Archiv


Die Suche nach dem Wesentlichen

Constantin Brancusi war ein Meister harmonisch-abstrakter Formen. Sie machten ihn zu einem der bedeutendsten Bildhauer des 20. Jahrhunderts. Zu seinen Lebzeiten allerdings waren seine Arbeiten noch verpönt.

Von Anette Schneider |
    Constantin Brancusi lebte zurückgezogen. Erhielt er überraschend Besuch, konnte er schon einmal unangenehm werden.

    "Man kann nicht zu mir kommen wie in eine Kneipe! Ich habe ein Telefon einrichten lassen, damit man mich benachrichtigen kann!"

    Heute hingegen darf jeder sein Atelier betreten. Anfang der 80er Jahre wurde es in Paris rekonstruiert. Der flache Bau zeigt die Atelier-Situtation Ende der 30er Jahre, als Brancusi begann, seine Arbeiten als Gesamtkunstwerk zu installieren. Der Raum steht voll mit seinen heute so berühmten Skulpturen, den langgestreckten Vögeln, den auf ein Oval reduzierten Köpfen, den abstrahierten Fischen, dem sich umschlingenden Paar, das anmutet wie ein Idol aus alten Zeiten. Brancusi ist ein Meister harmonisch-abstrakter Formen. Sie machten ihn zu einem der bedeutendsten Bildhauer des 20. Jahrhunderts.

    1876 in einem kleinen rumänischen Dorf geboren, hatte er die Kunstakademie in Bukarest besucht, die ihn für seine naturalistisch-akademischen Skulpturen auszeichnete. 1904 ging er nach Paris, trat in die École des Beaux Arts ein, und arbeitete im Atelier Rodins.

    Dann lernt er die Avantgarde kennen. Er befreundet sich mit Marcel Duchamp, Amadeo Modigliani, Eric Satie. Und er entdeckt die Formen archaischer und so genannter primitiver Kunst, die er nicht, wie viele andere, für naiv hält.

    "Es ist nicht Naivität, was man in der primitiven Kunst sieht, sondern Kraft und Wille. Es ist der starke Wille, der aus einem selbst kommt, ohne durch irgend etwas umgewandelt oder beeinträchtigt worden zu sein. Es ist das Schöne, das wie eine Pflanze hervorkommt und sich seiner Bestimmung gemäß entfaltet."

    1907 entsteht eine erste Fassung des 'Kusses': Ein kaum bearbeiteter Kubus zeigt die Umrisse eines Paares in enger Umarmung, eins geworden im Stein, die Gesichter ineinander verschmolzen, durchdrungen von der Sehnsucht nach immerwährender Harmonie.

    "Die Stimme der Menschheit ist der unsichtbare und stumme Motor der Liebe; solch ein Motor, den man sehen und berühren kann scheint mir das Streben nach Einheit und dem Absoluten zu sein, das ich mit den Symbolen des Kusses auszudrücken versuchte."

    In den folgenden zehn Jahren entwickelt Brancusi all die Formen, die sein weiteres Werk bestimmen werden: Es sind abstrakte Formen, die aber nie beliebig sind. So reduziert er Porträtköpfe so lange, bis er zur reinen ovalen Ei-Form vordringt.

    "Einfachheit ist kein Ziel in der Kunst, sondern eine unumgängliche Annäherung an den wahren Sinn der Dinge."

    Stets versucht er, das Essenzielle zu finden. Zum Wesentlichen vorzustoßen, wie in seinen berühmten "Vögeln”, die zwischen 1910 und 1941 in unterschiedlichen Variationen entstehen. Hatten sie anfänglich noch Kopf und Beine, reduziert er ihre Form immer mehr.

    "Mein ganzes Leben lang habe ich das Wesen des Fliegens gesucht."

    Er stilisiert, vereinfacht, feilt aus, bis eine bis zu 1,60 Meter hohe, glatte, aus polierter Bronze gen Himmel ragende Flamme übrig bleibt: Das Wesen des Vogels, beseelt von dem Streben, sich von der Erde zu lösen und emporzusteigen. Sinnbild der Freiheit und der Unabhängigkeit. Immer wieder zeigen seine Arbeiten: Form und Material sind untrennbar miteinander verbunden. Denn:

    "Jedes Material bewahrt sein Eigenleben. Es geht nicht darum, einen Stoff zu zerstören, um ihn nach unserem Willen sprechen zu lassen, sondern ihm seinen eigenen Ausdruck zu lassen und ihn dazu zu bringen, uns Dinge in seiner ihm eigenen Sprache sagen zu lassen."

    Zwar hatte Brancusi Ausstellungen in Frankreich und New York, ein kleiner Kreis von Kennern kaufte auch seine Werke. Ansonsten aber stießen seine Arbeiten auf Unverständnis. Mit den abstrakten Formen, die unserem heutigen Auge so vertraut erscheinen, war er seiner Zeit zu weit voraus. Ende der 30er Jahre zog er sich deshalb zurück und schuf sich seine eigene Welt:

    Überall in seinem Atelier platzierte er seine Arbeiten. So schreitet man durch sein Werk, kann die einzelnen Arbeiten umrunden und von allen Seiten betrachten: die bronzenen "Vögel”, auf deren Oberfläche sich alles spiegelt, scheinen sich dadurch zu bewegen, die blau-geäderten Marmor- und die metallenen Silberfische zu schwimmen. Man wird Teil eines Kunstwerks, das für Brancusi vor allem eines sein sollte: Quelle des Glücks, der Ausgeglichenheit und des inneren Friedens.

    In dieser seiner Welt lag er auch die letzten Tage, bis zu seinem Tod am 16. März 1957. Von der Decke hing ein blauer Globus herab, der sich im Luftzug um sich selbst drehte, und Brancusi scherzte:

    "Ich bin bereit, den Herrgott an der großen Zehe zu packen."