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Die Ursachen des Sieges

Der amerikanische Historiker Paul Kennedy bietet in seiner Darstellung über die "Casablanca-Strategie" einen neuen Erklärungsansatz für den Erfolg der Alliierten im Zweiten Weltkrieg. Ideenreiche Techniker und Offiziere in den mittleren Ebenen haben demnach den Sieg mit Ihren Erfindungen und Einfällen vorbereitet.

Von Peter Carstens |
    Im Januar 1943 trafen sich der amerikanische Präsident Roosevelt und der britische Premierminister Churchill in Casablanca. Dort legten sie die Strategie fest, mit der sie den Krieg gegen Deutschland und Japan gewinnen wollten. Die Lage der Alliierten war Anfang 1943 an allen Kriegsschauplätzen unerfreulich: Auf dem Atlantik versenkten deutsche U-Boote täglich drei bis vier Frachter und Zerstörer. Deutsche Flak schoss mehr Bomberbesatzungen und Piloten ab, als auf die Dauer zu ersetzen waren. Riesige Panzerverbände der Wehrmacht standen tausend Kilometer tief in der Sowjetunion. Und im Pazifik kontrollierten Japans Flugzeugträger-Flotten einen riesigen Raum, der bis vor die Küsten Australiens reichte. Das Ziel war dennoch klar: die bedingungslose Kapitulation Deutschlands und Japans. Paul Kennedy, Professor an der amerikanischen Yale Universität, schreibt in seiner Untersuchung "Die Casablanca Strategie":

    Es war eine Sache, den Sieg über die deutschen U-Boote zur Priorität zu erklären. Aber wie erreichte man das? Es war zweifellos nobel und klug, dass London und Washington dem besorgten Stalin … versicherten, bald eine zweite Front in Frankreich zu eröffnen. Aber wie? Bestimmte Personen und Organisationen mussten diese Fragen beantworten; sie mussten diese Probleme lösen.

    Kennedy, der bereits mehrere bekannte Bücher geschrieben hat, darunter eines über "Aufstieg und Fall der großen Mächte" widmet seine Schilderungen den praktischen Aufgaben der Casablanca-Strategie. Fünf Fragen bestimmen die originelle Kapiteleinteilung seines überaus kenntnisreichen Buches und lauten:

    Wie schickt man Geleitzüge sicher über den Atlantik?
    Wie erringt man Luftherrschaft?
    Wie stoppt man einen Blitzkrieg?
    Wie erobert man eine feindliche Küste? Und schließlich:
    Wie überwindet man die Distanzen im Pazifik?

    Zur Beantwortung besichtigt Kennedy ausführlich das Kampfgeschehen an allen Fronten. Sein Buch handelt dabei nur am Rande von den moralischen Dimensionen dieses Krieges. Den Autor interessieren hier technische, logistische und geografische Aspekte. Kennedy erörtert die Kampfkraft von Divisionen, bahnbrechende Erfindungen und gelungene Täuschungsmanöver. Es geht ihm um Effizienz, nicht um Ethik. Das unterscheidet den amerikanischen Autor von deutschen Kollegen, die stets Völkermord und Wehrmachtsverbrechen mitdenken müssen.

    Kriegsentscheidend war aus seiner Sicht nicht allein die umwerfende materielle Überlegenheit der Alliierten. Das sei, schreibt Kennedy, eine zu "deterministische Lesart". Denn:

    Tausende von Frachtschiffen zu bauen würde den Krieg nicht gewinnen helfen, wenn man keinen Weg fand Dönitz große U-Boot Wolfsrudel im Zentralatlantik zu schlagen. … 10.000 T-34 Panzer waren nur ein großer Haufen Stahl, bis jemand die Lösung fand, wie man sie mit Treibstoff, Öl und Munition versorgte. … Nicht durch materielle Überlegenheit, sondern durch menschliche Einfallskraft und gemeinsame Initiativen sind die Schlachten gewonnen worden.

    Das galt anfangs, wie Kennedy mit Respekt und einem Unterton von Bewunderung schreibt, auch für die deutsche Wehrmacht und deren recht innovative "Blitzkriege". Doch dann verursachten strategische Fehlentscheidungen, insbesondere solche Hitlers, eine Niederlage nach der anderen. Von einer "dummen Kriegsführung" spricht Kennedy beispielsweise bei den militärisch sinnlosen Angriffen der Luftwaffe auf London, derweil die empfindlichen britischen Radarstationen in Kent und Essex unbehelligt blieben.

    Schlimmer, dümmer noch sei die gesamte Kriegsführung gegen die Sowjetunion gewesen, wo man ernsthaft geglaubt habe, eine 2000 Kilometer breite Front halten zu können. Kennedy macht sich in seinem Buch auf die Suche nach den Männern in den alliierten Armeen, die er "die Problemlöser" nennt. Das waren Leute, die beispielsweise kaum fußballgroßen Radargeräte entwickelten, mit denen alliierte Schiffe und Flugzeuge dann deutsche U-Boote aufspürten. Oder Männer wie der Testpilot Ronny Harker, die immer neue Motoren ausprobierten, bis der "Mustang-Jäger" mit dem "Merlin-Motor" von Rolls-Royce entstand.

    Ein Flugzeug, das die verletzlichen anglo-amerikanischen Bomberverbände auf ihren langen Flügen zu Zielen in Deutschland begleiten und schützen konnte. Kennedy spürt auch den sowjetischen Ingenieuren nach, die den wasserundichten, mit einem Vorschlaghammer zu lenkenden Panzer T-34 in ein effektives Kriegsgerät verwandelten. Sie machten, wie Kennedy schreibt, "einen schlecht konstruierten untermotorisierten Stahlhaufen zu einer schnellen, tödlichen Waffe". Die Arbeit dieser Leute sei bislang selten im Zusammenhang untersucht worden, aber, so Kennedys zentrale These:

    Bei allem Respekt für die Staatslenker und Kommandeure auf der einen Seite und die Soldaten und Seeleute auf der anderen … ohne das Personal der mittleren Ebene und die effizienten Systeme, die es managte, wäre der Sieg unerreichbar geblieben.

    Auf deutscher und japanischer Seite findet der Autor wenige dieser Leute. Zwar seien die japanischen Marine-Flugzeuge von Mitsubishi beim Angriff auf Pearl Harbour noch modern gewesen. Doch verloren sie dank rascher Verbesserung etwa der amerikanischen Hellcat-Jäger immer schneller an Kampfwert. Und nichts wurde unternommen, um dies zu ändern. Am Ende des Krieges hatten die Amerikaner in der Pazifikschlacht mehr als 5000 japanische Flugzeuge abgeschossen und nur 270 eigene Maschinen verloren. Die Deutschen hingegen, so beschreibt Kennedy plausibel, vergeudeten riesige Mittel auf ihre "Wunderwaffen":

    Die V-2 Rakete war höchst eindrucksvoll, aber eine solche Wunderwaffe verschlang unglaubliche Ressourcen … die USA konnten sich solche Wunderwaffen leisten, Deutschland nicht. Nach einer Berechnung hätte man mit demselben Arbeit- und Materialaufwand 24.000 normale Jagdflugzeuge bauen können.

    Am Ende brachen die Alliierten mit 12.000 Flugzeugen über die Strände der Normandie herein, wo sie am Tag ihrer Landung auf genau zwei deutsche Abfangjäger stießen, die Me 109 von Josef "Pips" Priller und seinem Kollegen. Kennedy beschreibt solche Details im spannenden Wechsel mit fundierten Erwägungen zu großen strategischen Entscheidungen.

    Am Ende seines herausragenden Buches über die Ursachen des Sieges kommt er zu dem Schluss: Der Erfolg der Alliierten verdankte sich weder Zufällen, noch materieller Überlegenheit oder besserer Aufklärung. Seine Ursache liegt in einer Kultur der Ermutigung und der Innovation, die aus Rückschlägen lernte und die selbst schrulligen Erfindern zuweilen Gelegenheit verschaffte, ohne Furcht Neues ausprobieren zu können.

    Paul Kennedy: "Die Casablanca Strategie: Wie die Alliierten den Zweiten Weltkrieg gewannen"
    Beck Verlag
    496 Seiten, 24, 95 Euro
    ISBN: 978-3-406-63985-2