Martin Steinhage: Herr Müntefering, von Ihnen stammt der oft zitierte Satz "Opposition ist Mist." Da fragt man sich ja derzeit: Was ist denn dann die große Koalition?
Franz Müntefering: Eine Chance, eine Chance für das Land, eine Chance für die Partei aber auch – und besser als ihr Ruf in Deutschland. Wenn ich in Europa unterwegs bin, sagen alle: Es ist ja ganz ordentlich, was Ihr da macht, wie macht Ihr das, wie geht das, und Glückwunsch! Im Lande können wir jetzt mal die Depressionen so langsam hinter uns lassen, wir haben da eine ganze Menge guter Dinge geschaffen.
Steinhage: Okay, trotzdem, ich will auch nicht schwarz malen, aber die Legislaturperiode ist noch nicht einmal zur Hälfte rum, das muss man sich auch manchmal in Erinnerung rufen, und die Koalition wirkt – zumindest wirkte sie nach dem letzten Koalitionsausschuss, was man da hörte und las – ein bisschen voneinander genervt, vielleicht sogar ein bisschen ausgebrannt. Ist der Vorrat an Gemeinsamkeiten bereits aufgebraucht, hat man einiges geschafft und nun kommt nicht mehr viel?
Müntefering: Nein, der Eindruck, wenn er so gewesen sein sollte, ist falsch. Man streitet sich manchmal, man ist dann auch enttäuscht über bestimmte Dinge die gehen oder die nicht gehen, das kann man auch nicht bestreiten. Aber das ist so außergewöhnlich nicht. Nach dem Koalitionsvertrag ist noch eine Menge zu tun. Manche Dinge kommen auch neu auf die Tagesordnung. Man hat ja nicht die Chance, so eine Koalition für eine ganze Legislaturperiode im Sandkasten vorher zu planen. Da kommen neue Sachen dazu und dann muss man die auch machen. Also, ich sehe da viele Arbeitsfelder noch vor uns.
Steinhage: Und vom Binnenklima her – welchen Eindruck haben Sie? Führt Frau Merkel in ihrer Funktion als Bundeskanzlerin die Geschäfte so, wie Sie sich das wünschen, oder sehen Sie da gelegentlich als Vizekanzler auch Defizite?
Müntefering: Als Kanzlerin tut sie das, aber sie ist ja auch Parteivorsitzende der CDU, und da gibt’s einen CSU-Vorsitzenden. Also, die Union ist da ein bisschen schwieriger aufgestellt als wir. Wir sind drei Parteien in der Regierung. Das ist ganz klar, das habe ich immer behauptet, das ist lange in Zweifel gestellt worden. Das ist eine Komplikation, aber die Situation im Kabinett ist gut und in Ordnung. Und da wird abgestimmte gute Politik gemacht.
Steinhage: Bei der Diskussion über die Erbschaftssteuer kam ja der berühmt berüchtigte Satz von casus belli, der konnte ja nun noch abgewendet werden, wie man weiß. Wird in der Koalition das Kriegsbeil nun vielleicht doch noch ausgegraben, etwa im Zuge der Mindestlohn-Debatte?
Müntefering: Da gehe ich nicht von aus, nein.
Steinhage: Aber die SPD – ihr Generalsekretär Herr Heil hat es kürzlich wieder gesagt dieser Tage: Bei dem Thema will man weiter Druck machen. Und klar ist ja nun: Die Union ist zu einem gesetzlichen Mindestlohn nicht bereit, allenfalls zu branchenbezogenen Lösungen im Rahmen des Entsendegesetzes, allerdings immer nur unter der Voraussetzung, dass auch die jeweiligen Arbeitgeber im Tarifausschuss da zustimmen. Vor diesem Hintergrund: Ist da wirklich noch Bewegung möglich?
Müntefering: Ich habe ja den Auffangmindestlohn vorgeschlagen, der ja ein Kompromiss ist. Es muss jedenfalls, wenn wir die Sittenwidrigkeit von Löhnen definieren im Gesetz – und da sind wir mit dabei – eine Grenze eingezogen werden, unter die Löhne nicht sinken dürfen. Und das kann man mit dem Auffangmindestlohn machen. Das kann man machen dadurch, dass der Gesetzgeber das festlegt. Das könnte man aber auch machen, indem man eine Kommission einsetzt, wo Arbeitgeber und Arbeitnehmer in gehörigem Anteil dabei sind, so dass dann auf diese Art und Weise auf tariflichem Wege der Mindestlohn bestimmt würde. Ich bin durchaus offen für eine solche Möglichkeit. In anderen Ländern, die einen Mindestlohn haben, wird das ja auch praktiziert mit solchen Kommissionen. Und das könnten wir gerne auch so machen, daran soll es nicht scheitern. Es muss nur der Wille da sein, dass irgendwo die Grenze ist nach unten. Es kann nicht sein, dass wir in Deutschland immer mehr Löhne zahlen, die so niedrig sind, dass anschließend die Leute noch zum Arbeitsamt gehen müssen und sich einen Rest noch dazuholen. Wer ordentlich und voll arbeitet, muss sich davon auch ernähren können.
Steinhage: Also Ihr Vorschlag ist: Eine Kommission, die nicht im politischen Bereich unmittelbar angesiedelt ist, soll darüber befinden, wie Auffanglöhne gebildet werden könnten. - Vielleicht nochmal kurz zurück zum Mindestlohn, denn wenn ich das recht verstehe, soll ja der Auffanglohn überall da wirken, wo man keine branchenspezifischen Regelungen findet. Wo sehen Sie denn die Möglichkeit, dass sich die Tarifpartner vielleicht doch verständigen. Gibt es da Branchen, wo Sie Signale haben in die Richtung?
Müntefering: Ja nun, dieser Auffangmindestlohn würde schon über das ganze Feld gelten, nicht nur in den Bereichen, wo man sich nicht verständigt hat. Ich gehe davon aus, dass diese Verständigung, die im Rahmen des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes stattfindet, so hoch ist, dass sie den Mindestlohn nicht unterschreitet. Und diese Kommission, von der ich gesprochen habe, die könnte man ableiten von einem geltenden Gesetz, vom Mindestarbeitsbedingungs-Gesetz. Das sieht klar vor, wie man eine solche Situation regeln kann, und die könnte man auch aufnehmen. Und deshalb glaube ich, das Problem lässt sich lösen.
Steinhage: Haben Sie schon Signale aus der Union, ob da vielleicht was geht mit der Idee der Kommission, oder ist die sozusagen ganz neu?
Müntefering: Nein, das weiß ich nicht. Aber wir haben über dieses Gesetz - 1952 entstanden, also zur Zeit von Ludwig Erhard - gesprochen. Und wir wollen prüfen, inwieweit wir es berücksichtigen können bei der Lösung der Dinge, die wir jetzt vor uns haben. Die Frage, welche Branchen wollen noch rein – die Zeitarbeits-Branchen sind vor der Tür, die möchten, der Wachdienst-Bereich ist hoch interessiert daran, in das Arbeitnehmer-Entsendegesetz zu kommen. Und ich kann nur empfehlen, dass alle Branchen, die besonders betroffen sein werden von der Dienstleistungsrichtlinie, die tritt nämlich 2009 in Kraft, dass die in das Arbeitnehmer-Entsendegesetz gehen – zum Schutz der Arbeitnehmer, aber auch zum Schutz der Unternehmer, die sich dann da schützen können vor Lohndumping, der sonst möglicherweise aus Mittel- und Osteuropa auf uns zukommen könnte.
Steinhage: Ein Stück vorangekommen ist die Koalition zuletzt beim sogenannten Erwerbstätigenzuschuss. Die Union hat zumindest im Grundsatz ja wohl zugestimmt, dass diese Hilfe für Niedrigverdiener eingeführt wird. Können Sie da mal ganz kurz skizzieren, um was es da geht, und können Sie auch sagen – das wird ja Geld kosten – aus welchem Topf das dafür notwendige Geld kommen soll?
Müntefering: Also, die Einigung ist noch nicht komplett da, das will ich so nicht unterstellen. Aber wir werden das konkretisieren und werden das bald in der komplettierten Form vorlegen. Ziel ist, die Menschen möglichst aus dem Arbeitslosengeld II heraus zu halten oder sie wieder raus zu holen. Konkretes Beispiel: Jemand hat einen Lohn von 800 Euro, dann bekommt er einen Erwerbstätigenzuschuss von 160 Euro. Wir sagen dem, bleib draußen, gehe nicht in das Arbeitslosengeld II. Wir müssen dann auch keine Berechnungen machen nach Schonvermögen und nach Einkommensfragen, das kann alles außen vor bleiben. Wir möchten die Menschen ermutigen, aus dem Arbeitslosengeld II heraus zu bleiben. Und das kann man mit diesem Erwerbstätigenzuschuss, komplettiert mit dem Kinderzuschlag, so dass Familien mit Kindern noch mal einen zusätzlichen Impuls haben, draußen zu bleiben. Und das wäre dann so in der Kategorie zwischen 800 und 1300, da würden wir degressiv gestaffelt mit 20 Prozent beginnend eine Förderung vornehmen. Und das wäre, glaube ich, eine wichtige Sache, damit wir möglichst viele Menschen aus dem Arbeitslosengeld II heraus halten. Wir haben nämlich eine fatale Situation. Wir haben inzwischen 2,5 – 2,6 Millionen Menschen, die nicht arbeitslos sind, also mehr als 15 Stunden arbeiten, davon 600.000 volle Zeit, und trotzdem noch ergänzend Arbeitslosengeld II bekommen. Und die möchten wir Schritt für Schritt herausholen. Von wo wird es bezahlt? Meine Ideallinie ist, wir bezahlen es aus der Arbeitslosenversicherung, denn das ist die Aufgabe der Versicherung, die Menschen aus dem Arbeitslosengeld II heraus zu halten. Und ich glaube, dass das eine gute Lösung sein könnte.
Steinhage: Aber da wird die Union sagen, die ja am liebsten die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung weiter senken möchte: Lieber Herr Müntefering, nehmen Sie doch das Geld aus dem Hartz IV-Titel, da sparen Sie was.
Müntefering: Zunächst mal sparen wir nichts. Zunächst müssen wir ein Stück weiter sein. Beim Arbeitslosengeld II ist ja gerade das Problem, das ich beschrieben habe. Wir hatten im letzten Jahr 26,4 Milliarden Passivleistung, also Arbeitslosengeld II. In diesem Jahr haben wir im Haushalt 21,4, also 5 Milliarden weniger. Damit werden wir nicht ganz auskommen. Und dass wir nicht auskommen, das hängt damit zusammen, dass wir so viel zusätzlich ergänzend Arbeitslosengeld II zahlen müssen. Also, wer mir damit kommt, dem sage ich: Ja, mach mit Mindestlohn, mach mit, dafür zu sorgen, dass Löhne gezahlt werden, die dazu führen, dass wir nicht so viele Beschäftige auch noch zusätzlich mit Arbeitslosengeld II bedienen müssen. Dann kann man das finanzielle Problem lösen Da greift eins ins andere, und da gehört eins zum anderen dazu.
Steinhage: In dem ganzen Programm Niedriglohnsektor, um das Sie sich ja nun schon seit, glaube ich, reichlich eineinhalb Jahren bemühen, ist ja auch noch das Thema der Hinzuverdienmöglichkeit für Langzeitarbeitslose offen. Da geht es ja darum, wie viel Geld ein Arbeitsloser ergänzend zur staatlichen Hilfe dazuverdienen darf. Oder einfacher gesagt: Es geht um die Formel Hartz IV plus Minijob. Meinen Sie, da kommt man noch zu einer Lösung mit der Union?
Müntefering: Das glaube ich ja. Also, da sind wir relativ nah aneinander. Es soll stärker der gefördert werden, der mehr dazuverdient und weniger das, was als erstes hinzuverdient wird. Da sind wir ziemlich weit. Das hängt aber davon ab, dass wir, also die SPD; auch über 800 die Regelung haben möchten, die ich eben beschrieben habe, den Erwerbstätigenzuschuss. Für uns ist das ein Gesamtbild. Und wenn wir uns über 800 einigen, glaube ich, werden wir das unter 800 relativ schnell hinbekommen.
Steinhage: Erfreulich ist ja - wenn die Zahlen so stimmen, Sie werden sie möglicherweise gleich bestätigen -, seit fast 40 Jahren ist erstmals in Deutschland die Sockelarbeitslosigkeit gesunken, also die Zahl derer, die auch unter günstigsten Konjunkturbedingungen keine Arbeit finden. Ist das auch in diesem Segment bereits eine Trendwende, und wenn ja, worauf führen Sie das zurück?
Müntefering: Ich freue mich darüber. Es ist so, was Sie sagen. Ich bin vorsichtig damit, aber es ist klar, wir haben zum ersten Male Signale, dass das, was wir jetzt erleben am Arbeitsmarkt, nicht nur konjunkturell bestimmt ist, sondern sozusagen strukturell. Das ist der entscheidende Punkt, dass wir aus dieser Entwicklung, die ja immer in Wellen nach oben ging, herauskommen. Und das ist ein gutes Zeichen. Das hängt zusammen mit verschiedenen Dingen, unter anderem mit der Arbeitsmarktreform, die wir zum 1. Januar 2005 gemacht haben, so umstritten sie war. Aber das war eine richtige Sache, und deshalb bin ich zuversichtlich, dass wir insgesamt in diesem ganzen Wachstumsschub am Arbeitsmarkt deutliche Veränderungen hinbekommen. Und dieser Erwerbstätigenzuschuss wäre noch mal eine zusätzliche strukturelle Verbesserung.
Steinhage: Anderes Thema, wo viele Leute vielleicht auch sagen: Oh, das klingt aber gut: Es wird ja diskutiert, die Sozialabgaben könnten weiter sinken. Wie stehen sie dazu, Renten- und Arbeitslosenversicherung weiter abzusenken?
Müntefering: Vorsicht, Vorsicht, Vorsicht. Also, Rentenversicherung, das ist gar nicht von der Politik zu bestimmen, sondern wir können und müssen dann allerdings auch absenken, wenn die Rücklage mehr als 1,5 Monate beträgt.
Steinhage: Und jetzt ist sie 0,3.
Müntefering: Ja, die war Ende 98 bei drei Tage. Sie ist jetzt bei einem halben Monat. Und nach allen Zahlen, die ich habe, wird auch vor 2011 auch nichts zu machen sein. Dann kommt das allerdings auch automatisch – wenn alles gut weiter geht, muss man immer sagen. Bei der Arbeitslosenversicherung sage ich auch: Abwarten. Ich möchte, dass die auf jeden Fall durch die mittelfristige Finanzplanung, das heißt bis 2013, uns schriftlich geben können, sie brauchen keinen Zuschuss. Macht ja keinen Sinn, dass wir jetzt senken, und im über-über-übernächsten Jahr kommen die und sagen, wir brauchen wieder Geld. Die Bundesagentur hat seit 1987/88 jedes Jahr Zuschuss gebraucht. Das ist nicht deren Schuld, aber es war so, weil die Beiträge zu niedrig waren. Im letzten Jahr zum ersten Mal keinen Zuschuss. Und nun häuft sich das ein bisschen ein, und dann gehen sofort die Füllhörner auf. Und außerdem muss sie Geld haben, um der Arbeit gerecht zu werden. Und eben habe ich zum Erwerbstätigenzuschuss ja etwas gesagt. Ich glaube, dass man das Spektrum – das gilt auch für junge Menschen, für Auszubildende – der Bundesagentur sich noch einmal angucken muss und versuchen muss, mit dem Geld, das sie hat, Arbeitslosigkeit zu beseitigen. Das ist ihre erste Aufgabe.
Steinhage: Herr Müntefering, Sie haben neulich in der Bundestagsdebatte gesagt – mit Blick auf die Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik der Koalition –, insgesamt haben wir da die Note "zwei minus" verdient. Aber, so sagten sie weiter, wir können und wir müssen noch besser werden. - Wo denn zum Beispiel, wenn Sie jetzt mal Themen ganz kurz ansprechen, die wir jetzt noch nicht diskutiert haben?
Müntefering: Wir müssen dafür sorgen, dass die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft noch besser wird. Dazu gehört auch Unternehmenssteuerreform, dazu gehört Erbschaftsteuerreform, gar keine Frage. Wir müssen in öffentlichen Investitionen tatkräftiger werden. Wir müssen mit Ländern und Kommunen darüber sprechen, dass mehr investiert wird. Deutschland lebte nicht nur auf Pump, sondern auch von der Substanz. Und wir müssen mehr investieren, damit Wege und Straßen und Kanäle und Brücken und Häuser und öffentliche Einrichtungen instand gehalten werden. Ich kann mir vorstellen, wir machen ein öffentliches Programm für energetische Gebäudesanierung aller öffentlichen Gebäude, alle. Das ist ein großes Programm. Das ist vernünftig, das amortisiert sich in fünf bis zehn Jahren bei den Energiepreisen. Das gibt Arbeitsplätze vor Ort bei den Handwerkern. Und das ist für die Umwelt vernünftig. Das sind Dinge, die wir ganz konkret machen müssen.
Steinhage: Und über den unmittelbaren Bereich hinaus, den wir jetzt diskutiert haben: Wo muss die Koalition insgesamt besser werden, besser aufgestellt sein thematisch?
Müntefering: Ja, wir müssen uns klar sein darüber, dass eine Menge Dinge, die wir tun, sich nicht sofort auszahlen. Wir müssen den Mut haben, die Zukunftsfähigkeit zu unterstreichen. Wir müssen investieren in Bildung, Forschung und Technologie. Das, was wir da investieren, wird sich in dieser Legislaturperiode noch nicht auszahlen, aber in zehn Jahren, oder in zwanzig, oder in dreißig, wobei ich gar nicht sagen kann, ich kann das garantieren. Ich weiß nur eines: Wenn wir da nicht gut bleiben, wenn wir nicht wirklich sehr gut sind, dann wird der Wohlstand irgendwann in Gefahr sein. Wir müssen Hochleistungsland sein, das heißt hochqualifiziert, und damit auch Hochlohnland. Und auch deshalb bin ich so gegen diese Minilohnstrategie und die ganzen Gedanken, die dahinter liegen, weil sie von der Vorstellung ausgehen, wir könnten die Zukunft des Landes durch Billigstlöhne klären. Billigst können andere besser. Wir müssen gut sein, und deshalb auch alles investieren in die Zukunftsfähigkeit. Was muss diese Koalition machen? Wir müssen die Zuversicht in die Gestaltbarkeit der Dinge wieder tiefer in die Herzen und die Köpfe der Leute bringen.
Steinhage: Herr Müntefering, das Verhältnis der SPD zu den Gewerkschaften - das brauche ich Ihnen nicht zu sagen - ist seit längerem aus vielerlei Gründen äußerst angespannt, um das mal vorsichtig zu formulieren. Zwei Stichworte sind da als Begründung, glaube ich, hinreichend: Hartz IV und Rente ab 67. Lässt sich aus Sicht der SPD die Beziehung zu den Gewerkschaften wieder verbessern, und wie könnte das funktionieren? Was müsste da geschehen?
Müntefering: Also, das Verhältnis der SPD zu den Gewerkschaften finde ich ganz gut. Ich weiß nicht, ob das umgekehrt auch so gesehen wird, aber wir sind bereit zu guter Zusammenarbeit, weil wir schon wissen, dass wir da aufeinander angewiesen sind. Wir müssen die Dinge tun, die politisch vernünftig sind, und wir können keine Ausschnitte bedienen, sondern wir müssen das Gesamtbild sehen. Und deshalb glaube ich, so vernünftig wie das mit der Altersversorgung, mit der Rente war, so vernünftig ist der Mindestlohn, so vernünftig ist eine vernünftige Altersvorsorge durch betriebliche Vorsorge und durch Riester-Rente, so vernünftig ist ein Arbeitsschutz, eine Humanisierung der Arbeitswelt, so vernünftig ist ein Arbeitnehmerrecht und ein sicherer Kündigungsschutz. Und das sind alles Dinge, wo wir unmittelbar beieinander sind und die wir auch gemeinsam bewerkstelligen können.
Steinhage: Also sind Sie ganz zuversichtlich, dass sich die Dinge wieder ins Lot bringen lassen?
Müntefering: Nun ja, es gibt schon eine Menge Rappeleien an einigen Stellen in den vergangenen Monaten und Jahren. Aber wenn man sich einmal anguckt, wie die Entwicklung in Deutschland ist, dann muss ich sagen – und das werden die Gewerkschaften auch nicht bestreiten können –, dass die Sozialdemokraten in dieser Koalition Linie gehalten haben. Man muss sich immer vorstellen, am 18.9.2005 hätte es eine Koalition gegeben mit der FDP, CDU/CSU/FDP, und wo das Ganze hingeführt hätte. Und wer einigermaßen alle Tassen im Schrank hat, der weiß, dass das eine Sache ist, die wir machen, die das Optimale dessen hergibt, was dieser Wahltag uns ermöglicht hat. Wir haben gesagt, wir werden die Koalition nur machen, wenn die Mitbestimmung unbestritten bleibt, wenn der Kündigungsschutz bleibt, wenn das Elterngeld kommt. Das sind Punkte, die wir vorweg gesagt haben und zum Gegenstand der Überlegungen gemacht haben. Und ich finde, da können sich die Gewerkschaften auf uns verlassen, und die Arbeitnehmer ganz sicher.
Steinhage: Einer Umfrage zufolge ist über die Hälfte der SPD-Mitglieder frustriert und sagt, die Partei habe in der großen Koalition ihre Prinzipien verraten. Fast zwei Drittel plädieren für den Gang in die Opposition. Die Stimmung ist also ziemlich mies. Welche Schlüsse ziehen Sie daraus?
Müntefering: Weiter machen und besser überzeugen, ist doch ganz klar. Dass das Zweifel geben würde, das war doch klar. Ich meine, ich bin alt genug, ich habe schon mal eine große Koalition mitgemacht. Und damals habe ich einen Brief an Herbert Wehner geschrieben, er solle den Mist lassen. Und er hat es trotzdem gemacht. Er hat Recht gehabt, glaube ich heute. Und natürlich kriege ich auch heute Reaktionen von Leuten, die sagen, es wäre ganz gut, wenn man die Regierung attackieren könnte und selbst seine eigenen Vorstellungen vor sich her tragen könnte. Das ist in gewisser Weise gemütlicher, das ist schon richtig. Aber wir sind als Partei dafür da, dass wir gestalten und dass wir uns auch auf die schwierigen Prozesse einlassen, die es da gibt, also Mut machen. Ich bin bereit und mit dabei und unterwegs und helfe, und meine Erfahrung ist, wenn ich ein bisschen Zeit habe, in den Versammlungen mit den Genossinnen und Genossen, wie wir sagen, zu sprechen, dass dann auch es alles in allem eine Zustimmung gibt zu der Verantwortung, die wir haben, und auch zu der Linie unserer Politik mit Kurt Beck an der Spitze.
Steinhage: Was sagen Sie den Genossinnen und Genossen, die da jetzt laut Umfrage verlangen: Deutlich mehr soziales Profil der SPD in der großen Koalition und auch mehr Härte gegenüber CDU/CSU. Was halten sie davon?
Müntefering: Wir müssen eine Politik machen, die für die Menschen gut ist, die die Zukunftsfähigkeit beinhaltet. Und daran müssen wir uns orientieren. Wir müssen keine Umfragepolitik machen. Wer sagt, wir machen jetzt mal eine Umfrage wie man sich das so wünscht, und das machen wir so, der wird nicht unbedingt der politischen Aufgabe gerecht. Politik heißt sammeln, bei den Menschen sein, wissen, wo ihre Sorgen sind, aber auch führen, zeigen, wohin der Weg gehen kann. Dafür sind wir da. Sonst brauchten wir keine Politik. Sonst könnte man Umfragen machen bei Forsa oder so, und dann macht man das halt so, wie die das sagen. Aber unsere Aufgabe ist, aus der Situation, aus den Gegebenheiten heraus Schlüsse zu ziehen und zu sagen, wohin die Politik geht. Und ich habe meine Partei wiederholt daran erinnert, in der Geschichte der SPD war es oft so, dass wir unsere eigenen Erfolge, die eigentlichen Erfolge daraus erzeugt haben, dass wir neue Ideen und neue Bewegungen durchgesetzt haben, dass wir dann, wenn es schwierig war, nicht weg gelaufen sind, sondern dass wir voran gegangen sind. Und das müssen wir auch in Zukunft tun. Ich bin sicher, dass wir gute Gründe haben für die Politik, die wir machen, und dass das auch etwas ist für soziale Gerechtigkeit, allerdings verbunden nicht nur mit Verteilung, sondern auch mit Chancengerechtigkeit, Bildung für alle, und mit Zukunftsgerechtigkeit für die kommende Generation. Ich fühle mich da auf gutem Weg.
Steinhage: In Bremen hat es die Linkspartei erstmals in den alten Ländern geschafft, in ein Landesparlament einzuziehen. Angeblich kann sich inzwischen fast jedes zehnte SPD-Mitglied vorstellen, zur Linkspartei zu wechseln. Bei den Gewerkschaftern sind viele Genossen diesen Weg schon gegangen. Lafontaines Partei entwickelt sich doch ein wenig - oder tatsächlich - zu einer Bedrohung für die SPD. Und die offizielle Linie, so scheint es mir zumindest, lautet weiter: Einfach ignorieren. Kann das so sein?
Müntefering: Nein, es gibt ja Zusammenarbeit in Berlin, es hat Zusammenarbeit in Mecklenburg-Vorpommern gegeben, es gibt in bestimmten Städten da auch eine Zusammenarbeit. So ist das nicht. Aber diese Partei ist auf der Bundesebene nicht handlungsfähig, außenpolitisch nicht und auch, was die Gesamtverantwortung für das Land angeht, nicht. Sie hat nicht vernünftig aufgenommen die Internationalisierung der Politik, die Globalisierung. Dahinter steht immer noch die Idee, man kann seine eigene Seele und das eigene Wohl im Lande retten mit Methoden der 70er, 80er Jahre. Ich sehe keine Möglichkeit, und zwar aus inhaltlichen Gründen, auf der Bundesebene zusammen zu arbeiten. Das ist eine Art von Linkssein, die nicht zukunftsträchtig ist, sondern das ist eine nostalgische Veranstaltung, die im Wesentlichen auf rückwärts gerichtet ist. Aber ich muss registrieren, dass sie gewisse Zustimmung haben, in Ostdeutschland, im Lande insgesamt, aber ob das in anderen Ländern in Westdeutschland auch so sein wird, wird man sehen. Wir dürfen uns nicht beirren lassen, sondern müssen werben für einen Kurs der Vernunft und nicht für einen, der auf Opposition gerichtet ist. Diese Partei ist nun mal auf Opposition eingestellt und nicht darauf, Verantwortung zu tragen in dem Land, diese linke Partei.
Steinhage: Inwieweit hat die Ablehnung, vielleicht auch Ihre ganz persönliche Ablehnung der Linkspartei damit zu tun, dass an der Spitze da ein gewisser Oskar Lafontaine mitmacht?
Müntefering: Viel, das will ich nicht verdrängen. Viel.
Steinhage: Aber insgesamt, jetzt mal von der Person Lafontaine abgesehen - man muss sich vorstellen -, ich glaube seit 1990 hat es strukturell immer linke Mehrheiten bei Bundestagswahlen gegeben, zumindest keine bürgerlichen Mehrheiten. Aber die Linke, also die SPD, die Grünen und jetzt die Linkspartei, ehemals PDS, macht daraus nichts. Ist das nicht eigentlich wirklich ärgerlich aus Ihrer Perspektive?
Müntefering: Ja, anderes wäre mir lieber, das ist ganz klar. Und deshalb lade ich die Wählerinnen und Wähler ja immer auch ein, diese Partei, die Sozialdemokraten, zu wählen und nicht Leuten nachzulaufen, die sie in die Opposition führen. Alle, die etwas gestalten wollen und nicht nur gegen den Strich reden wollen und motzen wollen, die sollten, wenn sie linke Politik und linke Mitte haben wollen, der SPD ihre Stimme geben. Das ist ja die Botschaft, die wir natürlich an die Menschen haben.
Steinhage: Wie ist eigentlich Ihr Verhältnis zum Parteichef, zu Kurt Beck?
Müntefering: Das ist in Ordnung. Wir sprechen oft miteinander, jede Woche einige Male, wenn es nötig ist, auch am Telefon zwischendurch. Unsere Telefonnummer, die kennen wir. Und wir reden über alles, was uns gemeinsam da berührt. Ich bin froh, dass Kurt Beck mit solcher Entschiedenheit und Entschlossenheit die Parteiführung übernommen hat. Und ich bin sicher, dass er in Vorbereitung auf den Parteitag auch da die nächsten wichtigen Entscheidungen trifft.
Steinhage: Geht die SPD mit einem Kanzlerkandidaten Kurt Beck in die nächste Bundestagswahl?
Müntefering: Das ist seine eigene Entscheidung. Der Parteivorsitzende hat da das erste Wort. Und er hat bisher immer gesagt, es ist noch nicht an der Zeit, dort die Entscheidung zu treffen. Ich bin sicher, er macht das im richtigen Augenblick und sagt dann, was er will.
Steinhage: Und Sie würden es gut finden, wenn mit Kurt Beck jemand gegen Angela Merkel antritt, der laut Umfrage doch sehr, sehr schwach in den Werten ist?
Müntefering: Ich muss nun das Wort des Vorsitzenden da würdigen und mich selbst zurückhalten in jedweder Weise. Ich werde dem folgen, was er selbst an der Stelle vorschlägt und sagt. Und dann werden wir gemeinsam, ich irgendwo in der Etappe, aber einen guten Wahlkampf hinlegen. Da bin ich ganz sicher. Das haben wir einige Male gemacht. Ich war jetzt drei Mal dabei, dass wir ihn wieder gewonnen haben oder doch ein ordentliches Ergebnis hatten. Das werden wir 2009 auch hinkriegen. Die ganzen Geschichten, die heute erzählt werden über Umfragen, die interessieren mich nicht groß. Die Frage, wenn nächsten Sonntag Wahl wäre, was soll die? Nächsten Sonntag ist keine Wahl, den Sonntag danach auch nicht, den Sonntag danach auch nicht. Wenn Wahl wäre, wäre alles anders. Was soll ich mich da aufregen? Gucken wir mal. Wie war das 2004? Um diese Zeit hatte die Union 24 Prozent und wir 48, wir hatten fast eine absolute Mehrheit. Ja, und zum Schluss hätten wir es bald nicht geschafft.
Steinhage: Letzte Frage, Herr Müntefering. Ich habe mit einem Zitat von Ihnen begonnen, ich will auch mit einem Zitat enden. Sie haben mal gesagt, SPD-Vorsitzender ist das schönste Amt neben dem des Papstes . . .
Müntefering:... nach dem Papst ...
Steinhage: ... nach dem Papst sogar. Parteichef waren Sie schon, Bundesminister und Vizekanzler sind Sie. Papst können Sie beim besten Willen nicht werden. Was werden sie denn nach der nächsten Bundestagswahl machen? Doch wohl nicht, wie Sie eben meinten, irgendwo in der Etappe?
Müntefering: Etappe ist ganz ehrenwert. Ich bin Mannschaftsspieler. Ich muss nicht das Trikot haben mit der Nummer 10 oder 9 oder so, ich kann auch andere Trikots haben. Man wird sein Wissen einbringen. Wie das genau sein wird, weiß ich nicht. Ich bin jedenfalls gewählt bis 2009 im Bundestag, und dann gucken wir mal, was dann genau passiert, wie gesund man ist. Ich bin ja dann auch bald 70, und dann muss man nicht mehr so weit nach vorne planen. Aber ich bin auch noch nicht müde. Mal gucken, was so kommt.
Steinhage: Alles Gute und herzlichen Dank für das Gespräch.
Franz Müntefering: Eine Chance, eine Chance für das Land, eine Chance für die Partei aber auch – und besser als ihr Ruf in Deutschland. Wenn ich in Europa unterwegs bin, sagen alle: Es ist ja ganz ordentlich, was Ihr da macht, wie macht Ihr das, wie geht das, und Glückwunsch! Im Lande können wir jetzt mal die Depressionen so langsam hinter uns lassen, wir haben da eine ganze Menge guter Dinge geschaffen.
Steinhage: Okay, trotzdem, ich will auch nicht schwarz malen, aber die Legislaturperiode ist noch nicht einmal zur Hälfte rum, das muss man sich auch manchmal in Erinnerung rufen, und die Koalition wirkt – zumindest wirkte sie nach dem letzten Koalitionsausschuss, was man da hörte und las – ein bisschen voneinander genervt, vielleicht sogar ein bisschen ausgebrannt. Ist der Vorrat an Gemeinsamkeiten bereits aufgebraucht, hat man einiges geschafft und nun kommt nicht mehr viel?
Müntefering: Nein, der Eindruck, wenn er so gewesen sein sollte, ist falsch. Man streitet sich manchmal, man ist dann auch enttäuscht über bestimmte Dinge die gehen oder die nicht gehen, das kann man auch nicht bestreiten. Aber das ist so außergewöhnlich nicht. Nach dem Koalitionsvertrag ist noch eine Menge zu tun. Manche Dinge kommen auch neu auf die Tagesordnung. Man hat ja nicht die Chance, so eine Koalition für eine ganze Legislaturperiode im Sandkasten vorher zu planen. Da kommen neue Sachen dazu und dann muss man die auch machen. Also, ich sehe da viele Arbeitsfelder noch vor uns.
Steinhage: Und vom Binnenklima her – welchen Eindruck haben Sie? Führt Frau Merkel in ihrer Funktion als Bundeskanzlerin die Geschäfte so, wie Sie sich das wünschen, oder sehen Sie da gelegentlich als Vizekanzler auch Defizite?
Müntefering: Als Kanzlerin tut sie das, aber sie ist ja auch Parteivorsitzende der CDU, und da gibt’s einen CSU-Vorsitzenden. Also, die Union ist da ein bisschen schwieriger aufgestellt als wir. Wir sind drei Parteien in der Regierung. Das ist ganz klar, das habe ich immer behauptet, das ist lange in Zweifel gestellt worden. Das ist eine Komplikation, aber die Situation im Kabinett ist gut und in Ordnung. Und da wird abgestimmte gute Politik gemacht.
Steinhage: Bei der Diskussion über die Erbschaftssteuer kam ja der berühmt berüchtigte Satz von casus belli, der konnte ja nun noch abgewendet werden, wie man weiß. Wird in der Koalition das Kriegsbeil nun vielleicht doch noch ausgegraben, etwa im Zuge der Mindestlohn-Debatte?
Müntefering: Da gehe ich nicht von aus, nein.
Steinhage: Aber die SPD – ihr Generalsekretär Herr Heil hat es kürzlich wieder gesagt dieser Tage: Bei dem Thema will man weiter Druck machen. Und klar ist ja nun: Die Union ist zu einem gesetzlichen Mindestlohn nicht bereit, allenfalls zu branchenbezogenen Lösungen im Rahmen des Entsendegesetzes, allerdings immer nur unter der Voraussetzung, dass auch die jeweiligen Arbeitgeber im Tarifausschuss da zustimmen. Vor diesem Hintergrund: Ist da wirklich noch Bewegung möglich?
Müntefering: Ich habe ja den Auffangmindestlohn vorgeschlagen, der ja ein Kompromiss ist. Es muss jedenfalls, wenn wir die Sittenwidrigkeit von Löhnen definieren im Gesetz – und da sind wir mit dabei – eine Grenze eingezogen werden, unter die Löhne nicht sinken dürfen. Und das kann man mit dem Auffangmindestlohn machen. Das kann man machen dadurch, dass der Gesetzgeber das festlegt. Das könnte man aber auch machen, indem man eine Kommission einsetzt, wo Arbeitgeber und Arbeitnehmer in gehörigem Anteil dabei sind, so dass dann auf diese Art und Weise auf tariflichem Wege der Mindestlohn bestimmt würde. Ich bin durchaus offen für eine solche Möglichkeit. In anderen Ländern, die einen Mindestlohn haben, wird das ja auch praktiziert mit solchen Kommissionen. Und das könnten wir gerne auch so machen, daran soll es nicht scheitern. Es muss nur der Wille da sein, dass irgendwo die Grenze ist nach unten. Es kann nicht sein, dass wir in Deutschland immer mehr Löhne zahlen, die so niedrig sind, dass anschließend die Leute noch zum Arbeitsamt gehen müssen und sich einen Rest noch dazuholen. Wer ordentlich und voll arbeitet, muss sich davon auch ernähren können.
Steinhage: Also Ihr Vorschlag ist: Eine Kommission, die nicht im politischen Bereich unmittelbar angesiedelt ist, soll darüber befinden, wie Auffanglöhne gebildet werden könnten. - Vielleicht nochmal kurz zurück zum Mindestlohn, denn wenn ich das recht verstehe, soll ja der Auffanglohn überall da wirken, wo man keine branchenspezifischen Regelungen findet. Wo sehen Sie denn die Möglichkeit, dass sich die Tarifpartner vielleicht doch verständigen. Gibt es da Branchen, wo Sie Signale haben in die Richtung?
Müntefering: Ja nun, dieser Auffangmindestlohn würde schon über das ganze Feld gelten, nicht nur in den Bereichen, wo man sich nicht verständigt hat. Ich gehe davon aus, dass diese Verständigung, die im Rahmen des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes stattfindet, so hoch ist, dass sie den Mindestlohn nicht unterschreitet. Und diese Kommission, von der ich gesprochen habe, die könnte man ableiten von einem geltenden Gesetz, vom Mindestarbeitsbedingungs-Gesetz. Das sieht klar vor, wie man eine solche Situation regeln kann, und die könnte man auch aufnehmen. Und deshalb glaube ich, das Problem lässt sich lösen.
Steinhage: Haben Sie schon Signale aus der Union, ob da vielleicht was geht mit der Idee der Kommission, oder ist die sozusagen ganz neu?
Müntefering: Nein, das weiß ich nicht. Aber wir haben über dieses Gesetz - 1952 entstanden, also zur Zeit von Ludwig Erhard - gesprochen. Und wir wollen prüfen, inwieweit wir es berücksichtigen können bei der Lösung der Dinge, die wir jetzt vor uns haben. Die Frage, welche Branchen wollen noch rein – die Zeitarbeits-Branchen sind vor der Tür, die möchten, der Wachdienst-Bereich ist hoch interessiert daran, in das Arbeitnehmer-Entsendegesetz zu kommen. Und ich kann nur empfehlen, dass alle Branchen, die besonders betroffen sein werden von der Dienstleistungsrichtlinie, die tritt nämlich 2009 in Kraft, dass die in das Arbeitnehmer-Entsendegesetz gehen – zum Schutz der Arbeitnehmer, aber auch zum Schutz der Unternehmer, die sich dann da schützen können vor Lohndumping, der sonst möglicherweise aus Mittel- und Osteuropa auf uns zukommen könnte.
Steinhage: Ein Stück vorangekommen ist die Koalition zuletzt beim sogenannten Erwerbstätigenzuschuss. Die Union hat zumindest im Grundsatz ja wohl zugestimmt, dass diese Hilfe für Niedrigverdiener eingeführt wird. Können Sie da mal ganz kurz skizzieren, um was es da geht, und können Sie auch sagen – das wird ja Geld kosten – aus welchem Topf das dafür notwendige Geld kommen soll?
Müntefering: Also, die Einigung ist noch nicht komplett da, das will ich so nicht unterstellen. Aber wir werden das konkretisieren und werden das bald in der komplettierten Form vorlegen. Ziel ist, die Menschen möglichst aus dem Arbeitslosengeld II heraus zu halten oder sie wieder raus zu holen. Konkretes Beispiel: Jemand hat einen Lohn von 800 Euro, dann bekommt er einen Erwerbstätigenzuschuss von 160 Euro. Wir sagen dem, bleib draußen, gehe nicht in das Arbeitslosengeld II. Wir müssen dann auch keine Berechnungen machen nach Schonvermögen und nach Einkommensfragen, das kann alles außen vor bleiben. Wir möchten die Menschen ermutigen, aus dem Arbeitslosengeld II heraus zu bleiben. Und das kann man mit diesem Erwerbstätigenzuschuss, komplettiert mit dem Kinderzuschlag, so dass Familien mit Kindern noch mal einen zusätzlichen Impuls haben, draußen zu bleiben. Und das wäre dann so in der Kategorie zwischen 800 und 1300, da würden wir degressiv gestaffelt mit 20 Prozent beginnend eine Förderung vornehmen. Und das wäre, glaube ich, eine wichtige Sache, damit wir möglichst viele Menschen aus dem Arbeitslosengeld II heraus halten. Wir haben nämlich eine fatale Situation. Wir haben inzwischen 2,5 – 2,6 Millionen Menschen, die nicht arbeitslos sind, also mehr als 15 Stunden arbeiten, davon 600.000 volle Zeit, und trotzdem noch ergänzend Arbeitslosengeld II bekommen. Und die möchten wir Schritt für Schritt herausholen. Von wo wird es bezahlt? Meine Ideallinie ist, wir bezahlen es aus der Arbeitslosenversicherung, denn das ist die Aufgabe der Versicherung, die Menschen aus dem Arbeitslosengeld II heraus zu halten. Und ich glaube, dass das eine gute Lösung sein könnte.
Steinhage: Aber da wird die Union sagen, die ja am liebsten die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung weiter senken möchte: Lieber Herr Müntefering, nehmen Sie doch das Geld aus dem Hartz IV-Titel, da sparen Sie was.
Müntefering: Zunächst mal sparen wir nichts. Zunächst müssen wir ein Stück weiter sein. Beim Arbeitslosengeld II ist ja gerade das Problem, das ich beschrieben habe. Wir hatten im letzten Jahr 26,4 Milliarden Passivleistung, also Arbeitslosengeld II. In diesem Jahr haben wir im Haushalt 21,4, also 5 Milliarden weniger. Damit werden wir nicht ganz auskommen. Und dass wir nicht auskommen, das hängt damit zusammen, dass wir so viel zusätzlich ergänzend Arbeitslosengeld II zahlen müssen. Also, wer mir damit kommt, dem sage ich: Ja, mach mit Mindestlohn, mach mit, dafür zu sorgen, dass Löhne gezahlt werden, die dazu führen, dass wir nicht so viele Beschäftige auch noch zusätzlich mit Arbeitslosengeld II bedienen müssen. Dann kann man das finanzielle Problem lösen Da greift eins ins andere, und da gehört eins zum anderen dazu.
Steinhage: In dem ganzen Programm Niedriglohnsektor, um das Sie sich ja nun schon seit, glaube ich, reichlich eineinhalb Jahren bemühen, ist ja auch noch das Thema der Hinzuverdienmöglichkeit für Langzeitarbeitslose offen. Da geht es ja darum, wie viel Geld ein Arbeitsloser ergänzend zur staatlichen Hilfe dazuverdienen darf. Oder einfacher gesagt: Es geht um die Formel Hartz IV plus Minijob. Meinen Sie, da kommt man noch zu einer Lösung mit der Union?
Müntefering: Das glaube ich ja. Also, da sind wir relativ nah aneinander. Es soll stärker der gefördert werden, der mehr dazuverdient und weniger das, was als erstes hinzuverdient wird. Da sind wir ziemlich weit. Das hängt aber davon ab, dass wir, also die SPD; auch über 800 die Regelung haben möchten, die ich eben beschrieben habe, den Erwerbstätigenzuschuss. Für uns ist das ein Gesamtbild. Und wenn wir uns über 800 einigen, glaube ich, werden wir das unter 800 relativ schnell hinbekommen.
Steinhage: Erfreulich ist ja - wenn die Zahlen so stimmen, Sie werden sie möglicherweise gleich bestätigen -, seit fast 40 Jahren ist erstmals in Deutschland die Sockelarbeitslosigkeit gesunken, also die Zahl derer, die auch unter günstigsten Konjunkturbedingungen keine Arbeit finden. Ist das auch in diesem Segment bereits eine Trendwende, und wenn ja, worauf führen Sie das zurück?
Müntefering: Ich freue mich darüber. Es ist so, was Sie sagen. Ich bin vorsichtig damit, aber es ist klar, wir haben zum ersten Male Signale, dass das, was wir jetzt erleben am Arbeitsmarkt, nicht nur konjunkturell bestimmt ist, sondern sozusagen strukturell. Das ist der entscheidende Punkt, dass wir aus dieser Entwicklung, die ja immer in Wellen nach oben ging, herauskommen. Und das ist ein gutes Zeichen. Das hängt zusammen mit verschiedenen Dingen, unter anderem mit der Arbeitsmarktreform, die wir zum 1. Januar 2005 gemacht haben, so umstritten sie war. Aber das war eine richtige Sache, und deshalb bin ich zuversichtlich, dass wir insgesamt in diesem ganzen Wachstumsschub am Arbeitsmarkt deutliche Veränderungen hinbekommen. Und dieser Erwerbstätigenzuschuss wäre noch mal eine zusätzliche strukturelle Verbesserung.
Steinhage: Anderes Thema, wo viele Leute vielleicht auch sagen: Oh, das klingt aber gut: Es wird ja diskutiert, die Sozialabgaben könnten weiter sinken. Wie stehen sie dazu, Renten- und Arbeitslosenversicherung weiter abzusenken?
Müntefering: Vorsicht, Vorsicht, Vorsicht. Also, Rentenversicherung, das ist gar nicht von der Politik zu bestimmen, sondern wir können und müssen dann allerdings auch absenken, wenn die Rücklage mehr als 1,5 Monate beträgt.
Steinhage: Und jetzt ist sie 0,3.
Müntefering: Ja, die war Ende 98 bei drei Tage. Sie ist jetzt bei einem halben Monat. Und nach allen Zahlen, die ich habe, wird auch vor 2011 auch nichts zu machen sein. Dann kommt das allerdings auch automatisch – wenn alles gut weiter geht, muss man immer sagen. Bei der Arbeitslosenversicherung sage ich auch: Abwarten. Ich möchte, dass die auf jeden Fall durch die mittelfristige Finanzplanung, das heißt bis 2013, uns schriftlich geben können, sie brauchen keinen Zuschuss. Macht ja keinen Sinn, dass wir jetzt senken, und im über-über-übernächsten Jahr kommen die und sagen, wir brauchen wieder Geld. Die Bundesagentur hat seit 1987/88 jedes Jahr Zuschuss gebraucht. Das ist nicht deren Schuld, aber es war so, weil die Beiträge zu niedrig waren. Im letzten Jahr zum ersten Mal keinen Zuschuss. Und nun häuft sich das ein bisschen ein, und dann gehen sofort die Füllhörner auf. Und außerdem muss sie Geld haben, um der Arbeit gerecht zu werden. Und eben habe ich zum Erwerbstätigenzuschuss ja etwas gesagt. Ich glaube, dass man das Spektrum – das gilt auch für junge Menschen, für Auszubildende – der Bundesagentur sich noch einmal angucken muss und versuchen muss, mit dem Geld, das sie hat, Arbeitslosigkeit zu beseitigen. Das ist ihre erste Aufgabe.
Steinhage: Herr Müntefering, Sie haben neulich in der Bundestagsdebatte gesagt – mit Blick auf die Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik der Koalition –, insgesamt haben wir da die Note "zwei minus" verdient. Aber, so sagten sie weiter, wir können und wir müssen noch besser werden. - Wo denn zum Beispiel, wenn Sie jetzt mal Themen ganz kurz ansprechen, die wir jetzt noch nicht diskutiert haben?
Müntefering: Wir müssen dafür sorgen, dass die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft noch besser wird. Dazu gehört auch Unternehmenssteuerreform, dazu gehört Erbschaftsteuerreform, gar keine Frage. Wir müssen in öffentlichen Investitionen tatkräftiger werden. Wir müssen mit Ländern und Kommunen darüber sprechen, dass mehr investiert wird. Deutschland lebte nicht nur auf Pump, sondern auch von der Substanz. Und wir müssen mehr investieren, damit Wege und Straßen und Kanäle und Brücken und Häuser und öffentliche Einrichtungen instand gehalten werden. Ich kann mir vorstellen, wir machen ein öffentliches Programm für energetische Gebäudesanierung aller öffentlichen Gebäude, alle. Das ist ein großes Programm. Das ist vernünftig, das amortisiert sich in fünf bis zehn Jahren bei den Energiepreisen. Das gibt Arbeitsplätze vor Ort bei den Handwerkern. Und das ist für die Umwelt vernünftig. Das sind Dinge, die wir ganz konkret machen müssen.
Steinhage: Und über den unmittelbaren Bereich hinaus, den wir jetzt diskutiert haben: Wo muss die Koalition insgesamt besser werden, besser aufgestellt sein thematisch?
Müntefering: Ja, wir müssen uns klar sein darüber, dass eine Menge Dinge, die wir tun, sich nicht sofort auszahlen. Wir müssen den Mut haben, die Zukunftsfähigkeit zu unterstreichen. Wir müssen investieren in Bildung, Forschung und Technologie. Das, was wir da investieren, wird sich in dieser Legislaturperiode noch nicht auszahlen, aber in zehn Jahren, oder in zwanzig, oder in dreißig, wobei ich gar nicht sagen kann, ich kann das garantieren. Ich weiß nur eines: Wenn wir da nicht gut bleiben, wenn wir nicht wirklich sehr gut sind, dann wird der Wohlstand irgendwann in Gefahr sein. Wir müssen Hochleistungsland sein, das heißt hochqualifiziert, und damit auch Hochlohnland. Und auch deshalb bin ich so gegen diese Minilohnstrategie und die ganzen Gedanken, die dahinter liegen, weil sie von der Vorstellung ausgehen, wir könnten die Zukunft des Landes durch Billigstlöhne klären. Billigst können andere besser. Wir müssen gut sein, und deshalb auch alles investieren in die Zukunftsfähigkeit. Was muss diese Koalition machen? Wir müssen die Zuversicht in die Gestaltbarkeit der Dinge wieder tiefer in die Herzen und die Köpfe der Leute bringen.
Steinhage: Herr Müntefering, das Verhältnis der SPD zu den Gewerkschaften - das brauche ich Ihnen nicht zu sagen - ist seit längerem aus vielerlei Gründen äußerst angespannt, um das mal vorsichtig zu formulieren. Zwei Stichworte sind da als Begründung, glaube ich, hinreichend: Hartz IV und Rente ab 67. Lässt sich aus Sicht der SPD die Beziehung zu den Gewerkschaften wieder verbessern, und wie könnte das funktionieren? Was müsste da geschehen?
Müntefering: Also, das Verhältnis der SPD zu den Gewerkschaften finde ich ganz gut. Ich weiß nicht, ob das umgekehrt auch so gesehen wird, aber wir sind bereit zu guter Zusammenarbeit, weil wir schon wissen, dass wir da aufeinander angewiesen sind. Wir müssen die Dinge tun, die politisch vernünftig sind, und wir können keine Ausschnitte bedienen, sondern wir müssen das Gesamtbild sehen. Und deshalb glaube ich, so vernünftig wie das mit der Altersversorgung, mit der Rente war, so vernünftig ist der Mindestlohn, so vernünftig ist eine vernünftige Altersvorsorge durch betriebliche Vorsorge und durch Riester-Rente, so vernünftig ist ein Arbeitsschutz, eine Humanisierung der Arbeitswelt, so vernünftig ist ein Arbeitnehmerrecht und ein sicherer Kündigungsschutz. Und das sind alles Dinge, wo wir unmittelbar beieinander sind und die wir auch gemeinsam bewerkstelligen können.
Steinhage: Also sind Sie ganz zuversichtlich, dass sich die Dinge wieder ins Lot bringen lassen?
Müntefering: Nun ja, es gibt schon eine Menge Rappeleien an einigen Stellen in den vergangenen Monaten und Jahren. Aber wenn man sich einmal anguckt, wie die Entwicklung in Deutschland ist, dann muss ich sagen – und das werden die Gewerkschaften auch nicht bestreiten können –, dass die Sozialdemokraten in dieser Koalition Linie gehalten haben. Man muss sich immer vorstellen, am 18.9.2005 hätte es eine Koalition gegeben mit der FDP, CDU/CSU/FDP, und wo das Ganze hingeführt hätte. Und wer einigermaßen alle Tassen im Schrank hat, der weiß, dass das eine Sache ist, die wir machen, die das Optimale dessen hergibt, was dieser Wahltag uns ermöglicht hat. Wir haben gesagt, wir werden die Koalition nur machen, wenn die Mitbestimmung unbestritten bleibt, wenn der Kündigungsschutz bleibt, wenn das Elterngeld kommt. Das sind Punkte, die wir vorweg gesagt haben und zum Gegenstand der Überlegungen gemacht haben. Und ich finde, da können sich die Gewerkschaften auf uns verlassen, und die Arbeitnehmer ganz sicher.
Steinhage: Einer Umfrage zufolge ist über die Hälfte der SPD-Mitglieder frustriert und sagt, die Partei habe in der großen Koalition ihre Prinzipien verraten. Fast zwei Drittel plädieren für den Gang in die Opposition. Die Stimmung ist also ziemlich mies. Welche Schlüsse ziehen Sie daraus?
Müntefering: Weiter machen und besser überzeugen, ist doch ganz klar. Dass das Zweifel geben würde, das war doch klar. Ich meine, ich bin alt genug, ich habe schon mal eine große Koalition mitgemacht. Und damals habe ich einen Brief an Herbert Wehner geschrieben, er solle den Mist lassen. Und er hat es trotzdem gemacht. Er hat Recht gehabt, glaube ich heute. Und natürlich kriege ich auch heute Reaktionen von Leuten, die sagen, es wäre ganz gut, wenn man die Regierung attackieren könnte und selbst seine eigenen Vorstellungen vor sich her tragen könnte. Das ist in gewisser Weise gemütlicher, das ist schon richtig. Aber wir sind als Partei dafür da, dass wir gestalten und dass wir uns auch auf die schwierigen Prozesse einlassen, die es da gibt, also Mut machen. Ich bin bereit und mit dabei und unterwegs und helfe, und meine Erfahrung ist, wenn ich ein bisschen Zeit habe, in den Versammlungen mit den Genossinnen und Genossen, wie wir sagen, zu sprechen, dass dann auch es alles in allem eine Zustimmung gibt zu der Verantwortung, die wir haben, und auch zu der Linie unserer Politik mit Kurt Beck an der Spitze.
Steinhage: Was sagen Sie den Genossinnen und Genossen, die da jetzt laut Umfrage verlangen: Deutlich mehr soziales Profil der SPD in der großen Koalition und auch mehr Härte gegenüber CDU/CSU. Was halten sie davon?
Müntefering: Wir müssen eine Politik machen, die für die Menschen gut ist, die die Zukunftsfähigkeit beinhaltet. Und daran müssen wir uns orientieren. Wir müssen keine Umfragepolitik machen. Wer sagt, wir machen jetzt mal eine Umfrage wie man sich das so wünscht, und das machen wir so, der wird nicht unbedingt der politischen Aufgabe gerecht. Politik heißt sammeln, bei den Menschen sein, wissen, wo ihre Sorgen sind, aber auch führen, zeigen, wohin der Weg gehen kann. Dafür sind wir da. Sonst brauchten wir keine Politik. Sonst könnte man Umfragen machen bei Forsa oder so, und dann macht man das halt so, wie die das sagen. Aber unsere Aufgabe ist, aus der Situation, aus den Gegebenheiten heraus Schlüsse zu ziehen und zu sagen, wohin die Politik geht. Und ich habe meine Partei wiederholt daran erinnert, in der Geschichte der SPD war es oft so, dass wir unsere eigenen Erfolge, die eigentlichen Erfolge daraus erzeugt haben, dass wir neue Ideen und neue Bewegungen durchgesetzt haben, dass wir dann, wenn es schwierig war, nicht weg gelaufen sind, sondern dass wir voran gegangen sind. Und das müssen wir auch in Zukunft tun. Ich bin sicher, dass wir gute Gründe haben für die Politik, die wir machen, und dass das auch etwas ist für soziale Gerechtigkeit, allerdings verbunden nicht nur mit Verteilung, sondern auch mit Chancengerechtigkeit, Bildung für alle, und mit Zukunftsgerechtigkeit für die kommende Generation. Ich fühle mich da auf gutem Weg.
Steinhage: In Bremen hat es die Linkspartei erstmals in den alten Ländern geschafft, in ein Landesparlament einzuziehen. Angeblich kann sich inzwischen fast jedes zehnte SPD-Mitglied vorstellen, zur Linkspartei zu wechseln. Bei den Gewerkschaftern sind viele Genossen diesen Weg schon gegangen. Lafontaines Partei entwickelt sich doch ein wenig - oder tatsächlich - zu einer Bedrohung für die SPD. Und die offizielle Linie, so scheint es mir zumindest, lautet weiter: Einfach ignorieren. Kann das so sein?
Müntefering: Nein, es gibt ja Zusammenarbeit in Berlin, es hat Zusammenarbeit in Mecklenburg-Vorpommern gegeben, es gibt in bestimmten Städten da auch eine Zusammenarbeit. So ist das nicht. Aber diese Partei ist auf der Bundesebene nicht handlungsfähig, außenpolitisch nicht und auch, was die Gesamtverantwortung für das Land angeht, nicht. Sie hat nicht vernünftig aufgenommen die Internationalisierung der Politik, die Globalisierung. Dahinter steht immer noch die Idee, man kann seine eigene Seele und das eigene Wohl im Lande retten mit Methoden der 70er, 80er Jahre. Ich sehe keine Möglichkeit, und zwar aus inhaltlichen Gründen, auf der Bundesebene zusammen zu arbeiten. Das ist eine Art von Linkssein, die nicht zukunftsträchtig ist, sondern das ist eine nostalgische Veranstaltung, die im Wesentlichen auf rückwärts gerichtet ist. Aber ich muss registrieren, dass sie gewisse Zustimmung haben, in Ostdeutschland, im Lande insgesamt, aber ob das in anderen Ländern in Westdeutschland auch so sein wird, wird man sehen. Wir dürfen uns nicht beirren lassen, sondern müssen werben für einen Kurs der Vernunft und nicht für einen, der auf Opposition gerichtet ist. Diese Partei ist nun mal auf Opposition eingestellt und nicht darauf, Verantwortung zu tragen in dem Land, diese linke Partei.
Steinhage: Inwieweit hat die Ablehnung, vielleicht auch Ihre ganz persönliche Ablehnung der Linkspartei damit zu tun, dass an der Spitze da ein gewisser Oskar Lafontaine mitmacht?
Müntefering: Viel, das will ich nicht verdrängen. Viel.
Steinhage: Aber insgesamt, jetzt mal von der Person Lafontaine abgesehen - man muss sich vorstellen -, ich glaube seit 1990 hat es strukturell immer linke Mehrheiten bei Bundestagswahlen gegeben, zumindest keine bürgerlichen Mehrheiten. Aber die Linke, also die SPD, die Grünen und jetzt die Linkspartei, ehemals PDS, macht daraus nichts. Ist das nicht eigentlich wirklich ärgerlich aus Ihrer Perspektive?
Müntefering: Ja, anderes wäre mir lieber, das ist ganz klar. Und deshalb lade ich die Wählerinnen und Wähler ja immer auch ein, diese Partei, die Sozialdemokraten, zu wählen und nicht Leuten nachzulaufen, die sie in die Opposition führen. Alle, die etwas gestalten wollen und nicht nur gegen den Strich reden wollen und motzen wollen, die sollten, wenn sie linke Politik und linke Mitte haben wollen, der SPD ihre Stimme geben. Das ist ja die Botschaft, die wir natürlich an die Menschen haben.
Steinhage: Wie ist eigentlich Ihr Verhältnis zum Parteichef, zu Kurt Beck?
Müntefering: Das ist in Ordnung. Wir sprechen oft miteinander, jede Woche einige Male, wenn es nötig ist, auch am Telefon zwischendurch. Unsere Telefonnummer, die kennen wir. Und wir reden über alles, was uns gemeinsam da berührt. Ich bin froh, dass Kurt Beck mit solcher Entschiedenheit und Entschlossenheit die Parteiführung übernommen hat. Und ich bin sicher, dass er in Vorbereitung auf den Parteitag auch da die nächsten wichtigen Entscheidungen trifft.
Steinhage: Geht die SPD mit einem Kanzlerkandidaten Kurt Beck in die nächste Bundestagswahl?
Müntefering: Das ist seine eigene Entscheidung. Der Parteivorsitzende hat da das erste Wort. Und er hat bisher immer gesagt, es ist noch nicht an der Zeit, dort die Entscheidung zu treffen. Ich bin sicher, er macht das im richtigen Augenblick und sagt dann, was er will.
Steinhage: Und Sie würden es gut finden, wenn mit Kurt Beck jemand gegen Angela Merkel antritt, der laut Umfrage doch sehr, sehr schwach in den Werten ist?
Müntefering: Ich muss nun das Wort des Vorsitzenden da würdigen und mich selbst zurückhalten in jedweder Weise. Ich werde dem folgen, was er selbst an der Stelle vorschlägt und sagt. Und dann werden wir gemeinsam, ich irgendwo in der Etappe, aber einen guten Wahlkampf hinlegen. Da bin ich ganz sicher. Das haben wir einige Male gemacht. Ich war jetzt drei Mal dabei, dass wir ihn wieder gewonnen haben oder doch ein ordentliches Ergebnis hatten. Das werden wir 2009 auch hinkriegen. Die ganzen Geschichten, die heute erzählt werden über Umfragen, die interessieren mich nicht groß. Die Frage, wenn nächsten Sonntag Wahl wäre, was soll die? Nächsten Sonntag ist keine Wahl, den Sonntag danach auch nicht, den Sonntag danach auch nicht. Wenn Wahl wäre, wäre alles anders. Was soll ich mich da aufregen? Gucken wir mal. Wie war das 2004? Um diese Zeit hatte die Union 24 Prozent und wir 48, wir hatten fast eine absolute Mehrheit. Ja, und zum Schluss hätten wir es bald nicht geschafft.
Steinhage: Letzte Frage, Herr Müntefering. Ich habe mit einem Zitat von Ihnen begonnen, ich will auch mit einem Zitat enden. Sie haben mal gesagt, SPD-Vorsitzender ist das schönste Amt neben dem des Papstes . . .
Müntefering:... nach dem Papst ...
Steinhage: ... nach dem Papst sogar. Parteichef waren Sie schon, Bundesminister und Vizekanzler sind Sie. Papst können Sie beim besten Willen nicht werden. Was werden sie denn nach der nächsten Bundestagswahl machen? Doch wohl nicht, wie Sie eben meinten, irgendwo in der Etappe?
Müntefering: Etappe ist ganz ehrenwert. Ich bin Mannschaftsspieler. Ich muss nicht das Trikot haben mit der Nummer 10 oder 9 oder so, ich kann auch andere Trikots haben. Man wird sein Wissen einbringen. Wie das genau sein wird, weiß ich nicht. Ich bin jedenfalls gewählt bis 2009 im Bundestag, und dann gucken wir mal, was dann genau passiert, wie gesund man ist. Ich bin ja dann auch bald 70, und dann muss man nicht mehr so weit nach vorne planen. Aber ich bin auch noch nicht müde. Mal gucken, was so kommt.
Steinhage: Alles Gute und herzlichen Dank für das Gespräch.