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Die wahrscheinlich längste Schwerelosigkeit der Erde

Physik. - Im Bremer Fallturm sind jetzt Experimente in der Schwerelosigkeit mit einer Dauer von knapp zehn Sekunden möglich. Dafür sorgt ein neues Katapult im Inneren der Röhre. Wissenschaftler haben seit Jahren darauf gewartet, dass die Anlage fertig wird. Denn die Abschussanlage ist - zumindest für eine Reihe von Versuchen - eine Alternative zu teuren Raketenflügen ins Weltall.

Von Folkert Lenz |
    Eine 500 Kilogramm schwere Experimentierkapsel schlägt auf dem Boden ein. Ein spitzes, matt glänzendes Projektil, knapp zwei Meter lang, vollgestopft mit Messinstrumenten. Zehn Sekunden hat seine Reise durch die Vakuumröhre des Bremer Fallturms gedauert. Vor dem Einbau der neuen Anlage wurden die Probenkapseln bis auf 120 Meter hochgezogen und ausgeklinkt. Flugzeit bis unten: Knappe fünf Sekunden.

    Über 4.000 Mal haben die Bremer Schwerelosigkeitsspezialisten in den 14 Jahren seit Eröffnung des Fallturmes Experimente abgeworfen. So haben sie zum Beispiel das selbst zündende Verhalten von Dieseltröpfchen für bessere Motoren erforscht. Außerdem hat das Institut ein Treibstoffsystem für Satelliten entwickelt, das sich selbst befüllt und dabei die Kapillarkräfte im schwerelosen Raum nutzt.
    Durch den neuen Abschussapparat konnte das Bremer Zentrum für Angewandte Raumfahrttechnologie und Mikrogravitationsforschung ZARM die Dauer des Fluges fast verdoppeln. ZARM-Chef Hans-Josef Rath:

    Wir benutzen dafür ein Zylinderkolbensystem. Auf dem Kolben sitzt die Kapsel. Über dem Kolben ist Vakuum, also null Bar. Und hinter dem Kolben können wir den Druck steuern bis zu drei Bar Überdruck.

    Während aus der über hundert Meter langen Fallröhre also die Luft abgepumpt wird, wird der Kolben durch Zug am Boden gehalten.

    Zehn Meter tief unter dem Erdboden sitzen die Maschinen, die das Katapult steuern. Zwölf knallgelbe Tanks im Keller des Betriebsgebäudes stechen ins Auge. Der kaufmännische Leiter des Fallturms, Peter von Kampen:
    Das sind Druckbehälter. Mit denen bauen wir einen Vordruck auf bis maximal drei Bar. Und die Energie fürs Katapult leiten wir dann aus der Druckdifferenz zwischen dem Vakuum ab, das im Fallturm ist - das ist ein sehr großes Vakuumvolumen dort - und diesen Druckbehältern. Die liefern dann die Energie zur Beschleunigung unserer Versuchskapsel auf dem Katapult.

    Das Ganze funktioniert pneumatisch, also mit Luft. Ließe man den Kolben nun einfach los, würden der Katapulttisch und seine Last unkontrolliert mit rasender Geschwindigkeit in die Röhre hineinsausen. Das wollen die Ingenieure natürlich nicht. Ein hydraulisches Bremssystem sorgt deshalb dafür, dass das Katapult kontrolliert seine Kraft abgibt. Der Kolben wird über eine zehn Meter lange Getriebestange gesteuert.

    Das geht am Besten mit einer Hydraulik, also mit Öl. Das ist dann so ein bisschen wie ein Stoßdämpfer. Erst werden Ventile aufgedreht, dann kann Öl strömen und die Kapsel will nach oben, zusammen mit dem Kolben. Und dann werden die Ventile wieder zugedreht, der ganze Prozess wird verlangsamt. Das ist der Moment, in dem die Kapsel dann vom Kolben abhebt.

    Der Abschuss geht blitzschnell: In einer Viertelsekunde wird die Experimentierkapsel von null auf 175 Kilometer pro Stunde beschleunigt und saust dann Richtung Turmspitze. Nach knapp zehn Sekunden muss sie unten wieder aufgefangen werden. Das geschieht fast zwei Stockwerke höher - in der so genannten Abbremskammer: Ein kreisrunder Raum, fast acht Meter im Durchmesser, mit dicken Stahltüren. Ralf Baur vom ZARM-Institut.

    Wenn man hier jetzt nach oben guckt, dann kann man zum Ende der Fallröhre gucken. Das sind von hier aus 119 Meter. Und wenn wir hier nach unten gucken, da ist dann der Katapulttisch, auf dem die Fallkapsel steht. Die wird dann durch das Katapultsystem nach oben geschossen, fliegt dann bis zum Ende Fallröhre, kommt dann wieder runter. Und dann wird dieser Abbremsbehälter rübergeschoben.

    Das ist eine große Tonne, rund zehn Meter hoch und dreieinhalb Meter dick. Innen drin so ausstaffiert, dass die Kapsel unbeschadet gebremst wird. Was Ralf Baur da durch seine Finger rieseln lässt, sind stecknadelkopfgroße Styroporkügelchen. Millionen davon garantieren eine weiche Landung - obwohl beim Abbremsen das 30-Fache der Erdbeschleunigung wirkt.

    Also das ist kein Problem. Wir sagen immer, wir können selbst ein Weinglas dort hineinstellen, ohne dass es kaputt geht. Durch diese Styroporkügelchen ist es so, dass das Ganze sehr sanft abgebremst wird, weil es nicht abrupt abstoppt, sondern über einen längere Strecke: Ungefähr acht Meter taucht diese Experimentierkapsel hier ein.

    Mit dem neuen Katapult dürften viele Flüge in den Weltraum überflüssig werden. Denn ein Abschuss im Fallturm kostet nur wenige Tausend Euro - ein Bruchteil dessen, was der Start einer Forschungsrakete verschlingt.