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Die wechselnden Winde

Almudena Grandes wird in Spanien von Millionen gelesen. Allerdings erfreut sie sich eher eines Publikums - als eines Kritikererfolges. In Spanien hat man für derlei Literatur den Begriff literatura light geprägt. Und dennoch werden ihre breit angelegten Familien- und Gesellschaftsroman auch in den Feuilletons angesehener überregionaler Zeitungen, wie El Pais und La Vanguardia rezensiert. Und das zu recht. Denn die Romane von Almudena Grandes sind nicht nur spannendes Lesefutter, die den Leser mit Macht in ihren Bann ziehen. Sie sind auch intelligent und erfindungsreich konzipiert und vermitteln Einblicke in verschiedene Lebensformen unserer Zeit wie vorangegangener geschichtlicher Epochen.

Cornelia Staudacher | 07.07.2003
    Auch ihr neuer Roman Die wechselnden Winde, im Original Aires dificiles, hält die Balance zwischen kluger Mitteilung und spannender Unterhaltung. Verbunden werden die einzelnen Schicksale, von denen hier berichtet wird, durch die Macht der Winde, die in Andalusien, der südlichsten Provinz Spaniens, eine außergewöhnliche Kraft und Bedeutung haben. Grandes:

    In Madrid, wo ich lebe, haben die Winde keine solche Bedeutung haben, es gibt Wind, aber er hat keine Bedeutung. Anders in Andalusien, wo der Wind vieles entscheidet. Als ich in Cadiz ankam, wunderte ich mich, wie viele Winde es hier gibt; die Menschen kennen sie alle, und ihr Einfluß auf die Realität ist groß. Cadiz verbindet das Mittelmeer mit dem Atlantik, von beiden Meeren wehen die Winde an die Küsten, und die Menschen haben augenscheinlich eine ähnliche Beziehung zu den Winden wie in die alten Griechen zu den Göttern; bei bestimmten Winden gehen sie nicht aus dem Haus. das faszinierte mich, und es reizte mich, über die Winde und ihren Einfluß das Leben der Menschen zu schreiben.

    Das Motiv des Windes dient Almudena Grandes als Klammer, verschiedene Lebensläufe miteinander zu verbinden, die auf den ersten Blick nichts miteinander gemein haben. Wie die der beiden Protagonisten des Romans Sara Gómez als auch Juan Olmedo. Unabhängig voneinander kommen sie aus Madrid in die in der Bucht von Cadiz liegende Ferienkolonie, um fortan hier in der Nähe des Meeres zu leben. Juan hat als Arzt eine Stelle in Cadiz angenommen und zieht mit seinem behinderten Bruder und seiner zehnjährigen Nichte Tamara in ein kleines Haus. Direkt gegenüber liegt das Anwesen, das Sara gerade erworben hat, um nach einer unglücklichen Liebe hier einen neuen Lebensabschnitt zu beginnen. Das Geld dafür hat sie sich auf nicht ganz rechtmäßige Weise von ihrer todkranken Pflegemutter erschlichen – eine Entschädigung für ihre "geborgte Kindheit". Denn Sara, die als sechstes Kind in einer armen Arbeiterfamilie geboren wurde, verbrachte ihre Kindheit im Hause einer wohlhabenden Madrilenin, bis zu ihrem achtzehnten Geburtstag. Von diesem Tag an mußte sie wieder bei ihrer leiblichen Familie leben, ein Schock für das junge Mädchen, den Sara ihr Leben lang nicht verwunden hat.

    Der Konflikt von Sara Gomez ist der, daß sie nie weiß, wer sie ist, und auch nie weiß, was sie zu tun hat. Noch als Erwachsene beschreibt sie sich selbst als ein Puzzle. Ihre Persönlichkeit sei ein schwieriges Rätsel, bei dem man nie die Lösung finde, denn nachdem sie sich in einer bestimmten Art Leben eingerichtet hatte, mußte sie später ein anderes führen. Der Begriff der "geborgten Kindheit" klingt zwar tragisch, aber das Leben von Sara wurde erst nach dieser "geborgten Kindheit" wirklich triste.

    Auch Juan Olmeda hat sein Päckchen zu tragen. Er trauert um den einzigen Menschen, den er geliebt hat, seine Schwägerin Charo, die bei einem Unfall ums Leben kam. Nachdem auch sein Bruder, Charos Mann, kurze Zeit später stirbt, fühlt sich Juan für deren Tochter Tamara und für seinen jüngeren Bruder Alfonso verantwortlich, der eine Sonderschule besucht und besonderer Zuwendung bedarf. Die Lebensschicksale von Sara und Juan bilden den eigentlichen Romanstoff.

    Sara und Juan sind zwei Personen, die sich durch Zufall kennenlernen, als sie in der Urbanisation ankommen; sie haben vieles gemeinsam, was sie aber nicht wissen. Sie sind beide aus Madrid, blicken beide zurück auf ein schwieriges Leben, haben viel Pech gehabt, und jeder hat auf seine Weise zu überstehen versucht und seinen Preis dafür bezahlt. Beide sind aus Madrid vor einer Situation geflohen, die für sie hätte gefährlich werden können. Beide haben gegen ihr Schicksal aufbegehrt, und die Art, sich zu rächen, hat sie in schwierige Situationen und fast an den Rand der Gesellschaft gebracht. Beide haben sich intuitiv im ersten Moment erkannt, vor allem hat Sara in Juan etwas gefunden, was ihr ähnlich ist. Sie hat erkannt, daß sie beide etwas erlebt haben, worüber sie nicht sprechen wollen.

    Es sind diese in der Vergangenheit liegenden Ereignisse, der "Ballast des Lebens", wie Almudena Grandes es nennt, die in unzähligen Rückblenden erzählt werden und den Roman ausmachen. Geschickt und mit einem erzählerischen Furor sondergleichen versteht es die Autorin, die Spannung durch immer neue Handlungselemente anzukurbeln und bis zum Ende des Romans zu halten. Almudena Grandes, die in ihren Romane stets das private Schicksal mit dem politischen Geschick ihres Landes, das Innen mit dem Außen verbindet, hält Die wechselnden Winde für den politischsten ihrer Romane. Der Generationskonflikt spielt darin eine große Rolle. Sie setzt sich mit den sexuellen, moralischen und politischen Maßstäben ihrer Generation auseinander, die die transición , den Übergang von der Diktatur in die Demokratie, als Kinder bzw. Jugendliche erlebt hat. Dabei kommt sie zu einem interessanten Ergebnis.

    Meine Generation war eine im wahrsten Sinne des Wortes verratene Generation, denn ich habe meine Jugend in einer adoleszenten Stadt, in einem adoleszenten Land verbracht. Die transicion war wie eine Pubertät für mein Land, und alle Charakteristika der Adolezenz, wie Kraft, Gefühlsintensität, Leidenschaft, Zweifel und Ungewißheit, all das gab es auch draußen in der Welt, in der ich als Jugendliche lebte. Ich glaube, daß die meisten Schriftsteller meiner Generation das Bedürfnis haben, den Faden zu unseren Großeltern aufzunehmen, uns mit unseren Großeltern zu verbinden. Spanien ist etwas Besonderes durch seine Grausamkeiten und Verbrechen. Und Aufgabe der Literatur ist es, das aufzuzeigen. 40 Jahre lang hing Spanien wie an einem dünnen Faden neben der Realität, wie ans Dach der Welt geklebt, aber abgesondert von der Wirklichkeit, die war irgendwo da unten. Wir waren völlig unbeweglich, so ans Dach geklebt. Deshalb war es für mich unglaublich wichtig, aufzudecken und zu verstehen, daß das Leben meiner Großeltern meinem Leben viel ähnlicher war als das Leben meiner Eltern. Als ich ein kleines Mädchen war, erzählte meine Großmutter, daß sie Josephine Baker in Madrid nackt tanzen sah, ich verstand das nicht, und meine Mutter, die ein braves Mädchen war, weil sie 1936 geboren wurde und nichts anderes kannte als ein Leben unter Franco, verstand nicht, wie meine Großmutter diese Freiheit gehabt haben konnte. So kam ich allmählich zu dem Schluß, daß das Leben unserer Großeltern viel mehr unserem Leben in den Siebzigern glich als das Leben unserer Eltern.

    Almudena Grandes ist 1960 in Madrid geboren. Sie studierte Geschichte und Geographie in Madrid. Schriftstellerin, sagt sie, ist sie eher durch einen Zufall geworden.

    Ich bin in eine Familie von Dichtern geboren worden, allerdings Liebhaberdichter, keine wirklichen Dichter, die veröffentlichen. Mein Vater schrieb, mein Großvater ebenso, aber veröffentlicht haben sie nie. Das tun viele Menschen in Spanien, denn die Poesie hat hier eine Bedeutung wie in kaum einem anderen Land, ist populär und bewegt die Menschen. Mein Vater hatte einen Installationsbetrieb. Aber ja, ich komme aus einer Familie, die Bücher liebte. Mein Vater und mein Großvater schrieben, weil sie so viel gelesen hatten. Und auch ich las zunächst, und dachte dann erst ich ans Schreiben, für mich war das Lesen lebensnotwendig. Ich habe vieles aus den Büchern herausgezogen. Und wenn man so viel liest, ist es logisch, daß man eines Tages zu schreiben anfängt. Mein Schreiben ist eine Konsequenz aus dem intensiven Lesen.

    Mit großem psychologischen Einfühlungsvermögen greift Almudena Grandes hinein ins volle Menschenleben und präsentiert ihre Personen im Widerstreit der Gefühle. Haß, Neid und Eifersucht kommen ebenso zu ihrem Recht wie Liebe, Güte und Vertrauen. Auch "Die wechselnden Winde" strahlt wie alle ihre "Romane der Alltäglichkeit" , wie sie sie nennt, eine beachtliche Frische, Natürlichkeit und Authentizität aus. Wie einige andere Schriftstellerinnen, deren es in Spanien erstaunlich viele gibt, wurde auch sie zunächst der feministischen Literatur zugeordnet, wogegen sie sich entschieden verwahrt.

    Ich war nie überzeugt davon, daß es eine weibliche Literatur gibt, ich glaube nicht, daß sie existiert. Selbstverständlich hat das Schreiben ein Geschlecht, denn Schreiben ist identisch mit Sehen, und jede Person sieht die Welt mit ihren Augen, und einige Aspekte in der Welt sind für Männer und Frauen nicht gleich. Aber die Literatur hat vieles mehr als ein Geschlecht. Die Welt sieht beispielsweise für einen reichen Mann und eine reiche Frau anders aus als für einen armen Mann und eine arme Frau. Insofern glaube ich, daß das Geschlecht lediglich ein weiteres Attribut der Schriftstellerei ist, wie die soziale Klasse, die familiären Verbindungen und der Geburtsort. Tatsächlich habe ich bisher Romane in der ersten Person aus weiblicher Perspektive geschrieben, allerdings mit demselben Selbstverständnis, mit dem Männer aus männlicher Perspektive schreiben, denn ich bin sicher, die Welt ist aus männlicher und weiblicher Sicht gleich vielseitig, universal. Und eine Frau, die in der ersten Person schreibt, kann das Bewußtsein der Männer ebenso beeinflussen wie ein Mann, der in der ersten Person schreibt, immer das Bewußtsein der Frauen mit beeinflusst hat. In diesem Sinne also, den man als weiblich konzidieren kann, ist das mehr eine Folge meiner Rezeption gewesen als ein Konzept oder eine Intention. Die lehne ich auch ab, sie ist albern, ich bin Frau, Madriederin, schwarzhaarig, 35 Jahre alt und ich habe Kinder, all das bin ich. Ich glaube nicht, daß es reicht, die Welt in zwei Teile zu dividieren, und ich glaube nicht, daß Männer eine spezielle Form des Denkens haben und Frauen eine besondere Form des Fühlens.

    Immer wieder ist in Berichten über Almudena Grandes‘ Bücher von der Sinnlichkeit ihrer Prosa die Rede. Gemeint ist damit wohl die sinnlich-plastische Anschaulichkeit und natürliche Empathie, mit der sie ihre Personen den Lesern präsentiert. Eine Empathie jedoch, die bei aller psychologischen Tiefenschärfe frei ist von Larmoyanz oder moralisierenden Akzenten. In ihrer zupackenden Art, mit der sie sich ihren Figuren widmet, klingt stattdessen immer auch ein Quentchen Ironie und Sarkasmus an. Geschickt und mit einem feinen Gespür dafür, was eben noch möglich ist, hält sie das Gleichgewicht zwischen Mitgefühl und Distanz und verhindert ein Abgleiten ins Kitschige und Unwahrscheinliche. Nur gelegentlich, wenn sie ihren flüssigen, der Alltagssprache angeglichenen Sprachimpetus zugunsten einer besonders ambitionierten Sprache unterbricht, schießt sie über das Ziel hinaus, wenn es etwa heißt, dass die "die von Schmutz und Verwahrlosung undefinierbar verfärbte Fassade" eines Hauses "ihre Wunden mit dem stillen Gleichmut einer Leprakranken zur Schau stellte", oder "Saras Gefühlschaos setzte ihrer Seele zu, als wäre sie eine Kugel Brotteig, eine weiche, bröselige Masse, die einem zwischen den Fingern zerkrümeln oder auf einmal hart werden konnte."

    Meist jedoch schreibt Almudena Grandes in einem flüssigen, gut lesbaren Sprachfluss, der diesen Roman zu einer geeigneten Sommerlektüre werden läßt, zumal wenn sich der Ferienort in Spanien befindet, und womöglich in einer jener Ferienanlagen wie die, in die Sara und Juan gerade eingezogen sind.