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Die Tochter

Ein Heulen kommt über den Himmel.Doch es ist nicht das Heulen der V 2-Rakete aus Thomas Pynchons großem Roman "Die Enden der Parabel", es ist das enttäuschte Heulen der zu Hause gebliebenen Schriftsteller, Lektoren und Kritiker. Seit langer Zeit gab es wieder einmal etwas zu verpassen im Wanderzirkus des literarischen Lebens. Wer sich nicht unter dem Motto "Freiheit für die deutsche Literatur" zwei Tage mit hundert Kollegen in der Evangelischen Akademie Tutzing einsperren ließ, hat nun das Nachsehen. Weh allen, die nicht dem Ruf des gastgebenden Autors und Journalisten Maxim Biller folgten: sie sind fürs erste einmal "out", haben das Woodstock ihrer Generation versäumt, bleiben als Stubenhocker angewiesen aufs Hörensagen von den "maeren wunders vil", die sich im Bayerischen zugetragen haben.

Denis Scheck |
    Zeichen und Wunder seien geschehen am Starnberger See, so der Rumor, für einmal sei Wolf nicht einträchtig neben Schaf gelegen, Löwe nicht friedlich neben Lamm. Hat der selbsterkürte "Hass-und-Moral-Amokmann" Maxim Biller dort nicht Rainald Goetz, den Popen der Pop-Literatur, einen Schlappschwanz genannt? Hat der Literaturchef der FAZ in Tutzing nicht sein Coming-out als Stephen-King-Fan gefeiert? Haben Zoe Jenny und Silvia Szymanski nicht ihre Anwartschaft auf die Nachfolge von Luise "Ich-habe-keine-Ahnung"-Rinsers aus Altersgründen fast verwaiste Stelle im Literaturbetrieb angemeldet - erstere mit der treuherzigen Beteuerung, ihr sei "das alles zu abstrakt", letztere mit der Erklärung, Popliteratur sei, wenn jeder mittun dürfe, auch ohne studiert zu haben?

    Doch ach, liest man die Tagungsberichte, verfolgt man das Internet-Echo im "Pool" http://www.ampool.de oder dem "Forum der Dreizehn" http://www.nordkolleg.de, ja studiert man selbst den 17 Manuskriptseiten langen Eröffnungs-Rundumschlag von Maxim Biller, man kommt nicht dahinter, was diese Tutzinger Tagung von allen vorhergegangen Autorentreffen unterschied. Das Bier sei sehr gut gewesen, und die Schwäne seien so hübsch über den See geschwommen, erfährt man von den einen, auch daß keiner die Koffer gepackt und der Moderator seine Sache einfach fabelhaft gemacht habe, außerdem sei die Atmosphäre gewesen wie auf einem "Konvent intergalaktischer Lebensformen". Dann hört man von anderen Tagungsteilnehmern, der Moderator habe nach der Hälfte wegen Inkompetenz leider ausgewechselt werden müssen, der als Referent eingeladene Szenebub Benjamin von Stuckrad-Barre habe seine Koffer lieber für Thailand als für Tutzing gepackt, die Schwäne hätten arg zerrupft ausgesehen und überhaupt habe mal wieder jeder an jedem vorbeigeredet. Bleibt also das Bier.

    Seit einigen Jahren schon ist es in Mode gekommen, die Veröffentlichung eines Romans durch allerlei werbe-trächtige Veranstaltungen jenseits der üblichen Tourneen durch Buchhandlungen und Literaturhäuser zu unterstützen. Ob angekündigte Nacktlesungen, Kollegenbeschimpfungen auf Tagungen oder skandalträchtige Essays, anything goes, solange es nur für den nötigen PR-Schub sorgt, um den Autor raus aus dem Literaturteil auf die Titelseiten der Feuilletons zu bringen, ja möglichst noch darüber hinaus in die Klatschspalten und, vielleicht, vielleicht, sogar in die TV-Talkshows. Gewiß liegt es in der Arbeitsökonomie der Schriftsteller begründet, wenn sie erst nach Abschluß eines umfangreichen Buchs die Zeit finden zu einem poetologischen Aufsatz oder der Organisation eines Treffens mit Kollegen. Dennoch drängt sich bei solchen Koinzidenzen der Verdacht auf, hier würde ein Rummel um des Rummels willens veranstaltet, würden Hilfskohorten um sich geschart, publizistische Sperrfeuer geordert.

    Der letzte, der das nötig hat, ist Maxim Biller. Sein Roman "Die Tochter" ist eine beklemmend kluge Meditation über Täter und Opfer, Liebe und Verrat, Heimat und Fremde. Die durch kunstvoll motivierte Rückblenden immer wieder unterbrochene Odyssee des Protagonisten Motti durch das München der Gegenwart schenkt dem deutschen Leser einen Blick quasi von außen auf Deutschland, einen angesichts der Romanlänge von nur 425 Seiten erstaunlich umfassenden und tiefenscharfen Blick, ermöglicht durch eine fein austarierte Erzählerhaltung vergleichbar der ausgeklügelten Optik eines Weltraumteleskops, das trotz eines geringen Umfangs das Mehrfache seiner Eigengröße an Brennweite bietet. Gut möglich, daß wer das Wochenende statt in Tutzing mit der Lektüre dieses wirklich großen und bedeutenden Romans verbracht hat, einst von einem Erlebnis zu erzählen weiß.