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Die vielen Ichs

"Ich ist ein anderer": Wie kein anderer deutscher Autor der Nachkriegsliteratur ist Hubert Fichte auf den Spuren dieser Botschaft von Arthur Rimbaud gewandelt. Sein umfangreiches Werk ist geprägt von den Undeutlichkeiten seines kurzen Lebens.

Von Christian Linder | 21.03.2005
    Er wolle auch mal die Beatles sein und auf St. Pauli vor zweitausend Menschen, die sonst nie ein Buch in die Hand nehmen, den Sound seiner Literatur spielen und singen, bekannte Hubert Fichte 1966. An jenem denkwürdigen 2. Oktober dieses Jahres 1966 spielten im Hamburger Star-Club zwar nicht die Beatles, aber Hubert Fichte konnte sich seinen Traum erfüllen und begleitete die Musik von Jan & The Zodiacs mit einer Lesung aus seinem entstehenden und zwei Jahre später veröffentlichten Roman "Die Palette", der im Hamburger Untergrundmilieu spielte.

    Das Lied "Respect" konnte Hubert Fichte seit seinem damaligen Auftritt auf sich beziehen, er war ein respektierter, gefeierter Schriftsteller geworden und inszenierte sich gern. Einige seiner Auftritte sind Legende geworden. Wie er da in einem Pariser Luxusrestaurant aß und anschließend dem Kellner sagte:

    "Schicken Sie die Rechnung an den Verlag Gallimard - ich bin Hubert Fichte."

    Briefe unterzeichnete er manchmal mit "Madame Bovary" oder "Hubert Alexander von Fichte-Swann". Swann aus Marcel Prousts "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" war eine von Fichtes Bezugspersonen. Wie Proust war er auf der Suche nach dem geheimnisvollen Ursprung der Empfindlichkeit. "Die Geschichte der Empfindlichkeit" nannte er sein Schreibprojekt, in dem er Romane, Dokumente, Reisenotizen, Hörspiele, Filmscripte, ethnographische Forschungsberichte ineinander montierte und die Gattungen verschmolz. Literatur als "poetische Anthropologie", wie Helmut Heissenbüttel Fichtes Werk charakterisierte, Literatur der Selbstentblößung und zugleich Bekenntnisliteratur, Bekenntnis zum Beispiel zur Homosexualität.

    In allen Texten, in den Romanen wie "Die Palette", "Detlefs Imitationen Grünspan" oder "Versuch über die Pubertät" genauso wie in den ethnografischen Untersuchungen aus Bahia, Haiti und Trininad, wo Fichte lange lebte, versuchte er das Fremde, das ihm in der Welt begegnete, als das eigene Fremde zu begreifen und die Fassaden, die das andere wie das eigene Fremde einmauerten, zu zerstören.

    Fremd hatte Fichte sich früh erlebt: Geboren am 21. März 1935 in Perleberg in Brandenburg, wuchs er, unehelich, Halbjude, während der Nazizeit als Protestant in einem bayerischen Waisenhaus unter den Fittichen katholischer Schwestern auf. Diese früh erlebte Undeutlichkeit des eigenen Lebens hat er in seine Bücher hineingeschrieben. Wer spricht da?

    "Ich. Wer ich? Ich? Du? Sie? Wenn ich "ich" schreibe, denken Sie dann an sich oder an mich? Jäcki? Detlef? Waren Sie nun persönlich auch im Waisenhaus? Aber Jäcki und Detlef sind doch zwei Figuren aus Fleisch und Blut? Gestalten aus Fleisch und Blut, Leichen aus Fleisch und Blut? Finden Sie nicht auch, daß Jäcki und Detlef viele gemeinsame Züge haben? Ich? Sie und ich und Detlef und Jäckis Ich und Detlefs Ich und mein Ich und Ihr Ich."

    "Die Welt durch sich hindurchlassen" hat Fichte einmal sein Programm genannt, ein später Nachfolger Rimbauds, dessen Behauptung "Ich ist ein anderer" Fichte aufgenommen, weitergelebt und weitergeschrieben hat. Ein Ethnologe, der die Dinge in der fernen und nahen Welt mit einer zarttraurigen Melancholie erforschte und archivierte, um sie vor dem Verschwinden zu retten. Gerettet werden konnten gottseidank auch die Originalaufnahmen von Fichtes Gesprächen für das St. Pauli-Buch "Interviews aus dem Palais d’Amour"; der Kölner Verlag "supposé" hat sie neben den Hamburger Beat-Club-Aufnahmen neu zugänglich gemacht. Einem Mann namens Wolli stellt Fichte die berühmten Fragen, die Marcel Proust als 14-jähriger beantwortet hat:

    "Fichte: Was tust du am liebsten?
    Wolli: Am liebsten mache ich Liebe, Haschisch rauchen und Musik hören.
    Fichte: Mehr nicht?
    Wolli: Ich lese auch gern, aber am liebsten mache ich Liebe, wenn du mich fragst.
    Fichte: Proust antwortet: la lecture, la rêverie, les vers, l’histoire, le théâtre - Lektüre, Träumerei, Verse, Geschichte und Theater.
    Wolli: Ja, das ist auch schön, aber Proust war vierzehn Jahre alt, stell dir mal vor, der hätte gesagt, am liebsten mache ich die Liebe, da hätte man gesagt, was ist denn das für ein verkommenes Bürschchen."

    Hubert Fichte starb 51-jährig, am 8. März 1986, im Hamburger Hafenkrankenhaus. Begraben liegt er auf dem Friedhof Hamburg-Nienstedten.