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Die Weltmaschine

Sein offizieller Start am 10. September 2008 war von einem gewaltigen Medienrummel begleitet - nicht zuletzt, weil Gegner fürchteten, dass durch ihn die Welt untergeht: den Large Hadron Collider (LHC) des Cern in Genf.

Rezension: Dagmar Röhrlich | 16.10.2011
    Nun kreist die Erde immer noch um die Sonne, und das einzige, das er zerstört, sind Elementarteilchen - und bei den ersten Probeläufen auch die eigenen Lötstellen, wodurch er große Teile seines Kühlsystems verdampfte. Erst der zweite Start ein Jahr später war wirklich erfolgreich. So rasen in einem 27 Kilometer langen Ring, rund 100 Meter unter der Erde, Protonen oder Bleikerne frontal in andere Protonen oder Bleikerne hinein - und zwar bei einer unglaublichen Geschwindigkeit: Der LHC beschleunigt die Kontrahenten in zwei Stahlröhren gegenläufig jeweils auf 99,9999991 Prozent der Lichtgeschwindigkeit. Dann erhalten sie an einem von vier Punkten die Gelegenheit, sich für die Wissenschaft zu vernichten. Im Moment des Zusammenpralls sollen für Bruchteile eines Augenblicks die Bedingungen unmittelbar nach dem Urknall herrschen.

    Obwohl der Autor Don Lincoln hauptsächlich an der Konkurrenzanlage bei Chicago arbeitet, ist er auch an den Forschungen am LHC beteiligt. Das Fermilab möge ihm verzeihen, für ihn ist der LHC derzeit das wohl spannendste Gerät überhaupt: eine "Weltmaschine", die eine neue Ära in der Physik einläuten kann. Damit möglichst viele Menschen seine Begeisterung teilen, hat er ihn und seinen wissenschaftlichen Sinn in sechs Kapiteln erklärt. Es beginnt mit "Was wir wissen". Dann folgt eine Erläuterung des Standardmodells der Elementarteilchenphysik und den Teilchenzoos, mit dem sich die Wissenschaftler auseinandersetzen. Das Kapitel "Was wir vermuten" befasst sich mit den Fragen, auf die der LHC die Antworten liefern soll. Vor allem geht es dabei um das Higgs-Boson, dessen Existenz der schottische Physiker Peter Higgs Mitte der 1960er-Jahre vorgeschlagen hatte. Es ist das einzige Teilchen des Standardmodells, das sich jedem experimentellen Nachweis widersetzt. Bislang jedenfalls. Und man kann nur mit dem Autor hoffen, dass das mit dem LHC gelingt - wobei Don Lincoln offen erklärt, dass das nicht sicher ist. Also "Daumen-drücken". Das nächste Kapitel, "Wie wir es machen", dreht sich um das Prinzip des Beschleunigers, "Wie wir etwas sehen" um die Nachweismethoden für die erzeugten Teilchen. Anschließend stehen in "Wie es anfing" die Höhen und Tiefen auf dem Programm, die die Wissenschaftler bei der Inbetriebnahme des LHC erleben durften und erleiden mussten. Schließlich handelt das letzte Kapitel "Wohin der Weg führt" um die Grenzen der Physik und gleich die nächste Generation der "Weltmaschine": den International Linear Collider (ILC), der noch Zukunftsmusik ist.

    Für Physikfans mit Vorkenntnissen ist dieses formelfreie Buch ein Vergnügen. Sie werden Don Lincoln folgen, wenn er mit Leidenschaft die großen Fragen der Teilchenphysik diskutiert: Was ist der Ursprung der Masse? Oder: Lassen sich die vier bekannten Kräfte in der Natur in einer Theorie vereinen? Bestehen die vermeintlichen Elementarteilchen doch noch aus kleineren Komponenten? Allerdings mögen diesen Fans aufgrund der zwei Jahre, die es bis zur Übersetzung gedauert hat, die neuesten Entwicklungen am LHC fehlen. Aber das können sie ja anderswo nachholen.

    Etwas anders sieht es aus, wenn man das Buch mit Blick auf Nicht-Physiker beurteilt. Laien, die ein wenig in die Teilchenphysik "hinein schnuppern" wollen, sind mit diesem Werk weniger gut beraten. Für diese Gruppe fehlt dem Autor das didaktische Geschick. Er holt sie schlicht nicht ab, kann sich nicht in sie hinein versetzen, die Hürden beim Verständnis nachvollziehen und beheben. Formellos allein reicht eben nicht.

    Don Lincoln: Die Weltmaschine. Der LHC und der Beginn einer neuen Physik
    ISBN: 978-3-827-42463-1
    Spektrum - Akademischer Verlag, 316 Seiten, 24,95 Euro