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Dietmar Bartsch
"Das Grundrecht auf Asyl kennt keine Obergrenze"

Die Debatte über eine Begrenzung der Flüchtlingszahlen sei eine "Gespensterdiskussion", sagte Linken-Fraktionschef Dietmar Bartsch im Deutschlandfunk. "Keine Mauer und kein Stacheldraht wird die Flüchtlinge abhalten". Die Vorstellung, dass weniger Flüchtlinge kämen, wenn sie künftig Sach- statt Geldleistungen erhielten, nannte Bartsch "absurd".

Dietmar Bartsch im Gespräch mit Gerhard Schröder | 18.10.2015
    Dietmar Bartsch, Vorsitzender der Linksfraktion im Deutschen Bundestag
    Dietmar Bartsch: "Wenn wir jetzt Waffen nach Saudi-Arabien exportieren und dort Krieg gegen Jemen geführt wird, werden wir in einem Jahr Flüchtlingsströme von dort erleben." (Müller-Stauffenberg / imago)
    Gerhard Schröder: Herr Bartsch, Bundestag und Bundesrat haben am vergangenen Freitag ein umfangreiches Gesetzespaket zur Asylpolitik verabschiedet. Die Kernbotschaft lautet: schnellere Asylverfahren, bessere Integration der Flüchtlinge und – auch nicht unwichtig – viel mehr Geld für Länder, Städte und Gemeinden, damit sie diese Aufgabe schultern können. Stimmt damit die Grundrichtung in der Flüchtlingspolitik?
    Dietmar Bartsch: Wenn denn diese Überschriften auch den Inhalt des Paketes ausmachen würden, dann wäre das sicherlich so. Aber die Praxis ist ja doch deutlich differenzierter.
    Schröder: Wo hakt es denn?
    Bartsch: Es gibt kein Land, was etwa sagt: 'Ja, wir wären mit der finanziellen Ausstattung jetzt zufrieden', es gibt auch kaum eine Kommune. Es gibt jetzt eine Regelung – das ist wahr –, aber damit wird nur ein Teil der Kosten letztlich getragen. Für die Länder ist es weiterhin finanziell eine große Belastung und noch mehr für die Kommunen.
    Schröder: Wovon gehen Sie denn aus? Wie viel brauchen Länder und Gemeinden wirklich?
    Bartsch: Eine Summe zu benennen, wäre einfach unseriös. Wir haben ein Verfahren vorgeschlagen, dass der Bund alle Kosten bis zu einer Entscheidung übernimmt. Das wäre sinnvoll, dass diejenigen, die dann nicht hier bleiben können, gehen müssen und dass dann alle Kosten übernommen werden; genauso für diejenigen, die hier bleiben. Das wäre ein richtiges Verfahren. Und vor allen Dingen müssen natürlich strukturell Dinge verändert werden. Ich gehe im Übrigen davon aus, dass wir im Rahmen der Haushaltsberatung, die ja jetzt auf der Bundesebene anstehen, dort auch noch Veränderungen vornehmen. Aber, das will ich dann schon erwähnen: Ja, es muss eine Beschleunigung der Verfahren geben; ja, das BAMF (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge) wird besser ausgestattet werden, es wird dezentraler sein, es wird schneller agieren können. Aber, wenn man gleichzeitig Länder zu sicheren Drittstaaten erklärt, wo erwiesenermaßen kein Effekt entsteht, ist das ein Problem, wenn es so ist, dass de facto das Asylrecht beschnitten wird. Das ist doch der Kern. Im Gegensatz zu dem, was die Kanzlerin sagt, ein freundliches Gesicht zu zeigen, machen wir hier etwas anderes. Das ist das Kernproblem. Deswegen hat die Linke geschlossen, als einzige Partei im Deutschen Bundestag, dagegen gestimmt. Und die Länder, wo wir Regierungsverantwortung tragen, haben nicht zugestimmt. Ich finde es auch ein gutes Zeichen, dass es eine Partei gibt, die sich dieser Politik nicht anschließt.
    Schröder: Wo konkret sehen Sie denn Nachholbedarf? Mehr Geld für Länder und Gemeinden ist das Eine, aber zum Anderen ist ja auch die Frage: Wie viel Flüchtlinge können wir tatsächlich aufnehmen? Horst Seehofer, der bayerische Ministerpräsident, sagt da: 'Das ist das Kernproblem. Wenn es uns nicht gelingt, die Zahl der Flüchtlinge zu begrenzen, dann scheitert Deutschland, dann scheitert Europa'. Hat er damit nicht Recht?
    Bartsch: Niemand kann sagen: Alle sollen hierher kommen. Diese Position hat auch keiner. Aber das, was jetzt gemacht wird, eine Debatte über Zahlen, ist schlicht grundgesetzwidrig. Wir haben in dieser Woche im Deutschen Bundestag mehrfach betont, dass wir bereit sind, Frau Merkel zu verteidigen gegen die radikalen Positionen in ihrer Partei. Das geht so nicht. Das Grundrecht auf Asyl kennt keine Obergrenze. Wenn, dann ist unsere Verantwortung, endlich dafür zu sorgen, dass nicht massenhaft Menschen hierher kommen. Dass sie hierher kommen, liegt in unserer Verantwortung. Wir exportieren Rüstungsgüter und auch Soldaten, und Menschen kommen dann hierher. Wir sollten aber etwas dafür tun, dass vor Ort die Probleme endlich gelöst werden können.
    Flüchtlinge an der serbisch-mazedonischen Grenze in Preševo (Serbien)
    Flüchtlinge an der serbisch-mazedonischen Grenze in Preševo (Serbien) (Imago)
    "Die Flüchtlinge sind die Botschafter des Elends dieser Welt"
    Schröder: Das heißt, die Fluchtursachen bekämpfen – das wollen ja alle –, aber die konkrete Frage, die konkreten Probleme, vor denen jetzt Städte und Gemeinden stehen ist, wie sollen sie diese Flüchtlinge alle unterbringen? Es kommen täglich Tausende – in diesem Jahr wahrscheinlich 800.000, vielleicht über eine Million. Wie sollen die Städte und Gemeinden das schultern?
    Bartsch: Ich will noch mal darauf verweisen: Die Flüchtlinge sind die Botschafter der Kriege und des Elends dieser Welt. Und wenn wir, wie zum Beispiel jetzt, Waffen nach Saudi-Arabien exportieren, dort Krieg gegen Jemen geführt wird, werden wir in einem Jahr Flüchtlingsströme aus Jemen erleben. Da müssen wir zu allererst ansetzen, weil wir ansonsten ... Es lässt sich kein Wasserhahn abdrehen oder es lässt sich ein Wasserhahn abdrehen, aber nicht der Flüchtlingszustrom. Und keine Mauer und kein Stacheldraht wird die Flüchtlinge abhalten. Das ist doch eine absurde Vorstellung zu meinen, dass wenn man sagt: Es gibt Sachleistungen und nicht mehr Geldleistungen, dass dann die Flüchtlinge weniger werden. Ich war in vielen Flüchtlingslagern, unter anderem in dem größten in Jordanien, über 80.000 Menschen. Denen ist das völlig egal, ob es in Deutschland Geld oder Sachleistungen gibt, denen ist im Übrigen auch egal, wie hoch die Mauern sind, die wollen da – viele – nur noch weg. Dadurch, dass die durch die Wüste gehen müssten, kommen sie nicht. Aber ich habe auch christliche Flüchtlingslager in Erbil gesehen: katastrophale Situation. Und wir, wir müssen dafür sorgen, dass zumindest die Versorgung in den Lagern so gut ist, dass sie dort bleiben können. Aber die kuriose Situation ist so, dass auf der Welt 1.500 Milliarden für Rüstung ausgegeben werden und in den Lagern die Essensrationen halbiert werden. Das hat zunächst mal für den Bürgermeister und den Landrat eine rhetorische und auch eine reale Bedeutung: Langfristig konkret sind Aufgaben zu lösen. Und ich bin in engem Kontakt mit all unseren Landräten, mit all unseren Oberbürgermeistern, die die gleiche Probleme haben, wie die der CDU, der SPD. In meinem Wahlkreis sind drei Erstaufnahmeeinrichtungen.
    Schröder: Die sagen, die werden Ihnen sagen: Wir brauchen jetzt Lösungen! Und das heißt letztlich auch die Frage: Grenzen offen, alle dürfen kommen oder müssen wir daran arbeiten, die Zahl der Flüchtlinge zu vermindern?
    Bartsch: Noch mal: Dafür bin ich, aber nicht durch Mauern – das wird auch nicht realisierbar sein. Keine einzige Mauer, kein einziger Stacheldraht wird sie abhalten. Das ist eine Gespenster-Diskussion, die geführt wird. Soll denn am Ende des Tages wirklich an der Grenze geschossen werden, um sie abzuhalten? Das kann nicht sein! Viele haben dafür gekämpft, dass in Europa Mauern und Stacheldraht fallen – und jetzt gibt es eine Regierungspartei, die hofiert denjenigen, der neue Mauern aufgebaut hat. Herr Orbán ist bei der CSU bei der Klausur – das finde ich skandalös. Nein, hier ist eine Haltung gefragt. Hier gibt es Riesenaufgaben. Wir können sie bewältigen. Die Aufgabe der Politik ist jedoch, vor allem dafür Sorge zu tragen, dass nicht die Schwächeren in der Gesellschaft von diesen Flüchtlingsströmen sich bedroht fühlen. Denn wenn der Oberbürgermeister/die Oberbürgermeisterin entscheiden muss: Schwimmbad oder ordentliche Versorgung der Flüchtlinge, sind die – egal mit welchem Parteibuch – in einer schwierigen Situation. In unserem Land ist aber genügend Geld da.
    Schröder: Aber die, die keine Aussicht auf ein Bleiberecht hier haben, macht das nicht Sinn, da die Asylverfahren zu beschleunigen, dafür zu sorgen, dass schneller Klarheit herrscht, ob sie hierbleiben können?
    Bartsch: Ja, selbstverständlich. Schauen Sie, die große Koalition hat in ihrem Koalitionsvertrag festgeschrieben, dass die Verfahren drei Monate dauern sollen – das ist ihr Regierungsziel. Wir sind davon weit weg. Wir sind irgendwo knapp unter sechs Monaten. Es gibt Länder, da ist der Durchschnitt bei 15 Monaten. Es gibt auch welche, wo wir unter drei sind, zum Beispiel bei den Balkanländern. Aber das ist eine Aufgabe, die realisiert werden muss. Ich bin da durchaus zuversichtlich, weil ich Herrn Weise als Chef der BA (Bundesagentur für Arbeit) sehr gut kenne, dass der jetzt bei der Organisation des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge ist und vor allen Dingen den Folgen, denn das ist ja der erste Schritt. Der nächste muss jetzt konsequent angegangen werden, nämlich die Integration der Menschen, die hierher kommen. Und da werbe ich dafür, dass wir das vor allen Dingen als Chance sehen, als Chance sehen für Deutschland. Und wir werden – da bin ich ganz sicher – in zehn Jahren einen Schub haben, wenn die Politik die richtigen Weichen stellt, mit den Menschen, die zu uns gekommen sind. Das ist, glaube ich, ein Herangehen, was viel besser ist als diese unsägliche Diskussion 'Schaffen wir das, schaffen wir das nicht?' Natürlich, wir haben überhaupt keine Alternative. Die Menschen kommen und zwar völlig egal, Herr Seehofer kann noch lauter werden. Ich bin auch dafür, dass es rechtsstaatliche, ordentliche Verfahren gibt - dass die Menschen, die hierher kommen, ordentlich registriert werden, eine entsprechende Registrierung bekommen in Form einer Karte, eines Ausweises oder was auch immer. Das wäre sinnvoll, damit ordentliche Verfahren ablaufen können.
    Der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) spricht am 13.09.2015 in der Staatskanzlei in München (Bayern) auf einer Pressekonferenz nach einer Sondersitzung des bayerischen Kabinetts zur Flüchtlingslage.
    Der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU). (picture alliance / dpa / Andreas Gebert)
    Schröder: Aus dem Wort der Kanzlerin "Wir schaffen das" ist inzwischen geworden: Wir schaffen das nicht allein, wir brauchen eine europäische Lösung, alle müssen da mithelfen. Nun sehen wir aber auch, viele Länder weigern sich, Flüchtlinge aufzunehmen, speziell osteuropäische Länder. Versagt Europa in dieser Frage?
    Bartsch: Der aktuelle Stand ist so, dass Europa versagt. Bei dieser so schwierigen Frage, bei dieser Chance für Europa ist es so, dass es nur gemeinsam geht. Und wir sehen, dass es hier aktuell ein Versagen gibt. Da bin ich deutlich dafür, dass man auch Druck ausübt. Es kann nicht sein, dass ein slowakischer Ministerpräsident sagt: "Wir nehmen nur Christen". Es kann nicht sein, dass Länder sich verweigern. Europa ist ein so großes kulturelles und soziales Projekt, da sind wir auch gefordert als Deutschland, Führung in einem positiven Sinne zu zeigen.
    "Es kann sich kein europäisches Land verweigern. Das ist unsolidarisch"
    Schröder: Druck auf andere Ländern inwiefern? Wie kann der ausgeübt werden?
    Bartsch: Natürlich, es gibt doch nicht wenige Möglichkeiten, auf dieser Ebene zu agieren. Und das sollten wir tun. Sehr, sehr nachdrücklich, weil es kann sich kein europäisches Land verweigern. Das ist unsolidarisch und das macht eigentlich den europäischen Gedanken kaputt. Hier entscheidet sich wirklich Europa nicht an der Frage des Euros, sondern hier entscheidet sich, ob Europa das zivilisatorische Projekt ist, das humanistische Projekt ist. Und da ist im Moment offensichtlich viel Zweifel angesagt.
    Schröder: Die Europäische Union hat auf dem Gipfel am vergangenen Donnerstag beschlossen, enger mit der Türkei zu kooperieren, zusammen zu arbeiten. Wobei das Kalkül lautet: Die Türkei bekommt Geld und auch politische Zugeständnisse, im Gegenzug sorgt dann Ankara dafür, dass weniger Flüchtlinge hierhin kommen. Ist das eine Rechnung, die aufgehen kann?
    Bartsch: Ich sehe es als sehr problematisch an, hier mit Herrn Erdogan Handel zu machen. Ja, die Türkei hat fast zwei Millionen Flüchtlinge. Ja, die Türkei leistet dort auch sehr viel. Aber wenn nunmehr mit den Flüchtlingen Spiele gespielt werden: 'Ich schicke euch ein paar, wenn ihr mir kein Geld gebt', dann ist das nicht akzeptabel. Ich finde überhaupt, dass das Agieren im Moment, so wenige Tage vor der Wahl in der Türkei, höchst problematisch ist. Das ist de facto Wahlunterstützung für Herrn Erdogan. Dort hat es diverse terroristische Anschläge gegeben. Die HDP, unsere Schwesterpartei, wird dort verfolgt. Das ist wirklich nicht akzeptabel, ihn noch letztlich zu hofieren. Die Türkei war über Jahre ein Transitland des Terrorismus, hat den IS befördert, hat vieles gemacht, was zur Destabilisierung des Nahen Ostens beigetragen hat. Und jetzt, jetzt zu sagen: 'Wir kaufen uns die Begrenzung der Flüchtlinge', ist der falsche Weg. Man muss mit der Türkei reden, aber nicht auf die Art und Weise, wie das jetzt läuft.
    Linken-Fraktionschef Dietmar Bartsch an einem Mikrofon.
    Linken-Fraktionschef Dietmar Bartsch im Interview der Woche. (Foto: Deutschlandfunk / Ansgar Rossi)
    Schröder: Nun fährt die Bundeskanzlerin an diesem Sonntag in die Türkei, um mit Erdogan zu sprechen. Was erwarten Sie von diesen Gesprächen?
    Bartsch: Sie hat im Deutschen Bundestag in dieser Woche angekündigt, dass sie dort Klartext reden wird – das ist das Mindeste, was ich erwarte. Ich finde den Besuch am heutigen Sonntag falsch, weil sehr zeitnah – am 1. November – dort gewählt wird. Und es wird selbstverständlich für die AKP eine Wahlkampfhilfe sein. Das finde ich nicht akzeptabel. Da hätte Frau Merkel auch noch 14 Tage warten können. Ich bin für Dialog, aber ich bin nicht für indirekte Wahlkampfhilfe. Das kritisiere ich; das hätte man auch 14 Tage später tun können.
    "Seehofer läuft den Parolen der AfD hinterher"
    Schröder: Das Interview der Woche mit Dietmar Bartsch, dem Fraktionsvorsitzenden der Linkspartei im Deutschen Bundestag. Herr Bartsch, wir haben über die Belastungen für Städte und Gemeinden, die durch die ankommenden Flüchtlinge auf sie zukommen, gesprochen. Gleichzeitig sehen wir die Stimmung auch in der Bevölkerung, sie kippt oder ist dabei zu kippen. Wir registrieren zunehmende Angriffe auf Flüchtlinge, auf Flüchtlingsunterkünfte. Rechte Gruppierungen machen sich das Thema zunutze und mobilisieren. Wie gefährlich ist diese Entwicklung, sind auch diese Ressentiments, die gegen Ausländer sichtbar werden?
    Bartsch: Meine Auffassung ist die, dass wir als Politiker eine Verantwortung haben und insbesondere über die Chancen reden sollten und vor allen Dingen unseren Beitrag leisten sollten, dass wir das als Chance wahrnehmen können. Wenn wir jetzt wirklich Investitionsprogramme auflegen würden, die die Struktur in den Städten und Gemeinden, die Infrastruktur, aber auch das Thema "Wohnen" in anderer Weise angeht, dann wird man erkennen, dass dort sogar eine Chance liegt. Das ist das richtige Herangehen. Ich sehe – ja, leider – mit einer gewissen Trauer, dass rechte Parteien dort Nutzen ziehen können. Ich sehe, dass es einige Anschläge mehr gibt. Aber auch dort ist erstens die volle Härte des Gesetzes gefordert, b) ist aber weiterhin eine Haltung gefordert. Denn wir werden das nicht ... das macht doch Herr Seehofer: Er läuft den Parolen der AfD hinterher und das Ergebnis ist, dass die AfD in Bayern auch kurz vor zweistellig steht. Das ist offensichtlich der falsche Weg. Nein, hier ist klare Kante diesen Positionen gegenüber gefordert. Deutschland braucht keinen Rassismus. Deutschland ist ein Land nicht nur wegen der Traditionen, sondern wegen unserer Verfassung, dass Flüchtlinge, die in Not sind, wirklich auch beherbergt.
    Schröder: Das betrifft ja auch durchaus die Linkspartei. Bei den letzten Landtagswahlen in Ostdeutschland haben Sie viele Wähler an die AfD verloren.
    Bartsch: Also, wir haben, um die letzte Landtagswahl zu nehmen, in Thüringen 28 Prozent erzielt. Da gab es auch, weil die AfD eine Neugründung ist, ein paar Wählerwanderungen in diese Richtung. Ja, das kann es geben, die kommt aus allen Parteien, und trotzdem: Wer versucht, diesen Positionen nachzulaufen, macht einen riesengroßen Fehler. Das ist eine Verpflichtung für eine linke Partei. Links ist immer pro-europäisch, links ist immer internationalistisch, und wir stehen immer an der Seite der Schwächeren, und Flüchtlinge gehören häufig dazu.
    Schröder: Herr Bartsch, es kracht gewaltig in der Union. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat wohl noch nie in ihrer Kanzlerschaft so viel Gegenwind aus den eigenen Reihen bekommen. Erleben wir gerade etwas wie den Beginn der Kanzlerinnendämmerung?
    Bundeskanzlerin Angela Merkel vor einem Rednerpult; sie blickt nach unten.
    Bundeskanzlerin Angela Merkel (Marius Becker, dpa picture-alliance)
    Bartsch: Das kann gut sein, wobei ich diese Kanzlerinnendämmerung auch schon vorher ausgemacht habe. Es gab ja nicht nur ein Zeichen, dass vielleicht die Stabilität in der Union, wie uns das die Umfragen so zeigen mögen, immer noch da ist, aber zweifelsfrei gibt es hier eine heftige Auseinandersetzung in der Union. Ich wiederhole gerne, dass Frau Merkel uns an ihrer Seite hat, wenn sie nicht in den Wettbewerb der Unfreundlichkeit und der Abschottung tritt. Aber man muss auch ganz klar sagen: Es gibt eine Verantwortung; die Flüchtlinge sind nicht vom Himmel gefallen, diese Entwicklung ist über Jahre gegangen worden. Und sie ist nunmal schon gefühlte 100 Jahre Kanzlerin, und deswegen ist sie mit verantwortlich. Unsere Aufgabe als Opposition ist auch, immer wieder das deutlich zu machen.
    Schröder: Eröffnet denn die Schwäche der Union, wenn sie denn anhält, möglicherweise auch für ein rot-rot-grünes Bündnis auf Länder- und dann 2017 auch auf Bundesebene neue Optionen oder haben Sie das schon abgehakt?
    Bartsch: Ich habe überhaupt nichts abgehakt. Meine Position ist und war, dass ich für Mitte-links-Bündnisse bin, das selbstverständlich auch auf der Bundesebene. Das ist überhaupt keine neue Position, das steht im Moment überhaupt nicht an, was die Bundesebene betrifft. Wir sind Opposition – die SPD hat sich vor zwei Jahren klar entschieden – und wir werden diese Aufgabe bis 2017 wahrnehmen. Aber es ist überhaupt kein Geheimnis, dass ich mir für das nächste Jahr wünsche, dass es mehr Mitte-links-Koalitionen gibt, dafür sind die Chancen durchaus gut. Wir haben Wahlen in Berlin, wir haben Wahlen in Mecklenburg-Vorpommern und in Sachsen-Anhalt, wo das möglich ist. Bei den beiden anderen Wahlen, in Baden Württemberg und Rheinland-Pfalz, kämpfen wir zunächst um den Einzug in diese Länder, aber ich wünsche mir schon, dass es dort Veränderung gibt.
    Schröder: Das würde aber auch bedeuten, diese Option wahrnehmen, Rot-rot-Grün auf Bundesebene, dass nicht nur die SPD und die Grünen sich bewegen müssten, sondern die Linkspartei, die dann ja nicht der größte Faktor in so einem Bündnis wäre, müsste auch Zugeständnisse machen, speziell in der Sicherheits-, in der Außenpolitik. Sind Sie dazu bereit, sind Sie dazu fähig?
    Bartsch: Wissen Sie, das tragen insbesondere SPD-Politiker wie eine Monstranz vor sich her, wer welche Zugeständnisse zu machen hat. Darum geht es doch überhaupt nicht. Im Moment geht es darum, erstens Probleme zu lösen und ansonsten geht es darum, für jede Partei, für ihre Positionen, um größtmögliche Zustimmung zu werben. Deswegen kann es nur darum gehen, eigenes Profil und Klarheit zu entwickeln, darauf aufmerksam zu machen, wo es in Deutschland und in Europa im Argen liegt – und da gibt es sehr, sehr viel. Wir haben doch die völlig irre Situation, dass erst über das Thema Griechenland, was jetzt völlig weg ist, jetzt über das Thema Flüchtlinge, die innenpolitischen Fragen völlig verdrängt werden, und wir haben riesige Probleme. Ich muss mir nur die wirklich unnormale Einkommens- und Vermögensentwicklung in Deutschland angucken. Ich muss mir nur angucken, was aus der Energiewende geworden ist. Und da könnte ich jetzt ganz viele Themen nennen. Diese Koalition hat doch Mehltau über das innenpolitische Land gelegt. Deren Probleme sind Betreuungsgeld und Maut – das scheitert alles reihenweise, und ansonsten gibt es null Aufbruch. Das müssen wir auch immer deutlich machen und gleichzeitig sagen, dass das Thema "Flüchtlinge" nicht genutzt wird, um bei Löhnen und prekärer Beschäftigung nach unten zu deregulieren, bei Wohnraum dafür zu sorgen, dass Mieten steigen und so weiter – das ist unser Job. Und ich glaube, wenn wir den wahrnehmen, dann gibt es auch gute Chancen, dass die Linke erfolgreich ist bei Wahlen, und dann werden wir das Beste daraus machen.
    Schröder: Herr Bartsch, Sie haben in der vergangenen Woche das Amt von Gregor Gysi an der Spitze der Fraktion gemeinsam mit Sahra Wagenknecht übernommen - mit sehr gutem Ergebnis. Was wollen Sie anders machen als Ihr Vorgänger?
    Bartsch: Zunächst mal geht es darum, das, was wir uns aufgebaut haben, zu erhalten und Kontinuität in soweit zu wahren: Wir haben ein Wahlprogramm, wir haben ein Parteiprogramm. Das ist der Maßstab für uns, aber selbstverständlich wird es auch Veränderungen geben. Gregor Gysi hat, wie kein anderer, die Partei in den letzten 25 Jahren geprägt. Das ist zweifellos eine Zäsur. Die wollen wir annehmen. Und da wird es sicherlich bei einfachen Sachen, wie der Rhetorik, bis hin zur Leitung einer Fraktion, Veränderungen geben. Aber substanziell inhaltlich haben wir keine Kurskorrektur vor.
    BND-Skandal: " Entweder Frau Merkel hat bewusst die Bevölkerung getäuscht ... "
    Die neue Doppelspitze der Linksfraktion: Sahra Wagenknecht und Dietmar Bartsch.
    Die neue Doppelspitze der Linksfraktion: Sahra Wagenknecht und Dietmar Bartsch. (picture alliance/dpa/Kay Nietfeld)
    Schröder: Wie groß ist die Gefahr – Sie sind mit Frau Wagenknecht ja die profiliertesten Köpfe der beiden dominierenden Strömungen in der Partei, in der Fraktion –, wie groß ist die Gefahr, dass jetzt alte Grabenkämpfe wieder aufbrechen?
    Bartsch: Schauen Sie, wir arbeiten in der neuen Fraktion seit zwei Jahren sehr eng zusammen. Wir haben in den letzten zwei Jahren zum Beispiel die Öffentlichkeitsarbeit, aber vieles andere mehr verantwortet. Bei den letzten beiden Griechenland-Abstimmungen hat sich ziemlich deutlich gezeigt – durch unser Agieren –, dass wir die Fraktion geeint haben. Das ist unser Ziel. In unserer Satzung steht drin, dass die Partei einen pluralen Charakter hat – den wollen wir prägen. Da, wo es Unterschiede gibt, wollen wir auch streiten um Zukunftsfragen, aber es geht nicht um den Streit von Ideologien. Wir haben so viel Aufgabe als Opposition, dass das wunderbar passt und dass wir das wahrnehmen können.
    Schröder: Das Interview der Woche mit Dietmar Bartsch, Fraktionschef der Linkspartei im Bundestag. Herr Bartsch, "Spionieren unter Freunden – das geht gar nicht", hat Bundeskanzlerin Angela Merkel gesagt. Jetzt erfahren wir: Der Bundesnachrichtendienst hat bis 2013 offenbar auch befreundete Regierungen ausspioniert. Was sagt uns das über die Möglichkeiten, Geheimdienste zu kontrollieren? Ist das überhaupt möglich?
    Bartsch: Ich glaube, dass das nicht möglich ist, zumal ich ja in einem dieser Gremien, die kontrollieren sollen, bin – im Vertrauensgremium. Ich finde, das, was jetzt öffentlich geworden ist, skandalös. Wenn zur gleichen Zeit, wo die Kanzlerin sagt "Unter Freunden geht Spionieren nicht", wenn zur gleichen Zeit der deutsche Auslandsgeheimdienst das tut, ist das schlicht ein Skandal. Entweder Frau Merkel hat bewusst die Bevölkerung getäuscht oder sie hat wirklich ihr Kanzleramt nicht im Griff. Das kann doch nicht wahr sein, dass dort bis 2013 offiziell – und zwar Top-Quellen – ausgeforscht worden sind in anderen Ländern und dass das später sogar noch fortgesetzt worden ist auf eine etwas klügere Art und Weise. Ich finde das völlig inakzeptabel.
    Schröder: Was folgt daraus? Das ist ja die entscheidende Frage.
    Bartsch: Wissen Sie, damit muss sofort Schluss sein. Es ist dringend notwendig, dass wir zu einer grundsätzlichen Veränderung bei den Geheimdiensten kommen. Sie sind nicht kontrollierbar, auch nicht durch parlamentarische Kontrollgremien. Da wird etwas aufgebaut, was wir den Menschen sagen, und eigentlich weiß jeder, dass das nicht passiert.
    Schröder: Aber die alte Forderung Ihrer Partei 'Geheimdienste abschaffen' würden Sie jetzt nicht wieder erneuern?
    Bartsch: Ich bin dafür, dass wir am Ende in einer Welt leben, wo es keine Geheimdienste gibt. Das wird kurzfristig nicht möglich sein aus dem schlichten Grund: Es gibt auch Aufgaben, zum Beispiel bei der Bekämpfung des Rechtsextremismus, die muss man nicht in Geheimdiensten durchführen, die kann man auch in der Polizei durchführen. Aber wissen Sie, diese Forderung, die am Ende steht, die ist nicht das Entscheidende. Jetzt muss es vor allen Dingen darauf gehen, dass mal klar aufgeklärt wird. Ich merke ja jetzt, dass der Versuch unternommen wird, das alles etwas auf Herrn Pofalla zu schieben, der nicht mehr da ist. Aber ich möchte schon wissen, wer im Kanzleramt was gewusst hat, was die Kanzlerin gewusst hat, was der Kanzleramtschef gewusst hat, was der Geheimdienstkoordinator gewusst hat. Es kann nicht wahr sein, dass letztlich die Bevölkerung hier belogen wird und eine Kulisse aufgebaut wird, die nicht der Wahrheit entspricht. Wir sind offensichtlich nicht viel anders als die Amerikaner. Das kann man ja sagen; man kann auch sagen: 'So sind Geheimdienste', das ist ja zulässig, aber uns wurde was anderes vorgegaukelt – und das, finde ich, kann nicht sein. Und insbesondere kann das auch nicht sein, dass diejenigen, die in den Parlamenten für die Kontrolle zuständig sind, das nach Jahren und dann immer nur scheibchenweise erfahren. Also hier wird es auch in den nächsten Wochen darum gehen, aufzuklären und Schlussfolgerungen zu ziehen.
    Schröder: Die Grünen stellen schon die Frage, ob BND-Chef Gerhard Schindler noch haltbar ist. Muss es personelle Konsequenzen geben?
    BND-Präsident Gerhard Schindler im Saal des NSA-Untersuchungsausschusses
    BND-Präsident Gerhard Schindler sagte als Zeuge vor dem NSA-Untersuchungsausschuss aus. (picture alliance / dpa/ Gregor Fischer)
    Bartsch: Der Ruf nach personellen Konsequenzen ist schnell ausgesprochen und ich möchte nicht, dass es Bauernopfer gibt – ob das Herr Schindler oder wer auch immer ist. Es gibt eine politische Verantwortung. Der Mann hat das nicht allein und aus eigenem Antrieb gemacht, da bin ich sehr sicher – so funktionieren wiederum Geheimdienstchefs nicht. Und deswegen möchte ich wissen, wer, wann, was veranlasst hat. Und das wird man nicht einfach wegschieben können.
    Schröder: Zuständig für die Aufsicht ist das Kanzleramt.
    Bartsch: Selbstverständlich. Für die Aufsicht ist das Kanzleramt zuständig, und das ist in jedem Fall zumindest sehr dicht an Frau Merkel. Es gibt für alle die Unschuldsvermutung, aber Fakt ist auch: Im Kanzleramt wird man von diesen Dingen gewusst haben, sowohl von den Dingen, die bis 2013 gelaufen sind, als auch von den Dingen, die nach einer kurzen Pause fortgesetzt worden sind.
    Schröder: Herr Bartsch, der Bundestag hat am Freitag eine Rückkehr zur Vorratsdatensicherung verabschiedet. Telefon- und Internetverbindungsdaten aller Bürger müssen jetzt zehn Wochen lang gespeichert werden. Ist dieses Gesetz besser als die alte Regelung, die 2010 vom Bundesverfassungsgericht gekippt wurde?
    Bartsch: Unter dem Deckmantel der Bekämpfung des Terrorismus wird so getan, dass hier genau dieser Weg beschritten wird. Real besteht die Möglichkeit, dass persönliche Daten in Größenordnungen gespeichert sind. Wir sind gegen Speicherung von derartigen Daten, deswegen haben wir auch im Deutschen Bundestag dagegen gestimmt. Ob das verfassungsrechtlich standhält, da bin ich sehr gespannt, aber das werden diejenigen, die da noch viel mehr verstehen, dann prüfen.
    Schröder: Werden Sie, wird die Linkspartei dagegen klagen?
    Bartsch: Das müssen wir wirklich in einem ruhigen Verfahren uns anschauen. Da, finde ich, sollten nicht Politikerinnen und Politiker sagen: 'Wir klagen dagegen', vollmundig, und dann gibt es Juristen, die sagen: 'Das ist eigentlich Quatsch'. Das werden wir uns genau angucken und dann werden wir auch eine Entscheidung treffen, ob wir das gegebenenfalls auch zusammen mit den Grünen oder vielleicht auch mit anderen, außerhalb der Parlamente, machen.
    Schröder: Vielen Dank, Herr Bartsch, für das Gespräch.
    Bartsch: Ich danke Ihnen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.