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Die unrühmliche Rolle des Lord Londonderry

Ian Kershaw hat mit seinem zweibändigen Werk über Hitler Maßstäbe gesetzt, an denen gemessen wird, wer sich seitdem an Biographien der großen Diktatoren des 20. Jahrhunderts wagt. Nun überrascht Ian Kershaw mit einem Buch, das in England bereits Staub aufgewirbelt hat und auch hierzulande für Aufsehen sorgt. "Hitlers Freunde in England – Lord Londonderry und der Weg in den Krieg" ist es überschrieben.

Von Volker Ullrich |
    Ian Kershaw weist nach, dass die Zahl der Hitler-Sympathisanten in Großbritannien vor 1939 größer war, als gemeinhin angenommen wird. Es geht nicht um den sattsam bekannten Oswald Mosley und die von ihm gegründete British Union of Fascists. Die Rede ist vielmehr von der Creme der britischen Gesellschaft, der Aristokratie, und der Bereitschaft nicht weniger ihrer Mitglieder, sich mit Nazi-Deutschland und seinem "Führer" zu arrangieren. Als typischen Exponenten führt Kershaw Lord Charles Londonderry vor.

    "Auf Lord Londonderry aufmerksam wurde ich 1991. Während eines Aufenthalts in Belfast (…) nahm ich an einer privaten Führung durch Mount Stewart, den Sitz der Familie Londonderry in Nordirland, teil und war erstaunt, als ich auf dem Kaminsims in Londonderrys Arbeitszimmer eine etwa fünfundvierzig Zentimeter hohe Statuette der Porzellan-Manufaktur Allach entdeckte: die wundervoll geformte Figur eines behelmten SS-Mannes, der eine NS-Fahne trägt. Meine Fantasie war sofort gefangen. Wie kam die Statuette dorthin? Sie passte so gar nicht zum eleganten Mobilar der damaligen Zeit. Das vornehme Herrenhaus am stillen Ufer des Strangford Lough mit Blick auf die Mourne Mountains und umgeben von einer prächtigen Gartenanlage (einem Werk von Lady Londonderry) – ein überwiegend in der ersten Hälfte des 19 Jahrhunderts errichteter neoklassizistischer Bau (dessen Ursprünge bis zum Ende des 18. Jahrhunderts zurückreichen) – schien Millionen Meilen von Brutalität, Repression, Krieg und Völkermord, die man mit NS-Deutschland assoziiert, entfernt zu sein. Doch der Schlossführer erzählte uns, dass Joachim von Ribbentropp, einer der wichtigsten Gefolgsleute Hitlers, Lord Londonderry die Figur 1936 während eines Wochenendbesuchs in Mount Stewart geschenkt habe. Zehn Jahre nach diesem Ereignis wurde Ribbentropp vom Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg als Kriegsverbrecher schuldig gesprochen und gehängt. Warum hatte Lord Londonderry, ein bekannter britischer Aristokrat, einen führenden Nationalsozialisten als Gast bei sich empfangen?"

    Kershaw beleuchtet zunächst die Ansichten über Hitler, wie sie zu Beginn seiner Herrschaft in Öffentlichkeit und Regierung Großbritanniens existierten. Dabei zeigt sich – ähnlich wie in Deutschland selbst – eine weit verbreitete Unterschätzung des neuen Reichskanzlers und der von ihm ausgehenden Gefahren. Dass Hitler eine faire Chance bekommen müsse, dass er, wenn er erst einmal fest im Sattel sitze, sich in einen gemäßigten, pragmatischen Regierungschef verwandeln würde, mit dem man vernünftig über einen Ausgleich der Interessen verhandeln könne – diese Auffassung war nicht nur in den Spalten der "Times" zu lesen, sondern fand auch im Foreign Office Fürsprecher. Daher schenkte man dem Terror des Regimes gegen Juden, Kommunisten und Sozialdemokraten nur wenig Beachtung. Stattdessen betonte die britische Regierung ihren Wunsch, sich mit Deutschland zu verständigen – und dies auch dann noch, als Hitler mit dem Austritt aus dem Völkerbund im Oktober 1933 der Abrüstungskonferenz in Genf einen Todesstoß versetzt und mit der Wiedereinführung der Wehrpflicht im März 1935 einen wesentlichen Teil des Versailler Vertrages gebrochen hatte.

    Es ist eine trübe Geschichte von Irrtümern, Illusionen und Selbsttäuschungen, die hier aufgeblättert wird, und in dieser Geschichte spielte Lord Londonderry eine besonders unrühmliche Rolle. Dabei war er, wie Kershaw zeigt, zunächst gar nicht durch starke Sympathien für das NS-Regime aufgefallen. Seine Karriere hatte sich in dem unspektakulären, selbstverständlichen Rahmen bewegt, den seine privilegierte Herkunft für ihn vorsah: Der in Eton erzogene und an der Militärakademie in Sandhurst ausgebildete Offizier hatte am Ersten Weltkrieg teilgenommen und war bald nach dessen Ende dank einflussreicher Förderer in hohe politische Ämter berufen worden. Im November 1931 wurde er Luftfahrtminister in der Allparteienregierung unter Ramsey MacDonald. Böse Zungen behaupteten, dass sich die Ernennung einer Liebesbeziehung von Lady Londonderry mit dem Labour-Premier verdankte, doch Kershaw hält sich, was diesen Punkt betrifft, mit Spekulationen zurück.

    Zwei Ziele vertrat Londonderry als Minister: zum einen Deutschland an den Konferenztisch zurückzuholen, um es doch noch in das angestrebte Abrüstungsabkommen einzubinden; zum anderen die Royal Air Force auszubauen, um von einer Position der Stärke aus mit Hitler zu verhandeln. Doch mit der Forderung nach Aufrüstung drang er bei seinen Kabinettskollegen nicht durch. Angesichts der pazifistischen Stimmung im Lande standen die Zeichen auf Abrüstung. Londonderry musste sich Etatkürzungen gefallen lassen. Das böse Erwachen kam Ende Mai 1935, als Hitler die Briten wissen ließ, Deutschland habe beim Aufbau der Luftwaffe bereits mit England gleichgezogen. Und obwohl Londonderry immer vor einer Schwächung der britischen Luftverteidigung gewarnt hatte, wurde er nun zum Prügelknaben gemacht. Seiner Entlassung als Minister im Juni 1935 folgte wenige Monate später auch die Ablösung vom Posten des Lordsiegelbewahrers, der ihm als Trostpflaster angeboten worden war.

    Auf diese doppelte Kränkung führt Kershaw die entschiedene Hinwendung zu Deutschland zurück, die Londonderry seit Herbst 1935 vollzog und die ihn binnen eines Jahres zum prominentesten Apologeten Hitlers in Großbritannien avancieren ließ. Freilich, so überraschend kam diese Wandlung nicht. Denn wie viele Angehörige der britischen Oberschicht war der Lord erfüllt von einer tief sitzenden Angst vor einer Ausbreitung des »Bolschewismus« nach Westeuropa, und er war auch nicht frei von antijüdischen Ressentiments, wie sie auf englischem Rasen gern gepflegt wurden. Dies war eine der Brücken, die zur Anbiederung an die Nationalsozialisten führten.

    Der in seinem Selbstbewusstsein empfindlich getroffene Aristokrat wollte beweisen, dass er als Privatmann mehr für das britisch-deutsche Verhältnis erreichen konnte als die Berufsdiplomaten. Er genoss es, dass er während seines ersten Besuchs in Berlin Ende Januar/Anfang Februar 1936 wie ein Staatsmann empfangen wurde, dass der zweite Mann im »Dritten Reich«, Hermann Göring, mit ihm lange Gespräche führte und auch Hitler ihm eine zweistündige Audienz gewährte. Hinterher rühmte er die Liebenswürdigkeit seiner Gastgeber – er habe »noch nie eine solche ausgefüllte, interessante und herrliche Zeit verbracht« –, und seine Frau bedankte sich überschwänglich bei Hitler:

    "Sie und Deutschland erinnern mich an die Schöpfungsgeschichte in der Bibel. "

    Solche und viele andere enthüllenden Bekenntnisse fand Kershaw in den privaten Papieren der Londonderrys, deren Einsicht ihm die einzige noch lebende Tochter ermöglichte. Das großzügige Entgegenkommen hat das kritische Urteil des Historikers nicht beeinträchtigt. Nichts wird beschönigt oder verharmlost, kein noch so peinliches Detail ausgelassen. So schildert Kershaw auch ausführlich das bereits erwähnte gemeinsame Wochenende der Ehepaare Londonderry und Ribbentrop Ende Mai 1936 – also nur zwei Monate nach dem Einmarsch deutscher Truppen ins entmilitarisierte Rheinland, mit dem Hitler die Westmächte abermals vor vollendete Tatsachen gestellt hatte. Lord Londonderry rechtfertigte diese Aktion in einem Artikel in der "Times" und bemühte sich gemeinsam mit Ribbentrop um Schadensbegrenzung.

    Die intensiven Kontakte, die Londonderry zu führenden Nationalsozialisten pflegte, beruhten, wie Kershaw hervorhebt, auf einem »doppelten Missverständnis«: In Berlin unterstellte man dem Lord mehr Einfluss auf britische Regierungskreise, als er tatsächlich besaß. Als man den Irrtum bemerkte, verlor man bald das Interesse an ihm. Londonderry wiederum hielt weiterhin unbeirrt an der Vorstellung fest, durch eine Verständigung mit Nazi-Deutschland einen dauerhaften Frieden in Europa erreichen zu können. Zu Recht wirft der Autor ihm vor, die Radikalität von Hitlers außenpolitischem Programm, seinen unbedingten, durch kein Entgegenkommen zu zügelnden Expansionsdrang verkannt zu haben. Diese Fehleinschätzung teilte er mit vielen anderen – nicht allerdings mit seinem Cousin Winston Churchill, der schon früh vor den Gefahren der Hitlerschen Aggressionspolitik gewarnt hatte und von der Unvermeidlichkeit eines Krieges überzeugt war.

    Doch nicht Churchill bestimmte die britische Politik der letzten Vorkriegsjahre, sondern Neville Chamberlain, Premierminister seit Mai 1937. Für diesen besaß die Erhaltung des Friedens oberste Priorität, und er glaubte, Hitler »beschwichtigen« zu können, indem er seinen Forderungen sehr weit entgegenkam. Wie fließend die Grenzen zwischen Appeasement und Kollaboration waren, zeigt das Beispiel Londonderrys. In seinem Buch "Ourselves and Germany" pries er das Münchner Abkommen von Ende September 1938, in dem die Westmächte vor Hitlers Erpressung in der Sudetenfrage kapituliert hatten, als »Erfüllung aller meiner Hoffnungen«:

    "Ich kann in diesem Augenblick nur großes Glück darüber empfinden, dass alles, wofür ich mich eingesetzt habe, mit einem Schlag verwirklicht worden ist."

    Mit dem deutschen Einmarsch in Prag im März 1939 war der Appeasement-Politik jedoch der Boden entzogen. Und erst jetzt sah sich auch Lord Londonderry unsanft aus seinen Wunschträumen gerissen. Er sei »völlig am Boden zerstört«, schrieb er an Franz von Papen. Er habe das deutsche Vorgehen immer verteidigt, müsse nun aber verstummen.

    Stumm blieb er keineswegs. Die letzten Jahre bis zu seinem Tode 1947 waren ausgefüllt mit immer neuen Anläufen, seine eigene Haltung zu rechtfertigen und sein ramponiertes Ansehen als einer der wichtigsten Fürsprecher Hitlers in England wiederherzustellen. Kershaw macht deutlich, warum diese Versuche scheitern mussten: Einerseits hatte sich Londonderry, obwohl selbst kein britischer Faschist vom Schlage Mosleys, durch seinen heftigen Flirt mit den Nazi-Größen zu sehr kompromittiert; andererseits brauchte die britische Öffentlichkeit, die zeitweise der Appeasement-Politik begeistert applaudiert hatte, einen Sündenbock. Kein anderer bot sich dafür so an wie der Herr von Mount Stewart, obwohl er keineswegs der Einzige gewesen war, der Hitler Bewunderung entgegengebracht hatte. Ian Kershaw nennt viele Namen – unter anderem den des früheren britischen Premiers David Lloyd George und des Besitzers der Daily Mail, Lord Rothermere.

    Dieses Buch ist, über den exemplarischen Fall eines prominenten britischen Aristokraten hinaus, ein wichtiger Beitrag zu den deutsch-britischen Beziehungen der dreißiger Jahre. Es wirft ein scharfes Licht auf die Einstellungen und Erwartungen, die der Beschwichtigungspolitik gegenüber Hitler zugrunde lagen. Doch so deprimierend der Inhalt auch ist, so anregend, ja bisweilen unterhaltsam ist die Lektüre. Denn der Autor beherrscht das Stilmittel der feinen Ironie, und er versteht es, die Darstellung mit Anekdoten zu würzen. Kurz: britische Geschichtsschreibung vom Besten.

    Volker Ullrich über Ian Kershaw "Hitlers Freunde in England - Lord Londonderry und der Weg in den Krieg", aus dem Englischen von Klaus-Dieter Schmidt. Der Band ist bei der Deutschen Verlagsanstalt in München erschienen, 528 Seiten, 39 Euro 90.