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Die Tragödie der Gruppenentscheidung

Ist es richtig, Griechenland, Portugal, Irland, Spanien mit Milliardenkrediten in der Finanzkrise zu unterstützen? Der politische Alltag ist von solchen Auseinandersetzungen geprägt. Ein Symposium an der Leopoldina in Halle versucht zu erklären, wie diese Prozesse rationalisiert werden können - und wie Menschen darin geschult werden könnten.

Von Barbara Leitner |
    "Mitte der 90-er-Jahre gab es in England eine Skandalschlagzeile, dass die Antibabypille das Risiko eine Thromboembolie verdoppeln würde. Also 100 Prozent..."

    Wolfgang Gaissmaier vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin. Er untersucht, wie Menschen unterstützt werden können, Gesundheitsrisiken zu verstehen und richtig einzuschätzen.

    "Das klingt so, als würde man es sicher kriegen und da haben viele Frauen so reagiert, dass sie die Pille abgesetzt haben, die Hotline des Herstellers lief heiß und so weiter. Und das hat dann dazu geführt, dass es sehr viel mehr ungewollte Schwangerschaften und auch Abtreibungen gab. Wenn man sich die Information noch mal anschaut, würde man erfahren, bei der Pille der zweiten Generation gab es von jeweils 7.000 Frauen eine, die eine Thromboembolie erlitten hat und diese Zahl erhöht sich jetzt auf jeweils zwei von 7.000."

    Die Bedrohung lag nicht in der wissenschaftlich erkundeten Tatsache, sondern in ihrer Vermittlung. Sie führte zu einer Fehleinschätzung und damit zu einer falschen Entscheidung. Mit diesem Beispiel verweist Wolfgang Gaissmaier auf die Konfliktlagen, über die namhafte Psychologen und Philosophen auf dem Leopoldina-Symposium "Rationalität und Demokratie" in Halle diskutierten. Von der Eurokrise, über Umweltrisiken und den demografischen Wandel bis zum Informationsüberfluss ballen sich im 21. Jahrhundert die Herausforderungen für die Gesellschaft wie für den Einzelnen. Dabei liegen die eigentlichen Probleme – so die Prämisse der Verhaltensforscher - oft nicht in der materiellen und physikalischen Welt. Vielmehr liegt die Schwierigkeit in der Regel darin, wie Menschen mit diesen Herausforderungen umgehen und welche Entscheidungen sie treffen. Sowohl Einzelne als auch demokratische Gruppen, Laien und Experten, verstoßen immer wieder gegen rationale Normen, die die Wissenschaft belegt. Das unterstreicht Klaus Fiedler, Professor für Psychologie an der Ruprecht-Karls-Universität in Heidelberg, der Organisator des Symposiums.

    "Der Inbegriff der Demokratie sind Gruppenentscheidungen. Wir glauben, dass man in der Demokratie bessere Entscheidungen treffen kann als Einzelne und als die größten Experten es auf irgendeinem Gebiet tun könnten. Die Verhaltenswissenschaften wissen eine Menge über Gruppenentscheidungen, über Bedingungen, unter denen man bessere Handlungsentscheidungen und Urteile fällt, wenn man zusammenarbeitet. Und unter welchen Bedingungen es zu dem Phänomen kommt, was wir genannt haben die Tragödie, "the tragedy of group decision making". Es gibt nämlich viele Gründe, warum es oft nicht funktioniert. Es gibt da einen unsinnigen Zwang zur Einmütigkeit bei Gruppenentscheidungen. Verhaltenswissenschaftler wissen, das ist Unsinn. Man darf Gruppen nicht erpressen. Man darf abweichende Meinungen nicht unterdrücken. Man darf durch den Stil, in dem Entscheidungen getroffen werden, nicht verhindern, dass die volle Bereite der Heterogenität der Ansichten zunächst zur Sprache kommt. Und von diesen Einsichten handeln viele gut dokumentierte experimentelle Untersuchungen."

    Ein Beispiel, warum Gruppenentscheidungen nicht funktionieren, stellte Norbert Schwarz von der Universität Michigan vor. Er sprach darüber, wie Missverständnisse und Falschinformationen in der öffentlichen Meinung korrigiert werden können. Üblicherweise wird die falsche Information wiederholt, um dann die richtigen Tatsachen anzufügen.

    "Was die typische Art vom Umgang mit Fehlinformationen bewirkt, ist, dass es über lange Zeit hinweg die Vertrautheit der falschen Information erhört, statt sie zu unterminieren. Sodass sie unmittelbar danach wissen, ja, ja, das ist falsch. Aber wenn sie es ein paar Tage später wieder hören ist ihnen die Fehlinformation vertrauter, nehmen sie mit höher Wahrscheinlichkeit an, dass die falsche Information richtig ist und sie erinnern sich oft auch noch daran, dass sie es von einer vertrauenswürdigen Quelle erhalten habe, nämlich vom Gesundheitsamt selbst. Sodass der, der versucht hat, die Korrektur zu machen noch assoziiert wird mit der Fehlinformation."

    In ihren Experimenten weisen die Psychologen nach, wie Menschen Informationen beurteilen. Sie schauen, was andere auch glauben, überprüfen, ob es mit dem, was sie schon wissen übereinstimmt, ob die Information in sich konsistent ist und von einer vertrauenswürdigen Quelle stammen. Dann akzeptieren sie Meldungen und Befunde als wahr und nehmen sie als Grundlage des Handelns, ohne sie weiter zu hinterfragen.

    So folgt auch die öffentliche Meinung oft dem Wunsch nach Vertrautheit und Konformität. Das zeigt auch die Forschung über das "Advicetaking", das "Rat holen". Sich in jedweder Situation beraten zu lassen, egal, von wem, ist hilfreich, zeigen Studien von der Universität Jerusalem. Allerdings begehen Menschen sowohl im privaten wie politischen Raum dabei entscheidende Denkfehler.

    "Zum Beispiel vertrauen die Leute dem Ratschlag anderer Leute mehr, wenn die anderen Leute quasi inzüchtig ausgesucht wurden. Also, wenn man andere Leute fragt, die die gleiche Meinung haben, wie man selbst. Dann bedeutet das informationstheoretisch, die können eigentlich nicht so viel dazu beitragen. Aber genau solchen Ratschlägen folgen die Leute besonders gern. Dagegen jemand zu folgen, der anderer Meinung ist, das ist informationstheoretisch eigentlich viel sinnvoller, aber das schafft eher das Gefühl von geringem Selbstvertrauen und man traut solchen Urteilen nicht."

    Diesem Muster folgt viel zu häufig auch die Entscheidungsfindung in der Politik. Klaus Fiedler erwähnt den Wettbewerb zur Förderung von Exzellenzinitiativen der Universitäten. Den Zuschlag erhielten Anträge, über die die Gutachter einhellig urteilten, es keine kritischen oder strittigen Stimmen gab. Mit einer solchen Strategie gehen Impulse für die Weiterentwicklung – in dem Fall der Wissenschaftslandschaft - verloren. Beispiele für solche – in ihren Augen wenig rationalen Entscheidungen - finden die Verhaltensforscher zuhauf im gesellschaftlichen Alltag. Beispielweise, wenn über den Atomausstieg der Bundesrepublik unter dem Einfluss des Reaktorunglücks in Japan entschieden wird und er somit immer mit einer emotionalen Zuspitzung assoziiert wird. Die Wissenschaftler diskutierten deshalb, wie sie in größerem Maße Politik ihre Expertise nicht nur bei kurzfristigen Anfragen, sondern langfristig für den Prozess der demokratischen Willensbildung zur Verfügung stellen können. Ein Anfang könnte in der Schule gemacht werden, meint Wolfgang Gaissmaier:

    "Ich denke, es wäre eigentlich eine Aufgabe unseres Ausbildungssystems, dass wir jungen Menschen ein Verständnis für ihre eigene Psychologie beibringen. Warum wollen sie bestimmte Dinge? Dass sie bestimmte Dinge nur wollen, weil es ihre Klassenkameraden auch gerade tun und ihnen eine Einsicht in die Mechanismen, wie sie funktionieren, wie ihre Begehren funktionieren und so weiter liefern und man ihnen zeigt und beibringt, wie sie selber kompetent entscheiden können, wie sie selbst Dinge kritisch hinterfragen können. Ich hab das Gefühl, dieses Fragenstellen und Selbstentscheiden ist eher etwas, was wir den Kindern in der Schule austreiben, statt ihnen beizubringen."