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Die unangepasste Lebenskünstlerin

Der hohe Norden Deutschlands wird kulturell und kulturgeschichtlich gern unterschätzt. Franziska zu Reventlow aus Husum war bereits zu Lebzeiten ein Mythos. Eine werkbiografischen Ausstellung in Lübeck widmet sich der Malerin und Schriftstellerin.

Von Matthias Sträßner |
    Franziska zu Reventlow war bereits zu Lebzeiten ein Mythos. Schon die Zeitgenossen zeichneten das "Bild einer unersättlich lebenshungrigen, zeitweilig von den Stürmen des Eros geschüttelten Frau, die man 'als Schönste und Wildeste bacchantisch' auf den Festen der Münchner Bohème tanzen sah." Dabei ließ ihre Herkunft aus schleswig-holsteinischem Uradel ihren späteren Bruch mit den bürgerlichen Konventionen nur umso greller und schriller erscheinen.

    Diesen in der Zwischenzeit verblassten Mythos jetzt mit Fakten zu unterlegen, ist das Verdienst der ersten werkbiografischen Ausstellung, die seit kurzer Zeit das Buddenbrook-Haus in Lübeck präsentiert. Die Erforschung der Biografie, das Sichten der Archive, war aber nicht von einer Institution allein zu schaffen. Vielmehr haben sich hier die Schleswig-Holsteinische Landesbibliothek Kiel, das Buddenbrookhaus in Lübeck, der Museumsverbund Nordfriesland und das Literaturhaus München zu einer - man darf schon sagen glücklichen: Kleeblatt-Forschungsinitiative zusammengeschlossen:

    Die Ausstellung zerlegt die Lebenszeit der Gräfin, die, leicht zu merken, von 1871- 1918 reicht, also von der Reichsgründung bis zum Ende des 1.Weltkriegs, in die vier wesentlichen Stationen: Husum, Lübeck, München und Ascona.

    Da ist die Kindheit in Husum, wo der Bruder von Theodor Storm als Hausarzt ins väterliche Schloss gerufen wird. Dieses Schloss, das ihrem Vater nur als Dienstsitz zugewiesen ist, ist für die junge Fanny "ihr Schloss". Schon wenige Tage nach ihrer Geburt lässt der Vater, von Fanny immer abschätzig als "der Greis" tituliert, die Tochter in Kloster Preetz einschreiben. Denn die Tochter soll später einmal versorgt sein, und an eine Ausbildung auf Kosten des Vaters ist nicht zu denken. Da ist die Rechnung aber ohne Fanny gemacht, die sich die ihr zugewiesene Rolle nicht gefallen lässt. Vor allem mit ihrem Bruder Carl, genannt Catty, vollzieht sie einen radikalen Generationen-Bruch:

    "Die weibliche Erziehung ist eben das Unsinnigste, was es gibt; ich kann Ihnen als Beispiel anführen, was ich an mir selbst erfahren habe. Ungefähr bis 14 Jahre durfte ich mit Catty und unseren gemeinsamen Freunden in allen Freistunden herumlaufen - das war ganz richtig und gut. Dann hieß es auf einmal, nun bist Du zu groß und musst ein junges Mädchen werden; ich musste also außer den Stunden in der Wohnstube sitzen, nähen und stricken. Natürlich wehrte ich mich mit Händen und Füßen, benutzte jede Gelegenheit wegzulaufen und es konnte eben kein Mensch mit mir fertig werden."

    Ihre Wünsche setzt sie schon in Lübeck um, nicht eben zur Freude der Eltern. Im Ibsenclub wird von der nun 19-Jährigen um 1890 ein "Leben in Freiheit und Wahrheit" nicht nur diskutiert, sondern auch praktiziert. So sehr praktiziert, dass der Bürgermeister von Lübeck, als er später mit ansehen musste, wie groß der Trave-Anteil an der unmoralischen Isar-Bohème war - neben Thomas und Heinrich Mann, Fritz Behn, Erich Mühsam eben auch die Gräfin - den Seufzer ausstieß: "Dass die auch gerade alle aus Lübeck sein müssen - was sollen bloß die Leute im Reich von uns denken!"

    Fanny identifiziert sich mit den Frauenrollen bei Ibsen, studiert die Theoretiker der Frauenbewegung, insonderheit Secrétan, und sie liest die Frauenbücher der damaligen Zeit. Bücher aus der Feder von Marcel Prévost und Anatole France übersetzt sie auch. In München bekommt sie ein uneheliches Kind, um dessen Erziehung sie sich so rührend wie ambitioniert kümmert. Sie verkehrt im Kreis der Schwabinger Bohème, lernt Rilke kennen, auch die sogenannten "Kosmiker" um Karl Wolfskehl, Stefan George und Ludwig Klages, die sie in "Herrn Dames Aufzeichnungen" auch ironisch porträtiert Weil, der Geldmangel notorisch ist, unternimmt sie auch Ausflüge ins Kunstgewerbliche. Sie malt Gläser, die sie bei den Passionsspielen in Oberammergau anzubieten versucht. Vergeblich versteht sich.

    Auf ihrer vierte Lebensstation, in Ascona, gelingt es ihr um ein Haar, durch eine gute Partie sich die finanzielle Sicherheit zu schaffen, von der sie immer träumte. Und als sie es mal nicht selbst ist, die für finanzielle Katastrophen sorgt, ist es jetzt die Bank, die bankrott macht. Ein Sturz vom Fahrrad setzt diesem Leben Juni 1918 schließlich ein schnelles Ende.

    Die kleine Ausstellung kann bemerkenswerte Forschungsergebnisse präsentieren. Zum Beispiel beim sogenannten Ibsenclub.

    "Was ich bei Ibsen besonders liebe, ist seine schöne, edle Auffassung des Weibes und der Ehe. In unserer Gesellschaft findet man es fast nie, dass Mann und Frau wirklich innerlich zusammenleben, das ist ja auch unmöglich, wenn die Frau einen so weit geringeren Bildungsgrad hat."

    Schreibt Fanny Mai 1890 an ihren Freund Emanuel Fehling, einen Enkel des Dichters Emanuel Geibel. Die Ausführungen über den Lübecker Ibsenclub zeigen, dass der Einflussstrom, von Norden über Dänemark nach Süden viel breiter und mächtiger gewesen sein muss, als heute allgemein veranschlagt. In Lübeck dürfte vor allem auch der deutsch-dänische Kunstkenner Vilhelm Petersen (1868-1923) zu nennen sein, der sich später Willy Gretor nannte. die Lübeck-Bohème, an deren Fenstern sich die jungen Söhne des Senators Mann wohl die Nasen platt gedrückt haben, war offensichtlich ein Ableger einer Kristiania- und Kopenhagen-Bohème.

    Aber nicht nur das: Der Ibsenclub rückt auch drei Männer in ein besonderes Licht, deren Kraftströme sich urplötzlich vermischen und zur Explosion kommen. Neben Ibsen und Nietzsche ist das vor allem der zunächst noch anonyme sogenannte Rembrandt-Deutsche, dessen Buch "Rembrandt als Erzieher. Von einem Deutschen" 1890 erschien, und aus dem Stand über 30-mal neu aufgelegt werden musste. Die These Fritz Sterns, dass die plötzliche, unglücklich verspätete und zeitweise auch fehlgehende Anerkennung Nietzsches als eines großen Denkers und Individualisten mit der Verbreitung der Ideen des Rembrandt-Deutschen zusammenfiel, findet hier einen interessanten Beleg. Die junge Gräfin lieh sich von Ibsen das neue Frauenbild, von Nietzsche die neue Religion und von Julius Langbehn, wie der Rembrandt-Deutsche tatsächlich hieß, den niederdeutschen Maler- und Geistesadel, der sie über den eigenen hinwegschauen lassen konnte. Und im Namen dieser Trinität begoss sie "die zarte Sinnpflanze, welche Individualität heißt".

    Was die Münchner Zeit der Reventlow anlangt, so vermag es die Ausstellung, die Reventlow auch als Malerin in Münchner Kulturzirkeln zu verorten. Insbesondere das Atelier von Friedrich Fehr wird als künstlerische wie private Heimat sichtbar. Und als Krönung kann die Ausstellung ein bislang weitgehend unbekanntes Porträt der Dichterin zeigen.

    Selten gelingt es auf so glückliche Weise, Grundlagenforschung und eine besucherfreundliche Präsentation zu betreiben. Fast ist der Besucher versucht festzustellen, dass hier Event und Wissenschaft einmal Frieden schließen. Und da diese Ausstellung, die jetzt im Buddenbrookhaus in Lübeck eröffnet wurde, anschließend noch nach Kiel, Husum, in die Vertretung des Landes Schleswig-Holstein in Berlin und abschließend ins Literaturhaus München wandert, ist auf eine entsprechende Anerkennung zu hoffen.