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Die Volksbühne im Westen

In Sachen Theater durchlebt das Ruhrgebiet nun schon den zweiten Schock. Erst brachte die RuhrTriennale Produktionen von so entschlossenem Kunstwillen ins Revier, wie er sich sonst nur in Salzburg, Wien oder Paris verwirklichen darf. Und nun sind auch noch die Ruhrfestspiele Frank Castorf in die Hände gefallen.

Von Ulrich Deuter | 14.05.2004
    Das Ur-Motto dieses mehr als 50 Jahre alte Festivals lautet bekanntlich: "Kohle für Kunst - Kunst für Kohle". So reziprok läuft es jetzt wieder. Denn das Trash- und Dekonstruktionstheater der Berliner Volksbühne bedeutet für das Ruhrgebiet immer noch einen ästhetischen Mehrwert und im Gegenzug dürften die viereinhalb Millionen Euro, die in dem Festival stecken, für die notorisch klamme Hauptstadt-Szenebühne sicher eine willkommene Brennstofflieferung sein.

    Woraus schon ersichtlich wird: Die neuen Ruhrfestspiele sind eigentlich Volksbühnen-Festspiele. Neben sich selbst mit drei Inszenierungen hat Castorf die Volksbühnen-Kollegen René Pollesch, Schorsch Kamerun und Christoph Schlingensief, dessen musikalischen Zwilling Christian von Borries sowie natürlich den Volksbühnen-Chefdesigner Bert Neumann mitgebracht. Castorf und Neumann haben im Ruhrgebiet den Osten entdeckt, wegen der hohen Arbeitslosigkeit und weil zu industriellen Hochzeiten 200.000 Polen ins Revier kamen. Globalisierung hie, Heimatwunsch da - Neumann kam auf die Idee, die vielen Foyers im Festspielhaus zu einem "Wohn-Klub" umzubauen. Also gibt es dort jetzt Bar und Suppenküche, Gärtchen und Schlafsaal, alles im volksbühnentypischen Retro-Look. Das macht sich in dem Gewerkschaftskasten, der vor ein paar Jahren aufgehübscht und ausgecoolt wurde, irgendwie artig und verloren aus.

    "No Fear", lautet Castorfs Festspiel-Motto, keine Angst. Die Furcht davor, dass sein Programm die ästhetische Gemütlichkeit abschaffen würde, die sich unter Hansgünther Heyme seit 1991 in Recklinghausen ausgebreitet hatte, diese Furcht ließ sich das Publikum allerdings nicht nehmen: Es bleibt zahlreich fern. Auf Christoph Schlingensiefs Abschluss-Show seiner Ruhrpott-Rallye etwa - wie üblich perfekt dilettantisch inszeniert - war der riesige Festspielhaussaal zu zwei Dritteln leer.

    Schlingensief, ein Kind des Reviers, hatte zehn PKWs auf eine Schnitzeljagd durchs Ruhrgebiet geschickt, wobei jeder Wagen per Dachlautsprecher eine Instrumentenstimme aus Wagner-Opern abspielte, was manchmal zu synchronen Klängen führte. Straffer gab sich René Pollesch in einer neuen Folge seiner Endlos-Soap über das Leben im Turbokapitalismus: "Pablo in der Plusfiliale". Aufgeregte Dialoge im orangefarbenen Container, eine voyeuristische Videokamera als Stellvertreterin der Zuschauer, die weitgehend optisch ausgesperrt waren, treibende Musik und die den Abend beherrschende Frage: "Wie soll ich das jetzt in meine Sexualität integrieren?"

    Außer Castorfs eigener Inszenierung von "Gier nach Gold", über die hier schon berichtet wurde, bisher also nichts Umwerfendes bei den Ruhrfestspielen, weder in diesem noch jenem Sinne. Die neue Intendanz könnte sich folglich als gar nicht so schockierend herausstellen, wie anfangs befürchtet - oder erhofft. Spätestens bei der "Dreigroschenoper" durfte sich das traditionelle Publikum auch wieder wie bei Heyme fühlen: So harmlos war dieses Gastspiel aus Barcelona, eine so onkelhafte Fröhlichkeit hatte Regisseur Calixto Bieito seiner Inszenierung verordnet, worin er die Brecht-Weill’sche Kapitalismus-Parabel auf einen Kirmesplatz verlegt und als Scherz unter Freunden auffasst.

    Rolltreppe, Rolltreppe, Eisen und Stahl, Rolltreppe, Rolltreppe, sinnlos brutal. Hochofen, Hochofen, Hitze und Glut, Hochofen, Hochofen, Schweiß und Blut. Rolltreppe, Rolltreppe, Eisen und Stahl, Rolltreppe, Rolltreppe, sinnlos brutal. Hochofen, Hochofen, Hitze und Glut, Hochofen, Hochofen, Schweiß und Blut. Risikofaktor eins zu X, die neue Zeit kommt ganz gewiss. Risikofaktor eins zu X, die neue Zeit kommt gewiss.

    Dies waren der Schauspieler Sepp Bierbichler und der Soft-Punker Schorsch Kamerun, im Duett versunken im "Golden Age of Punk and Working", wie die jüngste Produktion der Ruhrfestspiele sich nennt: ein Liederabend mit einer schrägen Geschichte drumherum, musikalisch unterstützt von einer pumpenden polnischen Knappen-Kapelle und szenisch garniert durch den Auftritt einer Live-Gurke. Nicht schlecht schmeckend, aber wie so vieles bisher doch eher vom Sättigungsgehalt einer Beilage.

    Doch noch ist das Polen, das Castorf und seine Kumpels an der Ruhr suchen, nicht verloren. Die Ruhrfestspiele dauern bis zum 13. Juni. Da kann noch viel passieren. Hoffentlich.