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Die Tahrir-Befreiung

Die dramatischen Tage der ägyptischen Revolution im Januar und Februar haben die Journalisten Esther Saoub und Martin Durm hautnah miterlebt. Was mit vereinzelten Protestzügen begann, wuchs sich aus zu einer friedlichen, aber standhaften Massenbewegung aus.

Von Esther Saoub und Martin Durm | 25.03.2011
    Dies ist eine Langfassung des gesendeten Beitrags.

    "Der Moment, in dem ich hörte, dass Mubarak zurück getreten ist, war der aufregendste und emotionalste Moment überhaupt. Als hätten wir ein schweres Gewicht auf der Brust gehabt, und das wäre ganz plötzlich weggehoben worden."

    30 Jahre lang hat Hosni Mubarak Ägypten regiert. Vor Mubarak herrschte Sadat, vor Sadat herrschte Nasser, König Farouk - die Reihe der Potentaten reicht zurück bis zu Ramses II. 3.000 Jahre lang regierten nur Gewaltherrscher am Nil. Ihre Zeit ist nun zu Ende. 18 Tage genügten, um sich von dieser Kette loszureißen:

    Dienstag, der 25. Januar 2011. Am Morgen noch ist es feiertäglich leer in Kairo. Nein, leerer noch als sonst am Feiertag: die Ausflügler fehlen. Sie sind zuhause geblieben, denn Spannung hängt in der Luft. Das offizielle Ägypten zelebriert den so genannten "Tag der Polizei".
    Mubarak redet und redet und vor ihm sitzen und applaudieren die Hofschranzen seines Regimes: Polizeioffiziere, Armee-Generäle, die Chefs der Geheimdienste, von denen es alleine sieben gibt in Ägypten:

    "Ich und alle Ägypter wenden uns heute an die Männer der Polizei, und beglückwünschen sie zu ihrem Festtag. Wir sind stolz auf sie und sagen ihnen, dass wir ihre Anstrengung zur Bekämpfung der Kriminalität in jeder Form wertschätzen."

    Die Ansprache des Präsidenten ist so belanglos wie immer. Und so langweilig, wie Staatsfernsehen nun einmal ist einem Land, indem seit Jahrzehnten der gleiche Machthaber herrscht. Im wirklichen Leben geschieht am "Tag der Polizei" etwas ganz anderes. Oppositionelle haben ihn zu einem Gedenktag für Khaled Said umgewidmet. "Wir alle sind Khaled Said", heißt ihre Facebook-Seite. Dort steht: "Geht auf die Straße!"

    Khaled Said war ein junger Mann aus Alexandria. Er wurde nur 28 Jahre alt. Am 7. Juni 2010 haben Polizisten in Zivil ihn aus einem Internet-Café gezerrt und in einem Hauseingang totgeprügelt.

    "Gott schütze Ägypten vor allem Übel. Friede sei mit euch."

    Um 14 Uhr sollen über all im Land Demonstrationen losgehen - doch schon kurz nach eins klingelt unser Mobiltelefon: Es ist Mustafa Hussein - 30 Jahre alt, Arzt und angehender Psychologe aus wohlhabendem Elternhaus. Mustafa ist einer von denen, mit denen dies alles beginnt. Ein schmächtiger Mann, mit Brille und braunen Locken. Mustafa gehört zur "Generation Mubarak", zu denen, die nie einen anderen Präsidenten gekannt haben.

    Es ist die Generation der Unzufriedenen, der Frustrierten, die in diesem Ägypten nie ausleben duften, was sie können und wissen und was sie bewegt. Die Mubarak-Generation erstickt im Mubarak-System. Deshalb rebelliert sie.

    Sie wollen nicht auch noch alt werden mit diesem Greis, der sich mit aller Gewalt an die Macht klammert. Und sie wollen auch nicht, dass - wenn der Alte stirbt - sein Sohn Gamal das Ruder übernimmt und einfach weitermacht.

    Seit seinem Amtsantritt 1981 regiert Mubarak mit Notstandsgesetzen. Dieser Ausnahmezustand verbietet alles, was den Präsidenten beleidigen könnte. Versammlungen, regimekritische Demonstrationen sowieso, sind untersagt. Jede Bewegung, jede Partei, jeder Gedanke, der die Macht Mubaraks bedrohen könnte, wird verfolgt.

    "Mir haben vor allem Menschenrechte gefehlt. Die Privatsphäre der Bürger wurde ständig verletzt. Die übermächtige Polizei hat ohne Haftbefehl Menschen festgenommen und verschwinden lassen, hat sie gefoltert, ohne dafür belangt werden zu können. Das hat die Menschen traumatisiert und ihnen Angst eingejagt. Dieser Zustand war Terror gegen die gesamte Gesellschaft."

    Mustafa will einen Wechsel in der Politik, aber nie hätte er gedacht, dass so viele andere das auch wollen.

    Die Demonstranten versammeln sich nicht, um an einem festen Ort zu protestieren. Sie formieren sich zu Protestzügen, bewegen sich vorwärts, durchbrechen Polizeiketten. Das hat es in Ägypten seit Jahren nicht mehr gegeben. An jeder Straßenecke werden es mehr. Aus Hunderten werden Tausende, dann Zehntausende Demonstranten.

    "Nieder mit Hosni Mubarak", rufen sie, "Brot, Freiheit, Menschenrechte" oder einfach "Versager, Versager, Versager". Die Sicherheitskräfte versuchen immer wieder, die Demonstranten aufzuhalten. Doch die Menge weicht aus und biegt in ein Wohnviertel ein. "Lauft mit", ruft einer älterer Herr den Zuschauern am Straßenrand zu und bleibt vor einem verarmt aussenden Jungen stehen.

    "Wir sind doch auch deinetwegen auf der Straße, dabei bin ich so alt wie dein Großvater. Wollt ihr nur zuschauen, während wir demonstrieren gehen? Wer hier Angst hat, der hat auch Angst vor Gott. Los lauft mit."

    Er habe keine Angst, sagt einer der Männer am Straßenrand. Er wolle nur kein Chaos. So ein Wechsel müsse friedlich geschehen. Der Staat aber setzt auf Gewalt. Polizeigewalt. Es ist der erste Versuch des Mubarak-Regimes, den Aufstand niederzuschlagen.

    Nach Mitternacht sammelt sich Bereitschaftspolizei und rückt mit Wasserwerfern und Tränengas gegen die Demonstranten vor, die sich auf dem Tahrir-Platz versammelt haben. Die Staatsgewalt scheint zu siegen: Am nächsten Morgen ist Kairos Zentrum buchstäblich leer gefegt.

    Doch in den folgenden Tagen sammeln sich immer wieder kleinere Gruppen zu Demonstrationen. Der Ruf "Das Volk will den Sturz des Systems" wird der Leitspruch der Revolution. Für den folgenden Freitag rufen die Internet-Aktivisten zum "Tag des Zorns" auf.

    Freitag, der 28. Januar 2011. Zum Ende des Freitagsgebetes füllen sich wieder die Straßen: anfangs sind es nur Männer, dann kommen Frauen und Kinder dazu. In einer Nebenstraße detoniert etwas - und Sekunden später hängt dichter Tränengasnebel zwischen den Häusern. Die jungen Männer neben uns schließen sich jetzt einer Gruppe an, die einer Polizeihundertschaft entgegen geht. Sie husten, haben gerötete Augen, aber ihr Schritt ist fest.

    "Schießt doch, wenn Ihr wollt", rufen sie, "wovor habt Ihr Angst?" Mehr und mehr Demonstranten marschieren hinter ihnen die Straße entlang, aus der entgegengesetzten Richtung kommt schon der nächste Zug. Sie rennen aufeinander zu, pfeifen, feiern, dass sie immer mehr werden.

    "Nach dem Gebet habe ich viele Leute gesehen, die der Polizei entgegen traten. Sie haben Slogans gerufen, dieselben, die wir immer in den Protesten gehört haben, aber das Interessante war, dass kleine Fehler drin waren. Falsche Wörter. Da habe ich gemerkt - mein Gott, diese Leute waren noch nie vorher auf einer Demonstration!"

    "Da ist er, der Terrorismus!", rufen sie den Polizisten zu, und: "Wo ist das Ägyptische Volk?"
    "Der Präsident muss mit uns reden. Er kann das Volk nicht einfach ignorieren, es gibt einen Willen des Volkes; die Regierung, der Präsident, sind doch Diener des Volkes."

    "Wir sind aus dem Volk. Meine Söhne sind 15 und 17 Jahre alt und demonstrieren mit."

    Er habe heute Geburtstag, und sei losgegangen um Ägypten zu befreien, sagt ein junger Mann. Seine Mutter steht neben ihm:

    "Wir sind hier, weil dieses Land korrupt ist. Hier gibt es keine Demokratie, keine Freiheit, wir haben keine Rechte. Das kann doch nicht sein, dass einer 30 Jahre lang regiert."

    Die Regierung hat sich diesmal besser vorbereitet: Schon am Vormittag wird das Internet abgeschaltet, ab mittags dann auch die Mobilfunknetze. Die Demonstranten sollen sich nicht mehr koordinieren können. Noch funktioniert die Diktatur einwandfrei.

    Um den Tahrir-Platz steht jetzt eine dichte Kette aus Polizisten, schwarz uniformierte Beamte der sogenannten "Zentralen Sicherheit". Geschützt von Schilden und Helmen stehen sie da, hinter sich einen Einsatzwagen, der jedem sich nähernden Demonstrationszug Tränengas entgegen schießt. Bald auch Gummigeschosse. Wir laufen mit einer Gruppe Demonstranten in eine Seitenstraße.

    Da stehen junge Männer und verteilen in Essig getränkte Tücher gegen das Tränengas. Das haben sie von der Demokratiebewegung in Tunesien gelernt. Seid ihr Journalisten? ruft uns einer zu, da vorne haben sie eine Frau erschossen!

    "Ich habe es gesehen. Ich habe es mit meinen Augen gesehen!"

    "Sie hat eine Kugel in den Kopf gekriegt, hier auf meinem Schal ist das Blut der Frau, ich habe sie getragen."

    Sie ist eines der ersten Opfer der ägyptischen Revolution. Am Ende werden fast 400 Menschen ihr Leben verloren haben.

    Immer wieder detonieren die Tränengasgranaten. Am Abend hängt eine beißende Wolke über der Kairoer Innenstadt. Sie mischt sich mit schwarzem Rauch. An der Nilpromenade, im Gebäude der Regierungspartei, haben Demonstranten Feuer gelegt. Mubaraks Machtbasis steht in Flammen. Auch Polizeiwagen brennen.

    Samstag, 29. Januar 2011. Am Abend verschwinden die Polizisten. Überall: in Kairo, Suez, Alexandria. Es ist, als ziehe sich die Staatsgewalt beleidigt in die Kasernen zurück. Aber das scheint nur so. Innenminister Habib al Adli hat ein heimtückisches Geschenk für die Ägypter vorbereitet. Er gibt Befehl, die Gefängnisse zu öffnen: Tausende Strafgefangene werden auf freien Fuß gesetzt - Gewalttäter und Schwerverbrecher, politische Gefangene, radikale Islamisten und einfache Diebe.

    Losgelassen auf eine wehrlose Stadt, ziehen sie in der Nacht durch die Straßen, plündern Läden, stoppen Autos, rauben Bürger aus. Auch Arme und Arbeitslose dringen in die aufgebrochenen Geschäfte ein und holen sich, was sie sich nie kaufen könnten. Das ist der zweite Versuch des Mubarak-Regimes, den Aufstand niederzuringen: Es will chaotische Verhältnisse schaffen, um später als Ordnungsmacht auftreten zu können.

    Aber die Strategie geht nicht auf. Sie bewirkt eher das Gegenteil. In den Straßen von Kairo ballen nun auch Leute die Fäuste, die eigentlich gar nicht mitmachen wollten bei den Protesten. Arbeiter, Taxifahrer, kleine Angestellte:

    "Die Polizei ist gegen das Volk. Erst schlägt sie auf unsre Kinder ein, und dann verschwindet sie plötzlich und macht die Gefängnisse auf. Was ist das für eine Polizei, die das eigene Volk verrät? Was ist das für eine Polizei, die sich zum Komplizen von Verbrechern macht?"

    Allein gelassen vom Staat beginnen die Ägypter, ihre Sicherheit selbst zu organisieren. Sie bilden Bürgerwehren, kontrollieren die Zufahrtswege zu ihren Stadtvierteln und Straßen. Viele Waren, die gestohlen worden sind, werden in den folgenden Tagen in die Läden zurück gebracht. Den Staat erleben die Bürger nur noch als eine anonyme Bedrohung, als einen Feind, der sie terrorisiert und Ausgangssperren verhängt. Um 16 Uhr, heißt es im mubarakhörigen Staatsfunk, seien die Straßen und Plätze Kairos zu räumen.

    Um 15.50 Uhr donnern zwei F16 Kampfjets im Tiefflug über das Stadtzentrum hinweg und drehen ab Richtung Osten. Eine Machtdemonstration, der Lärm so ohrenbetäubend, dass wir uns instinktiv ducken. Aber dann richten sich die Demonstranten auf dem Tahrir wieder auf. Sie bleiben - und fordern den Rücktritt Mubaraks.

    Dienstag, 1. Februar 2011. Schon den ganzen Tag über hallt der Tahrir-Platz von Sprechchören wider, "Nieder mit Mubarak." Für heute hat die Opposition zum "Marsch der Millionen" aufgerufen. Die Menschenmassen in den Straßen sind nicht mehr zählbar. Und nirgendwo Polizei. Eben deshalb - und wegen der unfassbaren Disziplin der Menschenmasse - gibt es an diesem Tag keinen einzigen Toten, nicht einmal einen Verletzten.

    Heute hat das Regime schon ab 15 Uhr die Ausgangssperre verhängt. Wieder wird sie vom staatlichen Rundfunk verkündet. Doch keiner kümmert sich mehr darum. Auch die regimetreuen Medien verlieren ihre Autorität. Und vor dem abgefackelten Gebäude der Regierungspartei stehen Familien, die sich gegenseitig fotografieren. "Mubarak - game over", hat einer auf die rußgeschwärzte Fassade geschrieben. Aber Mubarak ist immer noch da. Er sitzt im feinen Stadtteil Heliopolis in seinem Präsidentenpalast. Und hat noch Befehlsgewalt.

    Der Staat zeigt jetzt nur noch militärische Präsenz. Wüstensandgelbe, von den USA gelieferte Abram-Panzer, fahren überall auf - verstärken die Truppen vor dem Rundfunkgebäude, auf den Nilbrücken und rund um den Tahrir-Platz. Aus den Geschütztürmen schauen Soldaten ratlos hinunter auf das protestierende Volk. Eine alte Frau stellt sich ihnen entgegen. Sie trägt ein Tuch, das ihren ganzen krumm geschufteten Körper bedeckt. In den Slumvierteln werden diese Schleier getragen, in Shobra, Imbaba, Boulak. Es sind die Schleier der Armut, schwarz, schmutzig, ausgefranst an den Rändern.

    Anfangs wurde der Protest noch von den jungen, gebildeten Städtern getragen. Dann stießen die einfachen Bürger dazu. Nun sind auch die Habenichtse und Tagelöhner dabei, Arbeitslose, Analphabeten, Felachen vom Land.

    Gestern waren sie noch die hoffnungslose, namenlose Masse Ägyptens, diejenigen, die laut Weltbank-Statistik über ein tägliches Einkommen von umgerechnet einem Dollar verfügen. Jetzt, mit einem Mal, haben sie Hoffnung. Und einen Namen. Du da oben, ruft Umm Nidal zu dem Soldaten auf dem Panzer hinauf, Du könntest mein Sohn sein:

    "Wir wollen doch mit euch von der Armee keine Probleme haben. Wir wollen doch nur, dass aus Ägypten endlich ein schönes Land wird, etwas Gutes, auf das wir stolz sein können."

    Das Volk steht jetzt auf dem Midan al Tahrir - dem großen Platz. Und es wird ihn nicht mehr verlassen. Lagerfeuer werden entzündet, Zelte aus Plastikplanen errichtet. Und mit einem Mal geht die Nachricht um, dass Mubarak im Staatsfernsehen sprechen wird. Niemand weiß wann. Aber in der Dunkelheit legen Jugendliche Wolldecken vor die Panzerketten, um unter den Stahlkolossen zu schlafen. Damit sie nicht losfahren können, sagen sie. An diesem Abend verschwindet die Angst aus Ägypten:

    "Was haben wir zu verlieren? Wir haben doch nichts mehr - keine Jobs, kein Einkommen, nichts. Wir müssen jetzt um unser Leben kämpfen. So wie ihr das in Europa gemacht habt. Ihr habt doch auch für eure Freiheit gekämpft. Wir haben das Recht, das gleiche zu tun. Wir werden dafür einen Preis zahlen. Wir sind dazu bereit... Ich hab eigentlich gar nichts mit Politik zu tun, die meisten von uns interessieren sich nicht für Politik. Wir wollen einfach genug zu essen haben, zur Arbeit gehen, sicher nach Hause gehen können. Wir wollen das, was sie in Amerika wollen, in Indien, in Deutschland: Dass unsre Kinder auf einem sauberen Kopfkissen schlafen, in einem sauberen Bett."

    Um 23 Uhr wird es plötzlich still. Auf dem Tahrir, in der Stadt, in ganz Ägypten. Mubarak spricht. Er habe lange genug Ägypten gedient, sagt Mubarak, als Offizier im Krieg, als Staatsmann im Frieden, er werde im kommenden September nicht mehr antreten für eine weitere Amtszeit. Und er werde das Parlament beauftragen, die Verfassung zu ändern.

    Überall wo ein Bildschirm oder ein Radio ist, drängen sich Menschen zusammen. Aber noch während Mubarak spricht, wenden sich viele ab, verwirrt, enttäuscht. Das Versprechen eines Abgangs auf Raten genügt ihnen nicht, um jetzt einfach nach Hause zu gehen.

    "Ich schwöre Dir, keiner wird hier weggehen, bevor dieser Diktator nicht gestürzt ist. Keiner. Jeder weiß, worauf es hier ankommt. Jeder weiß das. Verstehst Du?"

    Tausende übernachten jetzt auf dem Tahrir Platz, und am nächsten Tag versammelt sich wieder Hunderttausende im Zentrum von Kairo. Doch etwas ist anders an diesem Tag, es scheint, als braue sich etwas Böses zusammen, mit jeder Stunde scheint es näher zu kommen. Armee-Hubschrauber kreisen über der Innenstadt, und über die Nilbrücken zieht eine wütende Menge mit Eisenstangen und Mubarakporträts. Sie schwingen sie wie Säbel:

    Wir wollen Mubarak, brüllt uns einer an, versteht ihr, elende Hunde, Mubarak ist unser Held. Wir sind seine Kinder. In den Seitenstraßen beginnen junge Männer damit, faustgroße Steine aus der Straße zu brechen.

    Und plötzlich galoppiert eine wilde Kohorte Richtung Tahrir Platz, berittene Schlägertrupps, bewaffnet mit Schlagstöcken und Schlachtermessern. Es ist helllichter Tag, wir stehen zwischen Hochhaustürmen und zwei Fünfsternehotels im Zentrum einer Weltmetropole. Aber in diesem Moment werden wir von einer mittelalterlichen Kampfszene überrollt, hören Mubarak-Mubarak-Gebrüll, sehen wie eine regimetreue Lumpenkavallerie mit Pferden und Kamelen in eine friedliche Menschenmenge hinein stürmt.

    "Das ist schrecklich", sagt ein fassungsloser Mann, der mit uns Schutz unter einem Brückenpfeiler gesucht hat. "Das sind Mubaraks Leute."

    "Sie stürmen jetzt den Tahrir", sagt er, "ich wohne hier in der Nähe. Das wird ein Desaster, das sind einfach zu viele."

    Vor den Augen der Soldaten, die mit ihren Panzern am Straßenrand stehen, haut die Kohorte auf alles ein, was sich bewegt. Auf Frauen, auf Kinder. Ohne regierungsamtliche Duldung hätten diese berittenen Totschläger niemals ins Zentrum Kairos vorrücken können. Nun wüten sie als letztes Aufgebot eines Machthabers, den der Westen jahrzehntelang als Garant für Stabilität und Sicherheit im Nahen Osten hofierte. Es ist der dritte Versuch des Mubarak-Regimes, den Aufstand niederzuschlagen.

    Nun stehen Kairo zwei blutige Tage und Nächte bevor. Wir ziehen uns zurück in ein Hotel, das direkt am Tahrir liegt. Dort haben wir ein Zimmer im 10. Stock angemietet. Ein Zimmer mit Aussicht.

    Nacht vom 2. auf den 3. Februar 2011. Es ist dunkel geworden, im gelben Licht der Straßenlampen ziehen graue Rauchschwaden über den Midan Tahrir. Junge Männer der Demokratiebewegung haben von nahe gelegenen Baustellen meterhohe Bleche aus Zäunen gerissen und eine fünfzig Meter lange Barrikade errichtet. Sie reicht vom Westflügel des ägyptischen Nationalmuseums bis zu den klassizistischen Hausfassaden im Zentrum. Und sie schützt die Menschenmenge weiter hinten auf dem Tahrir.

    Jetzt wird auch geschossen. Die Mubarak-Anhänger stürmen in immer neuen Angriffswellen gegen die Barrikade, Brandsätze werden geschleudert. Wir sehen von unserem Zimmer aus brennende Menschen, die als Fackeln durch die Dunkelheit rennen und fallen. 15 Menschen sterben in dieser Nacht. Aber die Barrikade hält, und ein paar Hundert Meter weiter, auf dem Tahrir, steht jetzt Mustafa Hussein zusammen mit vielen andern. Er ist nur ein paar hundert Meter von uns entfernt, aber dazwischen liegt dieses Schlachtfeld. Wir erreichen Mustafa jetzt nur noch auf seinem Handy:

    "Wir sind bereit hier zu sterben, es geht uns gut, die Stimmung hier ist fast feierlich."

    Feuerstöße, Maschinengewehrsalven vor unserem Fenster, die ägyptische Hauptstadt versinkt in dieser Nacht in einer bürgerkriegsähnlichen Szenerie.

    Von unserem Hotel aus übertragen dutzende Fernsehkameras die Bilder in alle Welt. Was wir vor Augen haben, wirkt so surreal wie die Live-Gespräche mit unseren Heimatsendern in Deutschland:

    Der Donnerstag, die Nacht zum Freitag - über 24 Stunden lang kämpft das alte Regime um seine Macht. Dann, am folgenden Morgen, ist es eigenartig still in der Stadt:

    Freitag, 4. Februar 2011. Wir gehen vorsichtig über verwüstete Straßen an qualmenden Barrikaden vorbei Richtung Tahrir. Ein Offizier kommt uns entgegen, streckt die Hand hin und sagt: "Welcome to Egypt". Mit einem Mal wissen wir: Es ist vorbei. Die Armee, der entscheidende Machtfaktor, hat sich irgendwann in der zurückliegenden Nacht gegen Mubarak entschieden.

    Freiheit, Freiheit, ruft ein Barrikadenkämpfer. Er trägt einen blutigen Kopfverband, aber darunter lacht er über das blau verschwollene Gesicht und zeigt das Victory-Zeichen.

    Wir gehen an einem Spalier klatschender, singender Männer und Frauen vorbei. Ein Arzt kommt uns entgegen, mit Blutflecken auf dem Kittel, und führt uns zu einem der Notlazarette am Midan Tahrir.

    Es liegt in einer engen, dreckigen Seitengasse. Doch unter dem Vordach einer kleinen Moschee herrscht klinische Ordnung: Decken liegen auf dem gesäuberten Boden. Das Regal, in dem sonst während der Gebete die Schuhe stehen, ist voller Medikamente. Alles Spenden, sagt ein Helfer.

    Eine Frau geht durch das Lazarett. Sie stammt aus der Oberschicht, das sieht man an ihrer gut sitzenden Frisur und den teuren Kleidern. Mit jedem Blick, den sie auf die Verwundeten wirft, entgleiten ihre Gesichtszüge mehr. Schließlich bricht sie in Tränen aus.

    Hanan heißt sie, und nun hält sie einen der jungen Kämpfer mit einem Schläfenverband neben sich. Sie möchte ihm danken für das, was er getan hat und drückt ihn an sich.

    "Das sind doch unsere Kinder, wir haben viel zu lange geschwiegen. Wir haben nichts getan, sie haben alles gemacht, wir haben sie im Stich gelassen."

    Sie erwischt seine Hand und bedeckt sie mit Küssen. Frau Hanan, wehrt der Verwundete ab, das geht doch nicht, das dürfen sie doch nicht tun. Doch, sagt sie:

    "Wir wussten ja, wie es im Land steht, aber wir kannten nicht die ganze Wahrheit. Niemand hatte ein klares Bild. Und wir sind aufgewachsen mit: Gehorchen, Unterdrückung, Angst. Wir haben nicht gelernt, unsere Meinung zu sagen und zusammen zu halten. Wir hatten immer Angst. Und sie haben uns immer gespalten: In Reiche und Arme, in Muslime und Christen, sogar in Fußballclubs: Zamalek und Ahli. Aber was rede ich hier, ich habe eigentlich gar kein Recht dazu. Sie müssten hier reden. Ich habe ja nichts gemacht."

    Die jungen Männer im Lazarett widersprechen, Nein, sagen sie, dass sie hier her gekommen sei, das sei genug.

    Donnerstag, 10. Februar 2011. Nachmittags geht ein Gerüchte um: Mubarak werde zurücktreten. Er habe die Amtsgeschäfte an Vizepräsident Soliman weitergegeben. Das Staatsfernsehen kündigt eine Rede an, vielleicht am frühen Abend. Stunden vergehen. Mehr als eine Million Menschen sammeln sich auf dem Tahrir. Und warten.

    Kurz nach 22 Uhr schließlich erscheint der Pharao auf dem Bildschirm. Er wirkt müde, verschlossen. Auf dem Tahrir-Platz warten die Massen auf den erlösenden Satz. "Ich trete zurück": Aber er sagt ihn nicht. Stattdessen verspricht er noch mehr Reformen und rezitiert seine Heldenlegende:

    "Ich war jung, wie die heutige ägyptische Jugend, als ich die Ehrenhaftigkeit des ägyptischen Militärs erlernte, Treue zum Vaterland und Opferbereitschaft."

    Das ist Mubaraks letzter Versuch. Nachdem Polizei und Schläger versagten, provoziert er nun selbst. Und scheint darauf zu setzen, dass sich die Menschenmenge auf dem Tahrir zu Gewalttätigkeiten hinreißen lässt. Doch diesen Gefallen tun sie ihm nicht.

    Die Frauen und Männer ziehen stattdessen ihre Schuhe aus und zeigen Mubarak die Sohlen. Eine Geste tiefster Verachtung. Am nächsten Morgen ist klar: Dieser Wille ist Volkswille. Er ist unbezwingbar.

    Freitag, 11. Februar 2011. Nach 18 Tagen zwingt das Militär Mubarak zum Rücktritt. Wir wissen nicht, wie es geschah, wer es ihm sagte, wie er reagierte. Aber am frühen Abend verlässt Mubarak die ägyptische Hauptstadt und wird mit einem Militärhubschrauber nach Scharm el-Scheich ausgeflogen. Vizepräsident Omar Soliman verliest zeitgleich die Erklärung dazu.

    "Ist er weg - ist er wirklich weg?", fragen ungläubig Demonstranten in Heliopolis vor dem Präsidentenpalast. Die Nachricht rast mit Schallgeschwindigkeit durch die Stadt.

    "Das Volk hat das System gestürzt!", rufen die Massen. Auf dem Platz, auf dem eine Woche zuvor noch scharf geschossen wurde, explodieren heute Feuerwerkskörper.

    Ein Grüppchen Kämpfer, Verbände um die Köpfe, und heiser vom vielen Rufen steht genau dort, wo sie mit Molotow-Cocktails und Steinen beworfen wurden:

    Wir gehen jetzt duschen, skandieren sie. Wir schlafen zuhause und ziehen frische Kleider an.