selbstbewusst mitteilt:
"Wo hat eigentlich Gorki seine Netsuke gekauft? Wie hat die Bibliothek in Odessa in den 1870ern ausgesehen? Berdytschiw – Geburtsort des Patriarchen Chaim Ephrussi – wurde im Krieg zerstört, aber vielleicht sollte ich auch dorthin fahren und nachforschen. Joseph Conrad stammt aus Berdytschiw: Vielleicht sollte ich Conrad lesen. Hat er über Staub geschrieben? … Es muss eine Kulturgeschichte des Staubs geben."
Odessa, für den Autor die staubigste Stadt der Welt: Er ist hingefahren, hat dort seinen jüngsten Bruder Thomas getroffen, der seit Jahren die Geschichte der Ephrussi in der Hafenstadt am Schwarzen Meer untersucht. Denn hier begann der Aufstieg der aus Griechenland eingewanderten Sippe. Aber in Odessa, am Ende seiner zwei Jahre dauernden Recherche, befallen Edmund de Waal plötzlich Zweifel an seinem Projekt:
"Ich weiß nicht mehr, ist es ein Buch über meine Familie, über Erinnerung, über mich, oder immer noch ein Buch über kleine japanische Sachen?"
Die kleinen japanischen Sachen, deren Funktion es einmal war, Lackdöschen am Kimonogürtel zu halten, sind auch in de Waals Geschichte für den Zusammenhalt zuständig. Sie verbinden die Ephrussi in Paris mit denen in Wien und denen in Tokio – ein Onkel de Waals lebte dort. Für den Autor sind sie Familientalismane. Für seine Großmutter hatten sie diese Bedeutung noch nicht.
"Ich erinnere mich, dass Elisabeth wenig Sinn für die Welt der Dinge hatte, Netsuke und Porzellan, ebenso wie sie das Getue nicht mochte, was man morgens anziehen sollte."
Elisabeth Ephrussi, 1899 in Wien geboren, war eine der ersten Frauen, die in Jura promovierten, und zwar in New York. Bedauernd stellt der Autor fest, dass sie nie das modische Gespür ihrer Mutter Emmy hatte. Aber immerhin, sie ist tollkühn genug gewesen, ihren Vater aus dem von Nazis besetzten Wien zu retten – die Mutter hatte sich kurz zuvor umgebracht. 1945 kehrt sie als Erste in das Palais an der Ringstraße zurück, um nachzuschauen, was von den Reichtümern noch übrig geblieben ist. Die Antwort kommt von der Zofe Anna, nichts außer den Netsuke. Anna hatte nach der Vertreibung der Familie, unbehelligt von den neuen Herren des Hauses, den Mitarbeitern einer NSDAP-Schulungszentrale, 264 kleine harte Schnitzfiguren aus der Vitrine in Emmys Umkleidezimmer erst in den Taschen ihrer Schürze abtransportiert und sie dann in ihrer Matratze versteckt.
"Jedes Einzelne dieser Netsuke ist für Anna ein Widerstand gegen das Unterminieren der Erinnerung. Jedes, das sie hinausträgt, ist ein Widerstand gegen das Neueste vom Tag, eine ins Gedächtnis gerufene Geschichte, eine Zukunft, an der man festhält."
"Der Hase mit den Bernsteinaugen" ist ein geteiltes Buch. Während der Leser den Eindruck haben muss, dass die Ephrussi im ersten Teil unter der Patina ihres Reichtums wie erstarrt sind, geht es im zweiten Teil, ab 1916, um heftige äußere Konflikte, zu denen sich die Familie verhalten muss. Erst bricht die habsburgische Monarchie zusammen, dann kommt die Weltwirtschaftskrise, dann rücken die Nazis an. De Waal wechselt den Fokus: Ging es vorher vor allem um Stil, Form und Ton – jetzt geht es um Gefühle. Und das Buch gewinnt immens, weil die Figuren nun hinter ihren Statussymbolen hervortreten und spürbar werden.
Edmund de Waal: Der Hase mit den Bernsteinaugen (Das verborgene Erbe der Familie Ephrussi), Aus dem Englischen von Brigitte Hilzensauer, Paul Zsolnay Verlag, 351 Seiten, 19,90 Euro
"Ich weiß natürlich, dass meine Verwandten Juden und dass sie atemberaubend reich waren."
heißt es in Edmund de Waals Chronik "Der Hase mit den Bernsteinaugen."
"Aber ich möchte keine sepiagetönte Familiensaga schreiben, keine elegische mitteleuropäische Verlustgeschichte."
Also entscheidet er sich für einen sachlichen Stil und inhaltlich schreibt er erstmal über die Zeit der großen Gewinne.
Die Ephrussi – im 19. Jahrhundert die weltweit größten Weizenhändler und die zweitmächtigste Bankiersdynastie nach den Rothschilds - machen sich zu dieser Zeit auf vom russischen Odessa in die westlichen Metropolen. Sie beziehen luxuriöse Häuser und Geschäftssitze in Paris und Wien. Edmund de Waal über seine Eindrücke, als er erstmals das Palais Ephrussi in der Wiener Ringstraße besichtigt:
"(Es ist) eher eine Festung oder ein Wachturm als ein Haus. (…) Mit seinem grauen Glasdach wirkt es wie eine Vitrine, der man nicht entkommen kann. Innen überall Marmor: massenhaft Marmor. Das sagt noch nicht genug. Alles ist Marmor. Boden, Wände, Treppen, Treppenhäuser, die Säulen am Geländer, die Decke über der Treppe, die Friese an der Decke über der Treppe. Alles hier glänzt, fällt mir auf. Vieles ist golden, aggressiv golden, aggressiv beziehungslos. Was hatte Ignaz denn vor? Wollte er seine Kritiker mundtot machen?"
Baron Ignaz von Ephrussi, von Kaiser Franz Joseph in den Adelsstand erhoben, war Ende des 19. Jahrhunderts einer der reichsten Bankiers von Wien. Und die Beschreibung des von ihm gebauten Ringstraßenpalais‘ ist eine der ganz wenigen Stellen, wo der Autor die Rolle des Bewunderers seiner Vorfahren ein wenig ablegt. Aber es dauert nicht lange und wir lesen wieder hübsch ausformulierte Inventarlisten der von ihnen erworbenen Luxus- und Einrichtungsgegenstände. Es gibt ein Kapitel über Vitrinen, eines über Politur. Artig zählt de Waal auf, was der kunstsinnige Charles in Paris alles kauft: ein Gemälde von Manet, von Morisot, von Moreau. Wer war zu Gast? Proust, Degas und Renoir. Renoir malte Charles Ephrussi als hagere, steife Respektsperson im schwarzen Rock, den Kopf beinahe verschluckt von einem gigantischen Zylinder. De Waal sieht seinen Urgroßonkel mit ganz anderen Augen:
"Er ist ein leidenschaftlicher Gelehrter. Er ist gut angezogen – jemand, da bin ich mir sicher, der niemals Sachen in seinen Jackettaschen getragen und damit den Sitz der Kleider beeinträchtigt hätte - und er ist ein guter Kunsthistoriker. Welch großartige und seltene Dreieinigkeit von Attributen, denke ich mit einem Anflug von Neid."
Charles war der Drittgeborene. Er musste nicht arbeiten, das erledigten seine beiden Brüder. Mit Charles Ephrussi beginnt nun auch die Geschichte des Hasen mit den Bernsteinaugen. 1870 kaufte der Sammler fast dreihundert Netsuke, handschmeichlergroße japanische Miniatur-Schnitzereien, darunter auch die kleine elfenbeinerne Hasen-Figur. Heute spielen Edmund de Waals drei Kinder mit diesen – wie er sie nennt – "witzigen kleinen Sachen".
"Das ich diese Netsuke besitze, dass ich sie alle geerbt habe, bedeutet, man hat mir eine Verantwortung für sie und für die Menschen, die sie besaßen, übertragen."
Aus der Verantwortung resultiert für den 49-Jährigen die Pflicht, sorgfältig zu recherchieren. Das heißt, eng an den Fakten entlang zu arbeiten. Dort, wo die Quellenlage lückenhaft ist, hilft er ihr nicht durch Fiktion auf, wie das heute Gang und Gäbe ist, sondern füllt die Leerstellen mit weiteren Fakten. Das mag dem Leser manchmal schwere Stunden bereiten. Aber er wird immer wieder belohnt: An manchen Stellen gelingt es de Waal, durch die Auswahl genau der richtigen Details, mit wenigen Sätzen die Atmosphäre einer Stadt, eines Raums, einer Zeit zu treffen. Manchmal allerdings scheint er in einem Meer von Verweisen die Orientierung zu verlieren. Einen Umstand, den er uns aber selbstbewusst mitteilt:
"Wo hat eigentlich Gorki seine Netsuke gekauft? Wie hat die Bibliothek in Odessa in den 1870ern ausgesehen? Berdytschiw – Geburtsort des Patriarchen Chaim Ephrussi – wurde im Krieg zerstört, aber vielleicht sollte ich auch dorthin fahren und nachforschen. Joseph Conrad stammt aus Berdytschiw: Vielleicht sollte ich Conrad lesen. Hat er über Staub geschrieben? … Es muss eine Kulturgeschichte des Staubs geben."
Odessa, für den Autor die staubigste Stadt der Welt: Er ist hingefahren, hat dort seinen jüngsten Bruder Thomas getroffen, der seit Jahren die Geschichte der Ephrussi in der Hafenstadt am Schwarzen Meer untersucht. Denn hier begann der Aufstieg der aus Griechenland eingewanderten Sippe. Aber in Odessa, am Ende seiner zwei Jahre dauernden Recherche, befallen Edmund de Waal plötzlich Zweifel an seinem Projekt:
"Ich weiß nicht mehr, ist es ein Buch über meine Familie, über Erinnerung, über mich, oder immer noch ein Buch über kleine japanische Sachen?"
Die kleinen japanischen Sachen, deren Funktion es einmal war, Lackdöschen am Kimonogürtel zu halten, sind auch in de Waals Geschichte für den Zusammenhalt zuständig. Sie verbinden die Ephrussi in Paris mit denen in Wien und denen in Tokio – ein Onkel de Waals lebte dort. Für den Autor sind sie Familientalismane. Für seine Großmutter hatten sie diese Bedeutung noch nicht.
"Ich erinnere mich, dass Elisabeth wenig Sinn für die Welt der Dinge hatte, Netsuke und Porzellan, ebenso wie sie das Getue nicht mochte, was man morgens anziehen sollte."
Elisabeth Ephrussi, 1899 in Wien geboren, war eine der ersten Frauen, die in Jura promovierten, und zwar in New York. Bedauernd stellt der Autor fest, dass sie nie das modische Gespür ihrer Mutter Emmy hatte. Aber immerhin, sie ist tollkühn genug gewesen, ihren Vater aus dem von Nazis besetzten Wien zu retten – die Mutter hatte sich kurz zuvor umgebracht. 1945 kehrt sie als Erste in das Palais an der Ringstraße zurück, um nachzuschauen, was von den Reichtümern noch übrig geblieben ist. Die Antwort kommt von der Zofe Anna, nichts außer den Netsuke. Anna hatte nach der Vertreibung der Familie, unbehelligt von den neuen Herren des Hauses, den Mitarbeitern einer NSDAP-Schulungszentrale, 264 kleine harte Schnitzfiguren aus der Vitrine in Emmys Umkleidezimmer erst in den Taschen ihrer Schürze abtransportiert und sie dann in ihrer Matratze versteckt.
"Jedes Einzelne dieser Netsuke ist für Anna ein Widerstand gegen das Unterminieren der Erinnerung. Jedes, das sie hinausträgt, ist ein Widerstand gegen das Neueste vom Tag, eine ins Gedächtnis gerufene Geschichte, eine Zukunft, an der man festhält."
"Der Hase mit den Bernsteinaugen" ist ein geteiltes Buch. Während der Leser den Eindruck haben muss, dass die Ephrussi im ersten Teil unter der Patina ihres Reichtums wie erstarrt sind, geht es im zweiten Teil, ab 1916, um heftige äußere Konflikte, zu denen sich die Familie verhalten muss. Erst bricht die habsburgische Monarchie zusammen, dann kommt die Weltwirtschaftskrise, dann rücken die Nazis an. De Waal wechselt den Fokus: Ging es vorher vor allem um Stil, Form und Ton – jetzt geht es um Gefühle. Und das Buch gewinnt immens, weil die Figuren nun hinter ihren Statussymbolen hervortreten und spürbar werden.
Edmund de Waal: Der Hase mit den Bernsteinaugen (Das verborgene Erbe der Familie Ephrussi), Aus dem Englischen von Brigitte Hilzensauer, Paul Zsolnay Verlag, 351 Seiten, 19,90 Euro